Geschrieben am 1. März 2021 von für Crimemag, CrimeMag März 2021

Die Memoiren von Sherman Alexie

Lisette Buchholz über einen bei uns vernachlässigten Autor

Sherman Alexie: You Don’t Have to Say You Love Me. A Memoir. Little, Brown and Company, New York 2017. 457 pages.

„Black Lives Matter“ ist in den europäischen Köpfen und Medien angekommen, es wird kontinuierlich darüber berichtet. Weit weniger im Fokus ist hierzulande das 1968 gegründete American Indian Movement und dessen Kampf um die Rechte der sog. Indianer. Ein Aktivist des AIM, Leonard Peltier, sitzt seit 1976 im Gefängnis ohne Aussicht auf Entlassung. Vorgeworfen wird ihm ein Mord an zwei FBI-Agenten. Die Anklage stützt sich auf eindeutig manipulierte Beweise sowie Falschaussagen von „Zeugen“: ein Justizskandal. So wie es auch ein Skandal ist, dass es im 21. Jahrhundert immer noch Reservate gibt. 

Einer meiner Lieblingsautoren setzt sich seit Jahren für die Belange der indigenen Völker Nordamerikas ein, und er tut dies auf eine ebenso tiefgründige wie geistreiche Weise. Diesen Autor möchte ich gern bekannter machen. 

Sherman Alexie, 1966 geboren, ist ein vielfach preisgekrönter Schriftsteller, Filmemacher und Stand-up Comedian vom nordamerikanischen Stamm der Spokane. „You Don’t Have to Say You Love Me“ ist ein erschütterndes Buch der Erinnerung, nicht nur an die verstorbene Mutter des Autors, Lillian Alexie, sondern auch an 400 Jahre Unterdrückung der Native Americans. Lillian Alexie ernährte die Familie mit der Verfertigung von Quilts, und das Buch in seiner Mischung aus Prosa und Lyrik hat ebenfalls Quilt-Charakter.

Alexie variiert Themen, die er schon in seinen früheren Büchern behandelt hat: die Geschichts- und Sprachlosigkeit der Ureinwohner, die bittere Armut und hohe Sterblichkeit, der Alkoholismus, die alltägliche Gewalt, die zerstörten sozialen Strukturen im Reservat und das vergiftete, misshandelte Land. 

Der Autor beschreibt diesen „Thyrannosaurus Rez“ mit schneidendem Sarkasmus, gemildert durch Selbstironie und eine tiefe Achtung vor dem Leben. So wirken auch die heftigsten Passagen nie zynisch, nie larmoyant. Wenn Alexie über sich selbst lacht oder klagt, gilt das für andere seines Stammes mit: Er hat ein kollektives Trauerbuch verfasst, das in seiner Vielschichtigkeit ein stilistisches Meisterwerk darstellt.

Alexie wurde mit einem Wasserkopf geboren und lebt seit frühester Kindheit mit massiven gesundheitlichen Einschränkungen. 2015 wurde ihm ein „gutartiger“ Hirntumor entfernt, seine Beschwerden wie z.B. epileptische Anfälle, Wortfindungs- und Konzentrationsstörungen dauern jedoch an. Typisch für seine Art, mit solchem Unglück umzugehen, ist der Satz:

„Do you know that you can be killed by a benign tumor? Imagine that news headline: Native American poet killed by oxymoron.

Nach Jahrhunderten der Verfolgung, Erniedrigung und Ermordung gibt es keinen Königsweg, mit diesen Ereignissen „fertig“ zu werden. Es geht um die wiederholte Vergegenwärtigung:

„Yes, I have repeated myself. Yes, I have been repetitious. That’s what grief is.“

Seine Mutter Lillian „was a lifeguard on the shores of Lake Fucked“. Alexie beschreibt schonungslos die Gewalt, der seine Mutter ausgesetzt war und die sie an die Kinder weitergab. Und doch hat er sie geliebt. Mit seinem Weggang aus dem Reservat als junger Mann hat er seinen Eltern und dem ganzen Stamm einen Schlag versetzt, fortan gehörte er weder richtig zur „Rez“ noch zu den Weißen, deren Schule in Reardan er besuchte. Eine doppelte Entfremdung, die er auszuhalten hatte und aushielt. Die schildert er eindrücklich in dem „Absolut wahren Tagebuch eines Teilzeit-Indianers“ (dtv).

Es gibt noch andere Zitate, die ich unterbringen will.

Lillian sollte eigentlich an einem 4. Juli begraben werden, es wurde dann aber der 6., denn „saying good-bye to a Native American Woman would have cost us more on Independance Day“.

Lillian beherrschte als eine der Letzten noch die alte Stammessprache Salish. Sie hat sie mit ihren Kindern aber nicht gesprochen  ̶  ein weiterer Verlust. Sie war der Meinung, Englisch sei die „beste Waffe“ ihrer Kinder.

Der Stamm der Spokane lebte traditionell von der Lachsfischerei, den Lachsen waren sie physisch und mental verbunden. Nach dem Bau eines riesigen Staudamms konnten die Lachse aber nicht mehr in ihre heimischen Flüsse zurückschwimmen.

„Scientifically and spiritually the Grand Coulee Dam murdered my tribe history … it is an epic gravestone.“

„Our identity has been clarified for us.
We are Unsalmon People.
We are Unsalmon.
We are Un.“

Kürzer kann man diesen Verlust nicht ausdrücken. 

Und Alexie räumt gern mit Vorurteilen auf, die Weiße über die „Rez“ haben:

„White folks love to think that Native American culture is liberal. But it is actually repressive … Living on an Indian reservation was like living inside an Edith Wharton novel.“

Im August 2015 gab es einen großen Waldbrand auf dem Gebiet des Reservats, und zwar in unmittelbarer Nähe einer aufgelassenen Uranmine.

„The United States did not believe the forest fire burning through the uranium mine presented any danger to the Spokane Indian community.“

Sherman Alexie beweist eine bewundernswerte Stärke und poetische Kraft, die ihn befähigt, aus tausend Widersprüchen EIN Buch zu gestalten. 

Lisette Buchholz

Die von uns hier herzlich neu begrüßte Autorin führt den kleinen und feinen persona verlag. Internetseite hier.

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