
Das Unsagbare sagen
„Das Leben ist dünn wie eine Rasierklinge. Alles andere ist Gott.“ (John Berger). Daran musste ich bei der Lektüre dieses verzaubernden Buches denken.
Wir lernen kennen: die vierzigjährige Hege, ihren etwas jüngeren Bruder Mattis, zwei junge Mädchen, Anna und Inger, den Waldarbeiter Jørgen, dazu eine Schnepfe, einen Fliegenpilz, Kampferbonbons, den Wald, den See, ein morsches Ruderboot.
Ein Kammerspiel, dessen Zentrum Mattis ist. Mattis ist ein „Dussel“, er schafft es nicht, sich wie andere Männer auf eine Arbeit zu konzentrieren, geschweige denn regelmäßig Geld zu verdienen. Hege ernährt ihn und sich mit dem Stricken von Jacken, die sie mit achtblättrigen Rosenmustern schmückt. Die Geschwister leben bitterarm in einem Häuschen am See.
Was Mattis an Lebenstüchtigkeit fehlt, gleicht er durch ein Übermaß an Empfindsamkeit aus. Was ihm zustößt, trifft ihn schutzlos, im Guten wie im Bösen, es haut ihn um. In der Schilderung dieser Dünnhäutigkeit liegt die große Kunst von Vesaas. Seine Sprache kommt leichtfüßig daher, ist schlicht und treffend. In der großartigen Übersetzung geht keine Nuance verloren. Als steckten wir in seiner Haut, freuen wir uns mit Mattis und werden mit ihm unglücklich.
Der Autor gönnt Mattis zwei herrliche Erlebnisse: die Schnepfe, die im Balzflug übers Haus streicht und ihm kleine Botschaften hinterlässt, und die Ruderpartie mit den Mädchen Anna und Inger. Da schlägt das Glück in ihn ein. Das sind seltene Momente, denn Mattis ist immer bedroht. Jeder Gedanke, jeder Satz zeigt, wie gefährdet „der Dussel“ in seiner Unsicherheit ist.
Um doch auch eine Arbeit zu verrrichten, versucht er sich am See als Fährmann, den allerdings kein Einheimischer braucht. Dabei macht er nicht nur die beglückende Bekanntschaft von Anna und Inger, sondern auch die des tüchtigen Waldarbeiters Jørgen. Er setzt Jørgen über und nimmt ihn mit zu Hege. Nun wird alles anders: Jørgen und Hege werden ein Paar, und durch Jørgens Verdienst leben sie besser als zuvor.
Doch wo wird in Zukunft Platz für Mattis sein? Diese quälende Frage setzt sich in ihm fest. Nachdem er ein Stück Fliegenpilz gegessen hat, wachsen ihm Kräfte zu und er wagt, gegen Jørgen aufzubegehren. Der Fliegenpilz ist etwas anderes als die Kampferbonbons, die Mattis gern beim Kaufmann holt, als wäre er noch ein Kind! Doch Jørgen ist zu gutmütig, um mit Mattis zu kämpfen.

Den Hintergrund dieser Geschehnisse bildet der See, mal spiegelblank, mal aufgewühlt. Und der See ist es auch, der die letzte Szene des Buches beherrscht, nachdem Mattis eine Entscheidung getroffen hat.
Vesaas begleitet Mattis bis zum letzten Atemzug in seine brüllende Einsamkeit.
„Die Vögel“ handeln vom Unsagbaren, was das Leben ausmacht, von dem, was nicht abgegolten werden darf. Ein minimalistisches Meisterwerk.
Tarjei Vesaas: Die Vögel (Fuglane, 1957). Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Judith Hermann. Guggolz Verlag, Berlin 2020. 276 Seiten, 23 Euro.
Der Autor bei Wikipedia. Verlagsinformationen hier.
Lisette Buchholz führt den kleinen und feinen persona verlag. Internetseite hier.