
Erstaunlich, was jetzt alles geht – und was nicht geht. Der Staat ist stark und die meisten Leute sind kooperativ. Das bedingungslose Grundeinkommen, BGE, wie es unter Fans und auch in der Bürokratie genannt wird, ist kein neues Thema, es gibt viel Theorie und Praxis. Ich bin keine Spezialistin, aber es gibt wohl wenige Modelle für die postindustrielle Gesellschaft, über die soviel nachgedacht und geschrieben worden ist wie über dieses BGE. Und es ist absehbar, dass – weil die virenfreie Kommunikation einen immensen Schub bekommen hat – die Digitalisierung nach der Pandemie einen weiteren Aufschwung bekommen wird, das heißt auch, dass weitere Arbeiten aus der realen Welt wegfallen werden. Immerhin standen heute schon viel mehr Einträge zum Stichwort BGE im Netz als gestern, aber die geldverteilende Politik geht andere Wege, wenn sie sich der Probleme (sorry, man sagt inzwischen „Herausforderungen“) prekärer Existenzen annimmt.
Ich bin überrascht, dass die armen Schlucker, die von der Hand in den Mund (Vorsicht beim Anfassen) in Bild und Ton den Kulturbetrieb und das städtische Leben am Laufen halten, so oft erwähnt werden. Sie heißen nun Solo-Selbständige und werden mit vielen anderen kreativ-prekären Individuen in einen Topf nicht geworfen, aber potenziell aus einem Topf bedient. All die sogenannt „freien Mitarbeiter“, Übersetzerinnen und Kleinverlegerinnen, der Volkshochschullehrer und die Schauspielerin, Bühnenbildnerinnen, Kritiker, die nur gelegentlich beschäftigte Oboistin und der ausgebucht gewesene Geiger, die Fußpflegerin, der Haarschneidekünstler, Besitzerin der Nähstube oder eines Cafés können Anträge stellen – sofern sie genügend Nachweise bringen.*) Die Bearbeitung ist kompliziert, mindestens so schwierig wie Hartz-IV-Vergabe. Genau deshalb wird ja das BGE als Alternative vorgeschlagen. Geld wird ja ausgeschüttet und dazu könnten auch noch die Gehälter der Bürokräfte eingespart werden.
„Eine nie dagewesene Situation, die ungewöhnliche Maßnahmen erfordert“, „Jetzt muss man handeln.“ „Wir fahren auf Sicht“, „Wir wissen nicht“, „Wir müssen alles tun, um die weitere Ausbreitung zu verhindern“, „Wir müssen lernen, mit Unsicherheit umzugehen“, Wir müssen Geld in die Hand nehmen“ … das sind doch alles hübsche Leitsätze für eine neue Leitkultur. Und die jetzt beförderte Isolation ist ein günstiges Vorspiel: die Menschen lernen oder üben zumindest, auch ohne Chefs und vorgegebene Struktur mit sich was anzufangen.
„Wir fahren auf Sicht“, man habe keine Erfahrung, wir müssten jetzt solidarisch sein, eine Infrastruktur schaffen, denen helfen, die es am Nötigsten haben usw. usw. (Wenn alles vorbei ist, und die quarantänisierten Journalisten und Schriftstellerinnen die Früchte der Gefängnissituation veröffentlichen, werde ich die Phrasensammlung vervollständigen).
Wann also, wenn nicht jetzt. Google (bzw. Ecosia, das ich als Gutmenschin fürs Surfen und Suchen verwende) hat mir verraten, dass es eine Petition gibt. Allein, mir fehlt der Glaube an die Klick-Politik.
Aber vielleicht, wenn der Spuk noch lange dauert, mehr und mehr Solo-Selbständige und aus Betrieben Entlassene gerettet werden sollen, wenn mehr und mehr Bearbeiterinnen überfordert oder krank sind, wird einer dieser wichtigen systemrelevanten staatstragenden Verantwortlichen an die Pioniere denken, die schon Erfahrung mit dem bedingungslosen Grundeinkommen haben. Dann werden Olaf oder Angela oder Markus diese Idee (gern als ihre) in den halbleeren Bundestag tragen. Schließlich müssen wir alles tun, um das weitere Ab- und Aussterben von Kunst und Kultur, kleinen Geschäften und Cafés, selbstausbeuterischen Initiativen in Theater, Tanz, Musik u.v.a.m. zu einzuschränken.
Und weil ich nicht aufhören kann zu träumen, gönne ich ihnen den Ruhm – sofern sie das BGE endlich umsetzen. Um aus den derzeit beliebten Rede-Wendungen zu schöpfen: Niemand hat eine Glaskugel, die anzeigt, wie das ausgeht, aber es muss schnell gehen.
*) Anm.: Zitat aus der SZ „Eine Anfrage beim Jobcenter nach ‚Grundsicherung‘, die von den Behörden gerade als Allzweckwaffe beworbene Sozialhilfe für Selbständige in Not, wird von dort schnell und unbürokratisch beantwortet mit zwei computergenerierten Mails. Darin enthalten sind 20 Dokumente mit zusammen 60 Seiten. Auf den ersten beiden Checklisten werden zu 44 Stichpunkten mindestens 113 Dokumente aufgelistet, die als Nachweis der existenziellen Not vorzulegen sind, von Einnahme-Überschuss-Rechnung der letzten zwölf Monate über Nachweis der letzten Mietänderung, alle Kontoauszüge der in einem Haushalt lebenden Personen des letzten halben Jahres bis zu rätselhaften ‚Sperrzeitbescheiden‘ oder ‚Nachweis KIZ‘.“
P.S. Es gab eine Leserbriefreaktion, die wir hier gerne wiedergeben möchten: Das mit den Anträgen hat die Süddeutsche leider nicht richtig berichtet. Es sind drei Seiten. Meine Freunde D. und W. haben das Geld schon auf dem Konto. Es ist wirklich fast zu einfach! Die Nachweise kommen dann später… jedenfalls darf man auch mal loben, wenn etwas wirklich unglaublich flott und effizient gelingt!