Große Malerei auf kleiner Fläche
Alf Mayer hat Hazel Rosenstrauchs idealtypische Studie erneut mit Vergnügen und Gewinn gelesen. Jetzt schon ein Klassiker, das steht fest.
Sie ist ein Gewinn für die Kulturwissenschaft, seit einiger Zeit auch für die Leser von CulturMag. In dieser April-Ausgabe, nebenan, bespricht sie Beatrix Langers „Die sieben größten Irrtümer über Frauen, die denken“. Hazel Rosenstrauch schnupperte zwar nur die allerersten Babymonate lang Londoner Luft, ehe ihre nach England emigrierten Eltern nach Wien zurückkehrten, wo sie dann aufwuchs, aber das lässig Pointierte, die ganz und gar uneitle, geradezu fröhliche Wissenschaft, jener coole und anschauliche Stil, der die angelsächsische Wissenschaftspublizistik auszeichnet, der funkelt in ihren Texten und Büchern.
Wie bei allem, was gut ist, behält sie die Arbeit und Mühe, die das macht, für sich. Wir begegnen nur dem scheinbar Mühelosen, der unprätentiösen Eleganz. 2012, in dem Jahr, in dem sie mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet wurde, erschien ihr mit 176 Seiten gewiss nicht dickes, aber äußerst gehaltvolles Buch Karl Huß (1761-1836), der empfindsame Henker. Eine böhmische Miniatur nennt sie es im Untertitel. Große Malerei auf kleiner Fläche, in der Tat. Und darin wiederum viele noch kleinere Miniaturen. Viele Illustrationen und ein ordentliches Register obendarauf runden alles. Ein schmuckes Buch.
Die leuchtendste Zierde seines Standes
„Vom Rand her sieht man mehr, ich kann den Blick wenden, die Perspektive wechseln“, begründet Hazel Rosenstrauch die Wahl ihres Protagonisten, dem sie das erste Mal an einem Regentag begegnete, als sie in Mariánské Lázně/ Marienbad zur Kur war und der Schlosswart im Museum von Lázně Kynžvart/ Königswart ihr Münzen, Steine und Waffen zeigte und von einem Mann erzählte, der die ausgestellten Schwerter für das Köpfen benutzt hatte. Als sie sich ein paar Jahre später für Metternich interessierte – daraus wurde u.a. „Congress mit Damen. Europa zu Gast in Wien 1814/1815″ (2014)- stieß sie wieder auf Karl Huß. Dieses Mal blieb sie ihm auf den Fersen. Alleine ihren Recherchen zu folgen, ist ein detektivisches Vergnügen.
Karl Huß war Scharfrichter, Sammler, Heiler und Autor diverser Schriften, wusste Töten, Heilen und wissenschaftliches Interesse zu verbinden, auch Goethe war von ihm angetan, besuchte ihn sechs Mal. Er galt als die „leuchtendste Zierde seines Standes“, denn er köpfte nicht nur, sondern heilte auch, er sammelte Steine und Münzen, schrieb eine Chronik der Stadt Eger (Cheb) und ein Traktat gegen den Aberglauben, hinterließ eine Autobiografie. Reiseführer für das nördliche Böhmen nennen ihn „den letzten Henker von Eger“, aber er war Scharfrichter, er hängte nicht. 1776, im Alter von 15 Jahren, köpfte er zum ersten Mal. Es war das Jahr, in dem in den Vereinigten Staaten von Amerika die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte formulierte und in den österreichischen Erblanden die Tortur aufgehoben wurde. Der Wind der Aufklärung, das macht uns Hazel Rosenstrauch anschaulich, wehte bis nach Böhmen.
1787 wurde die Todesstrafe in den Ländern der österreichischen Krone abgeschafft, eine Verordnung verfügte, „dass alle überflüssigen Stadtbediensteten entlassen werden sollten“, womit auch der Tötungsbeamte von Eger seines Amtes enthoben ward. Joseph II. verfügte, dass Henker und Scharfrichter nun für das Brandmarken zuständig sein sollten, ob Huß das dann auch tat, ist nicht überliefert. Zehn Jahre später begann er mit der Arbeit an der Chronik der Stadt Eger, vier Bände wurden es.
Nette Anekdote dazu: Hazel Rosenstrauch transkribiert drei Tage lang vor Ort aus dem Original, beim Abschied erhält sie eine Kopie als Geschenk. Man hatte ihr schon vor der Reise angeboten, sie gegen einen entsprechenden Obolus zu schicken, das hätte die Fahrt erspart. Aber natürlich ist das eine ganz andere Annäherung – selbst, und per eigener Hand. Am heimischen Schreibtisch bemüht sie sich um Ordnung ihrer Funde und überlegt, wie sie mit längst als sensibel erkannten Henker umgehen soll. „Ist er das rührende Beispiel für den Sieg der Vernunft? Ist er, der tötet, nicht bloß Handlanger, sondern Opfer? Hat er seine Kraft aus dem Fortschritt geschöpft, den die Abschaffung der Todesstrafe zweifellos bedeutet? Wie hat sein Schicksal mit der Umordnung der Länder, Gewissheiten und Gewohnheiten zu tun? In welchen der vielen zur Auswahl stehenden Rahmen lässt sich sein Bild einfügen, nach allem, was wir im 21. Jahrhundert wissen?“
Die Wollust findet einen neuen Ort – in der Kriminalliteratur
Hinrichtungen waren öffentliche Schauspiele, die Richtstätte war eine Bühne, auf der nicht nur die Verbrecher exekutiert wurden, sondern auch die Moral, schreibt Hazel Rosenstrauch. Schon Kinder lernen, welch böses Ende es nimmt, wenn man Recht bricht. Noch in einer preußischen Kriminalordnung von 1805 wurden Lehrer verpflichtet, ihre Schulklassen zur Hinrichtung zu führen. Hazel Rosenstrauch schlägt daraus den Bogen: „Im aufblühenden geselligen Leben der Bürger werden Gefühle, Ängste, Leiden und Leidenschaften nunmehr virtuell vorgeführt. Neu entstehende Bühnen konkurrieren nicht nur mit der Kanzel, sondern auch mit der Richtstätte. Heilsame Schauer und Rührung gehören zum Elixier einer Literatur, die das Innenleben in den Vordergrund rückt. Die Wollust, die bei der Vorführung des gewaltsamen Todes verspürt wurde, findet einen neuen Ort: in der Kriminalliteratur, in Schauerromanen oder Polizeiberichten. Und veränderte Vorstellungen von Kriminalität und dem wesen des Verbrechers füllen einen nicht geringen Teil der juristischen, philosophischen und ‚schönen’ Literatur.“ Schillers „Maria Stuart“, Büchners „Woyzeck“, Kleists „Michael Kohlhaas“ oder E.T.A. Hoffmanns „Fräulein von Scuderi“ – illustriert Hazel Rosenstrauch – machen Hinrichtungen zu einem literarischen Sujet, appellieren an Mitgefühl und Verständnis. Jener „Meister Franz“, der in Brentanos „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ das Richtschwert schwingt, fand zwei Jahre nach ihrem Buch einen Porträtisten: Joel F. Harrington: „Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert„.
Zwischen Geburt und Tod von Karl Huß, zwischen Französischer Revolution und Wiener Kongress, verliert nicht nur ein König seinen Kopf, es verändern sich auch die Ansichten über Tod und Verbrechen, es verändert sich das Verhältnis zwischen den sozialen Schichten und Lebensformen. „Damals sind Vorstellungen und Gedanken gekeltert worden“, betont Rosenstrauch, „die bis heute in unseren Köpfen spuken.“ Die Kulturwissenschaftlerin hat die luzide Idee, ihren Protagonisten biographisch mit einem der mächtigsten Männer des damaligen Europa zu verknüpfen. Dieser Klemens Wenzel Lothar Metternich-Winneburg zu Beilstein, den wir kurz als Fürst Metternich kennen, kauft 1827 die Sammlung des Karl Huß und den Sammler gleich dazu, der als Kustos angestellt wird. Münzen, Bücher und Naturalien werden in 21 Kisten mit vier Wägen aus dem Scharfrichterhäuschen in Eger nach Königswart auf das Schloss des österreichischen Staatskanzlers gebracht (wo Hazel Rosenstrauch dann gut 180 Jahre später bei Regen Unterschlupf suchte). Bevor die Sammlung eingerichtet werden kann, muss der Scharfrichter „ehrlich“ gemacht werden. Der eine also gewinnt Freiheit und Anerkennung, die ihm qua Herkunft eigentlich versagt waren, der andere muss in einem sich rasant verändernden Europa um Privilegien, Besitz und Würden fürchten. Mit ihrem Geniestreich führt Hazel Rosenstrauch uns mitten in ein vielschichtiges politisches und kulturelles Drama. Sie macht Geschichte erfahrbar, Miniaturen in der Minatur
Huß taugt als Ahn – für unsereins
Was, fragt Rosenstrauch sich immer wieder, geschieht mit einem, der in der alten, gerade zusammenbrechenden Ordnung am Rande steht, wenn das Neue zwar schon spürbar, aber noch nicht greifbar ist? Karl Huß ist kein Held, aber in ihm lässt die Moderne sich erkennen. Auch für ihn gilt, endet seine Biographien ihr Werk, „was Schiller über den Verbrecher schreibt, er ist ‚kein Geschöpf fremder Gattung … dessen Blut anders umläuft, als das unsrige’“.
Aus seinen Schriften destilliert die Detektivin Rosenstrauch: „Einsamkeit ist, wie wir aus Biografien und Psychologien wissen, für das aus allen Ordnungen entlassene Individuum ein lebensbestimmendes Gefühl.“ Schubladen mit Gut und Böse, Fortschritt und Reaktion, Täter und Opfer sind zur Einordnung von Karl Huß ungeeignet. Er ist nicht auf den Punkt zu bringen, er sei eher, notiert sie, „ein Komma, oder wie man auf Österreichisch sagt, ein Beistrich, durch den sich Bedeutungen verändern wie in der Geschichte vom König, der dem Scharfrichter die Botschaft schickt: Wartet nicht, hängen! Obwohl er meinte: Wartet, nicht hängen!“
Huß tauge letztlich, findet sie, als Ahn für ihre deutschen Freunde: für verfemte oder sich verfemt fühlende Individualisten, für Heimatlose und Außenseiter, für Deutsche, die gerne Geschichte, aber keine ordentliche deutsche Geschichte haben wollen, für Nachkommen von Stigmatisierten, Henkern und Vertriebenen, Menschen mit Knäcksen im Lebenslauf und Leute, die in einer Zeit leben, deren Ordnung sich auflöst, ohne dass eine neue erkennbar wäre – also für uns.
Alf Mayer
Hazel Rosenstrauch: Karl Huß, der empfindsame Henker. Eine böhmische Miniatur. Matthes & Seitz, Berlin 2012. 175 Seiten, zahlreichen Abbildungen, gebunden, 19,90 Euro. Verlagsinformationen.
Hazel Rosenstrauchs Beiträge bei CulturMag hier. Ihr Blog MiMa hier.
Siehe auch, wenngleich in der Darstellung anders gelagert: Joel F. Harrington: Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert (The Faithful Executioner. Life, Death, Honor and Shame in the Turbulent Sixteenth Century). Deutsch von Norbert Juraschitz. Siedler Verlag, München 2014. CrimeMag-Besprechung hier.