
Der Ziegelstein als Liebesbeweis
Alf Mayer zu George Herrimans „Krazy Kat. Die kompletten Sonntagsseiten in Farbe 1935–1944“ – ein Comic, der Arno Schmidts Wortklaubereien vorwegnahm
„Krazy Kat“ ist vielleicht das Beste, was der Comicstrip je hervorgebracht hat, urteilt der große Kulturkritiker Robert Warshow 1946 in seinem berühmten Buch „Die unmittelbare Erfahrung“ (The Immediate Experience). Er sieht „Krazy Kat“ als idealtypische Ausformung der „Lumpenkultur“. Die Klarheit und Frische, die dieser Anarcho-Strip an den Tag legt, würde auf höheren Graden der kulturellen Skala mit Sicherheit gemindert werden, meint er.
Warshow vergleicht den Strip, der zwischen 1913 und 1944 anfangs noch unter dem Namen „Krazy Kat and Ignaz“ in den Zeitungen des Verlegers William Randolph Hearst erschien, mit der Qualität der Marx Brothers und mit ihrem kompromisslosen Nihilismus, der vor allem für die Verstoßenen und Entrechteten charakteristisch sei. „Lumpen“ pfeifen auf Kultur, sie sind deswegen bei den Intellektuellen so beliebt, weil sie einen blinden und destruktiven Ekel vor der Gesellschaft zum Ausdruck bringen, den der verantwortungsbewusste Mensch in sich zu unterdrücken gezwungen ist. So Robert Warshow 1946.

„Krazy Kat“ ist „sinnlos“ und „albern“ und kommt vom Rand der Welt, wo die Ziele und Ansprüche der Gesellschaft keine Geltung haben. George Herriman, der Krazy Kat eigenen Angaben zufolge aus Langeweile erfand, zeichnete den Comic bis zu seinem Tod im Jahr 1944. Ökonomisch war er gewiss kein Erfolg, aber der steinreiche Verleger Hearst war ein Fan, stattete den Künstler auch während der Depression mit einer Wochengage von mindestens 750 Dollar aus. Der Strip endete nur, weil Herriman 1944 starb und das Zeitungssyndikat King Features entschied, dass niemand die Arbeit weiterführen könne.
In einer mehr als sieben Kilo schweren Monumentalausgabe hat der Verlag Benedikt Taschen (dessen Verleger selbst ein großer Freund der Comics ist) nun alle Krazy-Kat-Geschichten in Farbe aus den Jahren 1935–1944 veröffentlicht. In Originalgröße und von den Erstausgaben gescannt. Alleine die üppig illustrierte, ausführliche Einleitung von Comic-Fachmann Alexander Braun ist irre und wäre mit ihren 120 Seiten ein eigenes Buch wert. Braun spürt Herrimans multi-ethnischem Background nach und beleuchtet kundig und sehr lesbar das Außergewöhnliche dieses zeitlosen Gesamtkunstwerkes um eine queere Katze.
Das Vorwort präsentiert auch den allerersten Auftritt des neuen Helden, nämlich als sozusagen Untermieter des Strips „The Dingbat Family“, die ohnehin ein transzendierendes Moment hatte. Sie handelte von den Eskapaden einer nie gezeigten darüber lebenden Familie – Lärm, Erschütterungen, fallende Blumentöpfe etc. -, erzählte also von etwas, das nicht im Bild zu sehen ist. Das fanden die Leser aufregend, schreibt Braun.
Am 11. August 1910 kam es sozusagen zum Urknall: Im Tierslapstick am unteren Bildrand geschah es, dass die Maus zum ersten Mal einen Ziegelstein an den Kopf der Katze warf. Er war der Beginn eines obsessiven Rituals – in Brauns Worten gleichermaßen ein „MacGuffin“ wie auch eine Metapher für die Triebhaftigkeit des Menschen und seiner Beharrlichkeit – dem Herriman die nächsten 34 Jahre bis zum Ende seines Lebens treu bleiben sollte.
Die unmittelbare Erfahrung: Es gibt keinen Anfang und kein Ende

Für uns Nachgeborene ist das Buch ein Genuss für viele Stunden, für Warshow (1917 bis 1955), der diesen Comic liebte, war die Lektüre mehr als 30 Jahre lang „Die unmittelbare Erfahrung“, so nannte er auch sein 1946 erschienenes Buch (zur mehr als verspäteten deutschen Ausgabe eine Besprechung und ein Interview von mir mit Übersetzerin Thekla Dannenberg hier: „Den ganzen Unsinn ernst nehmen.“)
„Krazy Kat“ hat keinen Anfang und kein Ende, nur eine ewig dauernde Mitte. Herrimans Comic – das ist eine seiner unglaublichen Qualitäten – variiert die immer gleiche Grundkonstellation. Als Zeitgenosse erlebt Robert Warshow eine zusätzliche Realität, die parallel zu seinem realen Leben läuft. Für jeden Tag in seinem Leben gibt es einen Tag im Leben des Comicstrips. Auch das sieht er charakteristisch für „Lumpenkultur“: Es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen Kunst und Leben. Alles ist Erfahrung. Alles mag sich in der Intensität unterscheiden, nicht aber in der Bedeutung. Alles ist Kunst, alles ist Leben. Oder umgekehrt.
Und Leben und Kunst, das ist: Fast jeden Tag wirft Ignatz Krazy einen Ziegelstein an den Kopf. Das ist die Grundsituation, unendlich oft und unendlich einfallsreich variiert.

„Krazy Kat – Die Liebe im Zeichen des Pflastersteins“ nannten die heutige CulturMag-Redakteurin Brigitte Helbling und ihr Mann Nik von der Schweizer Theatergruppe Mass & Fieber ihr Bühnenstück von 2001, Musik und Arrangements von Sibylle Aeberli, Martin Gantenbein (Rechte bei Rowohlt Theater Verlag). Ihnen allen gebührt im Krazy Kat-Universum ein besonderer Platz. Ihr Stück über das bizarre Liebesdreieck von schwarzer Katze, weißer Maus und und einem Hund in Polizeiuniform war ein Renner: Durchtriebene weiße Maus, der die schwarze Katze immerzu Ziegelsteine an den Kopf wirft, was wiederum Hundepolizist Offissa Pupp, in heimlicher Liebe zur Katze entflammt, zu verhindern sucht. (Als ARD-Originalhörspiel hier zugänglich.)
Ein schräges Musical über die paradoxen Wandlungen von Gewalt, Liebe und Anarchie, in dem Michail Bakunin, Erich Mühsam, Pierre-Joseph Proudhon, Fritz Brupbacher und Stanislaw Przybyszewksi samt Anarchisten-Wanderlied ihre Auftritte haben:
„Wir werden mit Schere, Papier wider den Stein löcken. Oh Baby, Baby, das ist gut. Und keine Angst: es gibt auch eine Geschichte. Die Geschichte von Krazy Kat, der kirren Mietze, il katzo pazzo – ou pitschi le fou. In einem Land weit weit von hier leben gezeichnete Tiere. Katze, Maus und Hund. Wir führen Ihnen das mal vor. Sehen Sie Raoul als Krazy Kat. Moulinex als Ignatz Mouse. Und ich bin OFFISSA Pupp, der Ordnungshund. Und wenn sie den Ton *Ping* hören, heißt das: turn the page. Alles klar? Enton, bitte…“

Fast bis zur Selbstaufgabe ist bei Herriman die kirre Katz in die Maus Ignatz verliebt, die aber reagiert stets abweisend und aggressiv, wirft mit Ziegelsteinen um sich, um ihre Abneigung zu demonstrieren, was die Katze aber für Liebesbeweise ihres „little dahlink“ hält, was diesen nur noch mehr aufbringt. Kompliziert wird das alles zusätzlich durch den Polizisten Offissa Pupp, der unsterblich und heimlich in Krazy verliebt ist und die Ziegelwürfe auf Krazys Kopf verhindern will, deshalb Ignatz regelmäßig hinter Gitter bringt, ihm auflauert oder wenigstens die Ziegelsteine konfisziert.
Lauter Fixierungen also, Neurosen und Obsessionen. Auch als Leser wird man von dieser ambivalenten Emotionalität ergriffen: Bald sieht man die Maus gar nicht als so böse, dass sie diesen Stein wirft, stattdessen hat man Mitleid mit ihr, weil ihre Sehnsucht, der Katze einfach einmal Schmerz zuzufügen, einfach nicht funktionieren will. Unter dem Pflaster liegt der Strand. Eine Ziegelstein ist ein Liebesbrief („love letters in ancient brick“).
Die Theatermacher lassen Proudhon erklären: „Die Katze selbst liebt! Obwohl sie von der Maus mit Steinen geschlagen wird. Das ist die revolutionäre Transformation! Mausgewalt verwandelt sich in Katzenliebe. Der Mehrwert der kinetischen Energie ist Affektion. C’est une chatte merveilleuse!“ MARIE: “Das ist höherer Wahnsinn. Die Kraft der Liebe. Verwandelt Steine in Glück. Ganz ohne masochistische Umwege. Eine mystische Transformation. „Heaven. I’m in heaven…“

Dazu kommt ein geradezu surrealistischer Schauplatz: Herrimans Coconino County, dem Navajo- und Hopi-Land im amerikanischen Südwesten entlehnt, Monument Valley inklusive, alles in ein mystisches Land verzaubert, wo es von einem Bild zum anderen regnen, Palmen und Kakteen sich verwandeln und der Himmel kariert und es plötzlich Nacht oder Tag sein kann. Pflanzen wachsen manchmal in Töpfen, Felsen sehen aus wie indianische Ornamente, von Flöhen über Hummeln, Enten und Kojoten bis hin zu Elefanten gibt es die ganze Tierwelt. Die Babys werden von Joe Stork (Storch) gebracht, man trinkt „Tiger-Tee“ und andere exotische Getränke. Der mittelständische Ziegelsteinfabrikant Kolin Kelly beliefert Ignatz mit Wurfgeschossen. Krazy hat lauter Cousins und Cousinen im gesamten Tierreich, die er um Rat und Hilfe beten kann. Ein Strauß ist einer auf einem kleinen Wagen montiert Tonne unterwegs, um auch im Laufen seinen Kopf „in den Sand“ stecken zu können.

… in a dizmil tooly swump – oy yoi … my da-a-ah-link“ – ein früher Arno Schmidt?
Und dazu noch jede Menge Wortwitz: Missverständnisse, Anspielungen, wörtlich genommene Begrifflichkeiten, falsch verstandene Fremdworte, ausländische Akzente, sehr schräge Dialoge, Slang und phonetische Schreibweise gemischt. Arno Schmidt müsste eigentlich seine Freunde an diesem Sprachgaukler und Wortdekonstrukteur gehabt haben. Mir ist keine Bezugnahme Schmidts auf Herriman bekannt. Die erste Sammelausgabe „Krazy Kat. A Compilation of Daily and Sunday Strips, Concentrating on 1930-1944“ erschien 1946 bei Henry Holt & Co. in New York, der große Edward Estlin Cummings steuerte ein gewaltiges Vorwort bei (Auszug weiter unten). Den zumindests kannte Schmidt gewiss, beide wurden sie in der Zeitschrift „Texte und Zeichen“ publiziert. Doch zurück in die Welt von „Krazy Kat“:
„Switt hot“ heißt da „Sweetheart“.
Krazy Kat: “By the light of a ignatz fattis I found my dahlink Ignatz Mice. I found him in a dizmil tooly swump – oy yoi – in a dizmil tooly swump I found my da-a-ah-link.”
Und es gibt Ortsnamen wie: „The ocean is so innikwilly distribitted. Take Denva, Kollorado, and Tulsa, Okrahoma, they ain’t got no ocean a tall while Sem Francisco, Kellafornia, and Bostin, Messachoosit, has got more ocean than they can possibly use.“
Ein Comic also als surrealistisches work in progress. Dauernd um die Ecke gedacht, die Geschichten wie Fabeln erzählt, Worte und Namen dekonstruiert und dabei auch mit den Geschlechterrollen jongliert.
Charlie Chaplin, Frank Capra, P.G. Woodehouse, Gertrude Stein, F. Scott Fitzgerald, Pablo Picasso, James Joyce und Jackson Pollock waren Fans. Der Poet E.E. Cummings sah ein „meteorisch burleskes Drama der Demokratie zwischen Gesellschaft und Individuum“. Was so ein Ziegelstein nicht alles sagen kann.
Alf Mayer
- Alexander Braun: Krazy Kat. George Herriman. Die kompletten Sonntagsseiten in Farbe 1935–1944. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2019. Leinen, Format 30 x 44 cm, 632 Seiten, in einem Karton mit Tragegriff. 632 Seiten, 150 Euro. Verlagsinformationen.
PS: Auszug aus dem Stück „Krazy Kat – Die Liebe im Zeichen des Pflastersteins“ von Mass & Fieber (Text: Brigitte und Nik Helbling):
Akt 12 Comicologie
ENTON schaltet die Entonstimme ein. Gallische Dörfer, Parallelwelten, Wüstenplaneten, Zeitreiselibellen. Comics sind angenehm flach, man findet so viele Türen, Tunnels, Verstecke und freundliche Maschinen. Ich halte mich da gerne auf. Ich gehe zwischen den Panels spazieren. Ich bin der Metabaron in den Lüftungsschächten des gezeichneten Universums. Entertain me! *Ping* .
Wir sind in der Zeitung
KRAZY KAT Da bin ich mit nichts als mich. Und niemand sonst zu sehen. Eine Zeitung kommt geflogen. Nur eine frische Zeitung. He, hallo, guck mal da: Da bin ich in dieser Zeitung. Da ist auch Ignatz-mein-Schatz.
IGNATZ kommt dazu Warum denn nicht, du Blödi.
KRAZY KAT Weil ich da bin und du bist da, und ich und du sind auch da drin.
IGNATZ Na klar.
KRAZY KAT Aber wenn ich da bin und du da bist, wie kann ich und du da drin sein?
IGNATZ Wer soll denn da drin sein, wenn nicht wir?
KRAZY KAT He, hallo, guck mal da. Da ist auch ein Ziegelstein. Guck mal, guck mal, ein Ziegelstein.
IGNATZ Gesegnet sind meine Mausaugen: Da ist auch ein Ziegelstein.
KRAZY KAT He, hallo, guck mal da: Du bist… im Begriff… ihn mir… an die Birne zu werfen.
IGNATZ Ganz genau.
KRAZY KAT He, hallo, guck mal da: Da kommt Offissa Pupp. Guck mal, guck mal, er sagt dir was. So ganz kurz und knapp und bündig.
OFFISSA PUPP Wenn der Mond die Wand hochgeht. Und der Ordnungshund an der Kreuzung steht. Ignatz Mausverbrecher, du bist verhaftet. Die Zeitung fliegt weg. Ignatz und Pupp verschwinden.
KRAZY KAT Da bin ich mit nichts als mich. Und niemand sonst zu sehen.
ENTON *Ping* . Alles überzeichnet, stilisiert, karikiert, Klamotte, nur Typen, keine Menschen, keine Gefühle, keine Tiefe, keine Zerrissenheit, nur Quak Quak und Peng Peng. Wissen Sie was? Das ist nicht schlimm. Es ist nur schnell. Is it a bird? Is it a plane? No, it’s Superman! Und wir sind schneller geworden. Krazy & Ignatz, Tom & Jerry, Itchy & Scratchy. Und das ist gut so. Entertain me! *Ping*.
KRAZY KAT Lieber Ignatz, warum ist dein Stein so schwatz?
IGNATZ Er ist nun mal schwarz, und ich werf ihn in fünf Sekunden.
KRAZY KAT Warum nicht gleich, mein Herzensscheich?
IGNATZ Wegen der Camouflage.
KRAZY KAT Wegen der Kabuffflasch? Alle Lichter gehen aus.
IGNATZ Zip!
OFFISSA PUPP Moment mal!
KRAZY KAT Pow! Die Lichter gehen wieder an.
IGNATZ verbeugt sich zur Technik Danke für die Hilfe, Jungs!

Und hier e.e. cummings, 1946:
And now do we understand the meaning of democracy? If we don’t, a poet-painter called George Herriman most certainly cannot be blamed. Democracy, he tells us again and again and again, isn’t some ultraprogressive myth of a superbenevolent World As Should Be. The meteoric burlesk melodrama of democracy is a struggle between society (Offissa Pupp) and the individual (Ignatz Mouse) over an ideal (our heroine) — a struggle from which, again and again and again, emerges one stupendous fact: namely, that the ideal of democracy fulfills herself only if, and whenever, society fails to suppress the individual.
Could anything possibly be clearer?
Nothing — unless it’s the kindred fact that our illimitably affectionate Krazy has no connection with the old-fashioned heroine of common or garden melodrama. That prosaically „virtuous“ puppet couldn’t bat a decorously „innocent“ eyelash without immediately provoking some utterly estimable Mr. Righto to liquidate some perfectly wicked Mr. Wrongo. In her hyperspineless puritanical simplicity, she desired nothing quite so much as an ultraprogressive and superbenevolent substitute for human nature. Democracy’s merciful leading lady, on the other hand, is a fundamentally complex being who demands the whole mystery of life. Krazy Kat — who, with every mangled word and murdered gesture, translates a mangling and murdering world into Peace And Good Will — is the only original and authentic revolutionary protagonist. All blood-and-thunder Worlds As Should Be cannot comprise this immeasurably generous heroine of the strictly unmitigated future.
Siehe auch die STRAPAZIN-Ausgabe #68 (September 2002): „KRAZY KAT – Eine Hommage an George Herriman“ mit G.H., M.S. Bastian, Martin tom Dieck, Martin Woodtli, Urs Hangartner, Helge Reumann, Jens Balzer, Wolfgang Bortlik, Christoph Badoux, Hendrik Dorgathen, Itzik Rennrt, Batia Kolton, Mira Friedmann, Niklaus und Brigitte Helbling, Aleksandar Zograf, Tomas Frey, C.X. Huth, Atak.