Cixin Liu: Kugelblitz[1] – ein romantischer Beitrag zur Quantenmechanik?

Eine Rezension von Markus Pohlmeyer
„So einfach sich das Wort ‚Teilchen‘ anhört – Physiker meinen damit eher Wirbel in einem Gewebe aus Raum und Zeit.“[2] Im Roman „Kugelblitz“ von Cixin Liu lautet das so: „‘Richtig. Sie haben eben nichts als Raum gegessen, genau wie Sie selbst auch nur Raum sind. Denn das Lammfleisch und Sie bestehen aus Protonen, Neutronen und Elektronen, und all diese Teilchen sind nur gekrümmter Raum in einem mikroskopisch kleinen Maßstab.‘ Er schob einige Teller beiseite und gestikulierte über der Tischdecke. ‚Angenommen, der Raum ist dieses Tischtuch: Dann sind diese winzigen Falten darauf die Atomteilchen.“[3]
Die Eltern von Chen wurden von einem Kugelblitz eingeäschert. Und der traumatisierte Junge macht sich auf den Weg, dieses Phänomen zu studieren und zu erforschen. Dabei geht er eine unheilige Allianz mit der Offizierin Lin Yun ein, die – selbst durch den Kriegstod ihrer Mutter traumatisiert – eine fatale Liebe zu Waffen entwickelt hat. Nach mehreren Sackgassen in der Kugelblitzforschung bekommen die beiden Hilfe von dem genialen Wissenschaftler Ding Yi, der herausfindet, dass Kugelblitze Makroelektronen seien. „‘O Gott, das wirft aber noch eine größere Frage auf: Wenn es Makroatome gibt, dann gibt es doch bestimmt auch Makromaterie und eine Makrowelt, oder?‘“[4]
Später können Kugelblitze gespeichert und als Waffe eingesetzt werden. Aber deren Wirksamkeit ist davon abhängig, wer sie gerade beobachtet. Das hat Folgen für die Waffentests: „Ding Yi winkte ab. ‚Vergessen sie nicht: Der Kugelblitz ist ein Elektron.‘ ‚Sie meinen: Er zeigt einen Quanteneffekt?‘, fragte ich. Ding Yi nickte ausdrücklich. ‚Ganz genau! In Gegenwart eines Beobachters kollabiert sein Zustand zu einem festen Wert, der mit unseren Erfahrungen mit der Makrowelt übereinstimmt, und deshalb trifft er ins Schwarze.“[5] Später wird sogar eine postmortale Existenz in einem Quantenzustand angedeutet: „‘[…] Anders als bei gewöhnlichen Quantenteilchen kann ein im Quantenzustand befindliches Individuum, das seiner selbst bewusst ist, zu seinem eigenen Beobachter werden.‘“[6] Oder, was gewisse Experimente nahelegen, würde sogar ein „nichtmenschlicher Beobachter“[7] existieren.
Der Roman spielt konsequent die Ambivalenz wissenschaftlicher Forschung durch, nämlich zu helfen oder zu vernichten. So gibt es in den USA eine Möglichkeit, das Aufkommen von Tornados zu verhindern. Dieses System wird aber dann im Krieg gegen China eingesetzt, um mit Supertornados einen Flugzeugträger zu versenken. Die chinesischen Forscher entdecken die zu den Makroelektronen zugehörigen Makronuklei (Strings), die ein unglaublich zerstörerisches Potential aufweisen. Ein entsprechendes Experiment wird ‚von oben‘ verboten. Lin Yun widersetzt sich aber diesem Befehl, führt es durch (und katapultiert große Teile Chinas in die Steinzeit zurück); daraufhin beenden die USA den Krieg, weil die Vernichtungswucht so abschreckend ist. „Kugelblitz“ hat nicht die rasante Fülle und furiose Abgründigkeit von „Trisolaris“ – aber eben den gleichen Sinn für das Wunderbare und Staunenswerte:
„Gekrümmte Räume, übervoll mit Energie, unwirklich anmutende Blasen, Elektronen groß wie Fußbälle – all das ist nur ein Produkt meiner Phantasie. Die Welt dagegen, in der mein Roman spielt, ist die graue Realität: mit den uns vertrauten grauen Himmeln und Wolken, den grauen Bergen und Meeren, den grauen Menschen und ihrem grauen Leben. Doch inmitten dieser Realität schweben, unbemerkt von uns Menschen, surreale kleine Gebilde umher wie Staubkörner aus einem Traumreich, die uns eine Ahnung davon vermitteln, wie unermesslich und mysteriös das Universum ist und dass in ihm womöglich noch andere Welten existieren, die nichts mit unserer Realität gemeinsam haben …“[8]

Lesen Sie bitte das geheimnisvolle Schlusskapitel „Die Quantenrose“! Was mich weiter in der Auffassung bestärkt hat, dass Cixin Liu ein Romantiker ist. [9] Ach, Blume und die Farbe blau – erinnert dies nicht an Novalis?[10] (Das kann hier nur eine Hypothese – oder meine Intuition – bleiben –, da schwer nachzuweisen.) Dazu E. P. Fischer:
„Die Quantenmechanik versucht zum ersten Mal, eine Theorie des Werdens zu sein (zu werden), in der es nur Bewegung und Wandel gibt, zu denen der Mensch beiträgt. Dies passt philosophisch zum Gedanken der Romantik, in der es nur schöpferisches Tun und also Bewegung gibt, und dies zeigt sich mathematisch dadurch, dass in den Gleichungen der Quantenmechanik keine Zahlen (Messwerte) mehr auftreten, dafür aber Operatoren, die den Eingriffen von Beobachtern Rechnung tragen. Ihre Messanordnungen bestimmen, wie sich die Quantenwelt zeigt, die (wortwörtlich) unbestimmt bleibt, solange niemand nach ihr schaut.“[11]
Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa Universität Flensburg. Seine Texte bei CulturMag.
[1] Cixin Liu: Kugelblitz. Roman, übers. v. M. Hermann, München 2020 (1. Fassung: 2000, s. dazu bitte 520).
[2] E. P. Fischer: Das wichtigste Wissen. Vom Urknall bis heute, München 2020, 23 f.
[3] Kugelblitz (s. Anm. 1), 279.
[4] Kugelblitz (s. Anm. 1), 282.
[5] Kugelblitz (s. Anm. 1), 307.
[6] Kugelblitz (s. Anm. 1), 504.
[7] Kugelblitz (s. Anm. 1), 512.
[8] Cixin Liu: Nachwort, in: Ders.: Kugelblitz (s. Anm. 1), 523-527, hier 526 f.

[9] Siehe dazu Markus Pohlmeyer: Die Trisolaris-Trilogie von Cixin Liu. Essay und Rezension, in: http://culturmag.de/crimemag/markus-pohlmeyer-die-trisolaris-trilogie-von-cixin-liu/117135, Zugriff am 1.5.2019
[10] Siehe dazu Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: Ders.: Schriften, Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hg. v. R. Samuel, Darmstadt 1999, 242: „Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit.“
[11] E. P. Fischer: Das wichtigste Wissen. Vom Urknall bis heute, München 2020, 19.