Ins Blaue hinein
Rückschau jenseits des Wettbewerbs der Internationalen Filmfestspiele von Venedig – von Dominique Ott
Bereits früh am Morgen, wenn die Festivalbesucher sich für die erste Vorstellung auf das Vaporetto Richtung Lido quetschen, kommt während der Mostra in Venedig eine besondere Stimmung auf. Die Akkreditierungen hängen bereits um den Hals, am Handy werden internationale Deals vereinbart, bei Small-Talk die bisherigen Festivalfavoriten angepriesen und überhaupt fühlen sich alle unheimlich wichtig. Glamour und Stars wie man sie sich auf der Berlinale wünschen würde kollidieren mit einem politischen Relevanzanspruch, der wiederum in Berlin deutlich ausgeprägter ist. Auf dem Festivalgelände sind die wenigsten Veranstaltungen einem regulären Publikum zugänglich. Auch mit Akkreditierung ist es keinesfalls gegeben, in jeden Film reinzukommen: Tickets vorab gibt es keine. Wer in einen Film möchte, muss sich rechtzeitig anstellen, in einer von vier Schlangen, entsprechend seiner Akkreditierungs-Klasse. Bei einem Wettbewerbsbeitrag mit Starbesetzung kommt es dann schon mal vor, dass man nach einer Stunde unter der spätsommerlichen Sonne nicht mehr in den Kinosaal kommt.
Weitaus unproblematischer gestaltet sich der Besuch abseits des Concorso. Die Venezia Classici sind meist noch kurz vor Vorstellungsbeginn nicht voll. Dort werden restaurierte „Klassiker“ von Regisseuren wie Jacques Tourneur und Jack Arnold, über Luis Buñel und Federico Fellini, bis hin zu Martin Scorsese und David Cronenberg projiziert. Oder eben von Dennis Hopper, der wahrscheinlich durchgebrannteste Regisseur, den Hollywood je erblickt hat und dessen–im Vergleich zu seinen über 200 Schauspielcredits doch recht überschaubares–Regiewerk bereits ein Wunder für sich ist. In seinen Worten: „For a person like me, it’s a miracle that I get the opportunity to direct a film. Because I don’t listen to anybody.“

„Punk as fuck“
Mit seinem Regiedébut Easy Rider hatte Hopper 1969 augenblicklich Filmgeschichte geschrieben, mit seinem Zweitwerk The Last Movie einen kolossalen Flop in die Welt gesetzt, der das frühzeitige Aus seiner Regiekarriere hätte bedeuten müssen. Fast zehn Jahre später war er als Schauspieler auf einem Dreh, der kurz vor dem Abbruch stand, als dessen Regisseur nach einem katastrophalen Drehbeginn gefeuert wurde. Hopper nutzte die Chance und überredete die Produzenten, stattdessen ihn Regie führen zu lassen. In einem Wochenende schrieb er das Drehbuch um und benannte es nach einem Song von seinem Freund Neil Young, der gerade zufällig im Radio lief: Out of the Blue. So viel zur Entstehungsgeschichte des Films, der bei seiner Vorstellung in Venedig mit den Worten „punk as fuck“ eingeführt wurde.
Out of the Blue ist ein unvergleichlicher Blick auf eine dysfunktionale Familie, der sich zeitgleich manisch und humorvoll gestaltet. CeBe (eine junge Linda Manz mit unglaublicher Bildpräsenz) ist 15 Jahre alt, ihre Mutter Kathy (Sharon Farrell) von Drogen und Männern abhängig, ihr Vater Don (Dennis Hopper selbst) anfangs im Knast, später Alkoholiker. CeBes selbstsicheres Auftreten entnimmt sie ihren Vorbildern Elvis Presley und Johnny Rotten. Nachts ruft sie in ein Funkradio: „Subvert normality. Punk is not sexual, it’s just aggression. Destroy. Kill all hippies.“ Sie spielt nicht Punk, sie lebt es. Bei einem Ausreißversuch aus der heimatlichen Kleinstadt flüchtet sie in die nächste Metropole, wo einzigartige, halb-dokumentarische Bilder des Straßenlebens und Punk-Milieus der Zeit entstehen. Auf einem Konzert nimmt die entschlossene CeBe auf einmal den Platz des Schlagzeugers ein, was das tobende Publikum keineswegs zu stören scheint.
Die entsprechenden Filmbilder sind markiert von kräftigen Farbtönen. Rot, Blau, Gelb nehmen abwechselnd das Bild ein. Hoppers fotografischer Blick äußert sich weiterhin sowohl in der souveränen Kameraführung, als auch in der Setauswahl. So arbeitet Don auf einer gigantischen Müllhalde, wo er zusammen mit hunderten von Möwen den Abfall nach etwas verwertbaren durchstöbert. Nach und nach weicht das schwere doch liebevolle Miteinander der Kleinfamilie zunehmend einer Missbrauchssituation. Trotz der tragischen Geschichte einer zerfallendenden Familie geht mit dem Seherlebnis eine enorme Schadenfreude einher. Sie entspringt Hoppers Spaß an Zerstörung: Der äußerlichen Zerstörung eines Schulbusses, in den ein LKW rast oder einer Holzhütte, die von einem Bagger zertrümmert wird; sowie der Selbstzerstörung seiner Figuren und mit delirirendem Schauspiel seiner selbst. Der kompromisslose Niedergang der Kleinfamilie in dem wohl radikalsten Film auf der diesjährigen Mostra geht in alles verschlingenden Flammen auf.

Verstrickungen der Zeit
Eine intensive Farbgestaltung kann in den Classici auch Bernardo Bertoluccis Strategia del ragno vorweisen. Ganz in der Gewohnheit des Ästhetizismus italienischer Großmeister der Sechziger- und Siebzigerjahre fügen die kräftigen Farben sich hier gemeinsam mit präzisen Cadragen und einem in die Tiefe geschichteten Bild zu einem durchkalkulierten Ganzen, das sich lediglich über behutsame, gleichmäßige Verschiebungen wandelt. Die pittoreske Bildkomposition begleitet durch melancholische Streichorchestermusik erinnert an Jean-Luc Godards Le Mépris. Eine Assoziation, die durch eine teils-kolorierte Statue bekräftigt wird. Die Büste ist das Ebenbild des Protagonisten Athos Magnani (Giulio Brogi). Sie porträtiert seinen Vater, ebenfalls Athos genannt, ein Partisan, der dem Faschismus zum Opfer fiel und bei der Befreiung zum Dorfhelden erklärt wurde.
Athos Junior, der weit entfernt in der Großstadt aufwuchs und seinen Vater nie kennenlernte, reist in dessen entlegenes Heimatdorf, um den Mord an Athos Senior aufzuklären. Doch im Dorf steht die Zeit in den 25 Jahren seit dem Krieg still. Die gleichen Menschen sind in gleicher Stellung wie zu Zeiten des Faschismus. Die alten Dorfbewohner scheinen in stillschweigendem Einklang etwas vor dem offensichtlich unwillkommenen Athos zu verbergen. Allmählich entsteht eine verstörende Atmosphäre. Wiederholt überlegt Athos abzureisen, doch es kommt stets ein Grund auf, erst den Zug am Folgetag zu nehmen. So verstrickt er sich immer tiefer in die Intrige um seinen Vater, die sich–so verraten Rückblenden–mit den gleichen Nebenfiguren in gleicher Besetzung zu wiederholen droht. Athos scheint gefangen in einer Wiederholungsschleife, in der Vergangenheit und Gegenwart gefährlich verwischen.
Die komplexe Zeitrelation, die hier gesponnen wird und die noch aktuelle Kritik am Stillstand im ruralen Italien deutet auf eine kritischere Haltung zur eigenen Vergangenheit in den Siebzigern, als in den nostalgisch kostümierten Rekonstruktionen im diesjährigen Wettbewerb.

Urteilstenor
Gegenwartsbezogene Diagnosen hingegen finden sich in der Kategorie Orizzonti. Dort nutzt der philippinische Regisseur Raymund Ribay Gutierrez eine dokumentarische Ästhetik, um sich in Verdict das Rechtssystem in seinem Heimatland vorzunehmen. Mit einer rastlosen Kamera begibt er sich möglichst nah an seine Figuren und zeigt in bewegten Plansequenzen das Gerichtsverfahren um Joy (Max Eigenmann). Die junge Mutter wird von ihrem Ehemann Dante (Kristoffer King) körperlich Missbraucht. Als der betrunkene Dante eines Abends bei einem weiteren Gewaltausbruch aus Versehen ihre Tochter Angel verletzt, beschließt Joy ihn anzuklagen. Teils in Echtzeit verfolgt Gutierrez akribisch das Anklage- und Gerichtsverfahren von dem Gewaltakt bis zur Urteilsverkündung. Mit militanter Rastlosigkeit porträtiert er ein chaotisches Rechtssystem, dessen unzählige Hürden und Prozedere eine endlose Verzögerung bedeuten, während der Joy und ihre Tochter sich schutzlos gedulden müssen.
Die Gerichtsverhandlung findet auf Englisch statt, was die Betroffenen weitgehend davon ausschließt, obwohl der Rechtsstreit eine große finanzielle Belastung für die Familien bedeutet. Über die vielen zu durchlaufenden Etappen hinweg scheint immer wieder eine systemische Bevorzugung des Mannes durch: Bei der anfänglichen Aussage vor der Polizei wird Joy dazu aufgefordert, sich wieder mit ihrem Ehemann zu vertragen. Beim Prozess liegt es an ihr zu beweisen, dass ihr schaden zugefügt wurde. Immer wieder wird ihr vor Augen geführt, sie solle an das Wohl ihrer Tochter denken, die der Verteidiger und Dante versuchen gegen Joy aufzubringen –das Kind möchte natürlich nicht, dass ihr Vater im Gefängnis landet.
Durch die pausenlose Kamerabewegung wird der Zuschauersaal in Joys Hürdenlauf eingespannt. Deren Belastung überträgt sich mit hektischer Unmittelbarkeit auf das Publikum. Gutierrez beendet seine Beobachtung des philippinischen Justizwesens mit einem niederschmetternden Urteil, das ihm den Special Orizzonti Jurypreis einbrachte.

Perspektivenwechsel
Das ästhetische Gegenprogramm bietet Carlo Sironis Sole. Lange statische Einstellungen und eine durchdachte Cadrage offenbaren die Schönheit einer trostlosen urbanen Betonlandschaft Italiens. Mit gebrochener Symmetrie durchkreuzen vertikale und horizontale Linien das fast quadratische Bild. Selbst die Wellen auf dem bewegten Meer zeichnen einen vertikalen Bildverlauf. In dieser kalten, in blau getunkten Welt vertreibt sich der kleinkriminelle Ermanno (Claudio Segaluscio) die Zeit mit Spielautomaten. Eines Tages kommen sein Onkel und dessen Frau mit einem Angebot auf ihn zu. Das Paar ist unfruchtbar und möchte einer jungen Polin ihr noch ungeborenes Baby abkaufen. Ermanno wird gegen Entgelt vorgeben, der biologische Vater zu sein, um die spätere Adoption durch seine Verwandten zu vereinfachen.
Die hochschwangere Lena (Sandra Drzymalska) zieht vorübergehend bei Ermanno ein. Er soll sich um sie und das Kind kümmern, bis es überreicht werden kann. Nachdem er sie anfangs abweisend in der Wohnung einsperrt und sein Geld weiter beim Glücksspiel verschleudert, findet allmählich eine Annäherung zwischen beiden statt, die ohne viele Worte und Emotionalisierung auskommt. Lena plant mit dem Geld nach Deutschland zu gehen, um einen Neuanfang zu wagen, Ermanno bleibt perspektivlos. Dem gezeigten Umfeld entsprechend wird eine kühle Distanz gewahrt, die dennoch etwas berührendes hat. Ungewohnte Figurendynamiken entfalten sich um die Mutter, die keine sein möchte, die Adoptivmutter, die zu sehr eine sein möchte und den vorgetäuschten Vater, der merkt, dass er gerne einer wäre. Als in seiner monotonen Lebenswelt ausnahmsweise etwas passiert und er das Gefühl bekommt, gebraucht zu werden, richtet Ermanno langsam den Blick in die Zukunft.
Vor jedem Film in den Orizzonti läuft ein kurzer „Fellini in frames“-Clip. Für diesen Zweck hat das Istituto Luce Cinecittà Archivmaterial aus Nachrichten- und Kurzreportagen über den Filmemacher zusammengestellt. Sie bilden nicht nur eine Hommage an den italienischen Altmeister, der im Januar seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte, sondern betreiben Filmgeschichte. Auch vom Festival selbst, dessen eigener Geschichte man sich eigenartig bewusst wird, wenn man Fellini in Schwarzweißbildern auf dem Strand beim Hotel Excelsior spazieren sieht, an dem man eben selbst unterwegs war. Traditionsbewusst, das älteste Filmfestival der Welt.
Dominique Ott
Teil 1, Dominique Otts Rückschau auf den Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Venedig 2019 hier.
Seine Texte bei uns hier.