Ich habe Post bekommen von der Gesundheitssenatorin und mir wird angst und bange. Bislang habe ich das Berliner Corona-Management nur passiv wahrgenommen, jetzt werde ich betroffen.

Sehr geehrter Herr Rescue,
Glückwunsch, sie werden geimpft. Also aller Voraussicht nach, also wenn alles gut geht, also von unserer Seite aus gerne, aber wir wollen keine Verantwortung übernehmen, falls nicht. Sie wissen schon … LOL.
Anbei ihr „Impf-Welcome Kit“ mit allen wichtigen Informationen. Ans Herz gelegt sei ihnen, abhängig von ihrem ersten Impftermin, der Open-Air Rave im Strandbad Plötzensee mit DJ Plötzi am Samstag, 01.05. Diese Veranstaltung ist exklusiv nur für Geimpfte zugänglich. Ungeimpftes Pack muss draußen bleiben. Machen Sie sich bewusst, dass sie künftig zu den oberen zehntausend der Stadt Berlin gehören, sie haben fortan das Recht, auf die ungeimpften Plebs herunterzuschauen und sie zu dissen, wo immer sie ihnen im Weg stehen.
Das Welcome Kit beinhaltet unter anderem eine Hand aus Pappe, an der mit Ösen ein ausziehbarer Mittelfinger befestigt ist sowie eine ausklappbare Gerte, mit der ich mir Ungeimpfte auf Distanz halten kann. Dazu eine Pistole mit 20 Schuss Munition, falls die Ungeimpften die vorgenannten Mittel nicht kapieren sollten. Ich solle „ohne zu zögern“ Gebrauch von der Waffe machen und könne mit Straffreiheit rechnen.

Das Wichtigste ist jedoch der persönliche Impfcode. Augenblicklich gehe ich auf die Seite des Anbieters Doctolib, der für den Senat das Terminmanagement übernimmt, was mir Erleichterung verschafft, denn auf einer berlin.de Website würde ich alles finden, nur keine Hilfe. Sechs Impfzentren stehen zur Auswahl und aus Gewohnheit schaue ich erstmal, wo die so sind. Corona ist ein wichtiges Thema, aber gegen die Berliner „Seßhaftigkeit“ kommt auch eine Pandemie nicht an. Zur Arena nach Treptow? Was soll ich da? Da bin ich ja Stunden unterwegs. Das gleiche gilt für das Velodrom in Nord-Friedrichshain oder Süd-Prenzlauer Berg. So ganz habe ich das schon damals nicht verstanden, als ich dort gewohnt habe. Am liebsten möchte ich ins Erika-Heß-Eisstadion, das liegt noch im Wedding. Oder zum Flughafen Tegel, da brauche ich auch nicht lange hin. Außerdem arbeiten dort viele DJs, Bühnentechniker und Türsteher aus den geschlossenen Clubs. Ich hätte Lust, bei denen nach der Impfung gleich mal den Papp-Mittelfinger und die Gerte auszuprobieren.
Aber sowohl Eisstadion als auch Tegel haben keine Termine verfügbar, weder nächste Woche noch in fünf Jahren.
Also entscheide ich mich für den Flughafen Tempelhof und als Impfsaft wähle ich AstraZeneca, weil dort ein Termin in 9 Tagen angeboten wird.
Bingo, besser kann es nicht laufen. Die aufkeimenden Bedenken bezüglich AstraZeneca wische ich beiseite. Okay, Biontech wäre mir lieber gewesen, weil ich darüber noch nichts Negatives gehört habe. Aber in der angespannten Lage gibt es keine Wahlfreiheit, da muss ich nehmen, was gerade verspritzt wird. Wegen dieser Sinusvenenthrombose muss ich mir doch keine Sorgen machen. Das betrifft meist nur Frauen und wenn es mich doch erwischen sollte, dann spitze ich mir einfach das Thrombose-Mittel Clexane, da habe ich noch ein paar Spritzen vom Krankenhausaufenthalt übrig.
Meine Gedanken schweifen in die Vergangenheit. Als Kinder mussten wir alle vor der Stadthalle in Reih und Glied stehen und ein Onkel Arzt gab uns ein Stück Zucker, das mit einer magischen Flüssigkeit beträufelt war. Wir wussten nur, dass es gegen „Kinderlähmung“ helfen sollte. Das wollte keiner von uns haben, denn das bedeutete wohl, dass wir nicht mehr im Wald Häuschen bauen oder auf dem Bolzplatz kickern konnten. Es war ein besonderes Ritual nur für uns Kinder, diese Schluckimpfung. Ein solcher Aufmarsch ist womöglich heutzutage nicht mehr so leicht zu bewerkstelligen, allein schon wegen des Protestes irgendwelcher Eltern wegen des ungesunden Zuckerstücks oder der, in ihren Augen, nicht belegten Wirkung der magischen Flüssigkeit.
Danach suche ich aus der Tiefe des Rollcontainers so etwas wie ein Impfbuch heraus. Oha, das wird etwas Abwechselung in den Alltag der Impfhelfer bringen. Mein Bundeswehr-Impfbuch von 1992. Das müsste doch noch gut sein. Ist halt nichts mehr eingetragen worden nach meinem Ausscheiden. Das könnten die ja vor Ort gleich nachholen. Tetanus, Pocken, Pest, Cholera, HIV, alles rein damit. Ich fühle mich zufrieden und verbringe den Rest des Tages damit, einen Titel zu erfinden, mit dem mich Ungeimpfte künftig anreden müssen. „Seine Heilige Geimpftheit“ klingt gut, das gefällt mir. Ich werde auch keine Maske mehr tragen. Wenn ich einkaufen gehe und mich die Kassiererin anscheißen will wegen der fehlenden Maske, dann setzt es was mit der Gerte. Und wenn sie die Botschaft nicht versteht, halte ich ihr die Knarre ins Gesicht. Bei der Gelegenheit, im Brief vom Senat steht gar nicht, wie man an Ersatzmunition herankommt. Je nach zwischenmenschlichem Konfliktpotenzial werden 20 Schuss nicht reichen.
Am nächsten Tag dann die Wende. AstraZeneca ist irgendwie gefährlich und soll nicht mehr an Personen unter 60 Jahren verabreicht werden. Die Politik hat Bedenken wegen der Nachwirkungen? Können die damit nicht zwei Wochen warten? Und wie reagiert der Hersteller darauf? Mit der Bekanntgabe, dass es künftig einen Handelsnamen für den Impfsaft gibt – Vaxzevria oder so ähnlich.

Das klingt wie ein Gleit- oder ein Enthaarungsmittel. Das erinnert mich an die Sache mit Raider und Twix. Alter Wein in neuen Schläuchen, sage ich nur. Ich habe die Umbenennung seinerzeit nicht mitgemacht, getreu dem Motto „Was zuerst so heißt, heißt dann so“.
Im Falle von AstraZeneca frage ich mich, warum die das ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt bekanntgeben. Das öffnet doch Verschwörungstheorien Tür und Tor. Auf jeden Fall wird sich der neue Name nicht durchsetzen, genauso wenig wie Comirnaty, der Handelsname von Biontech.
In den Nachrichten ist plötzlich von Impfärzten die Rede, die im Rahmen eines Modellprojektes die Impfung in ihren Praxen durchführen. Die Namen der beteiligten Ärzte werden nicht genannt und impfen dürfen sie nur ihren Patientenstamm. Schweren Herzens versuche ich meinen Termin über Doctolib umzubuchen, aber damit ist das System überfordert. Wie vermessen von mir zu glauben, ich könnte einfach so online einen neuen Termin ausmachen. In Neuseeland oder Israel vielleicht, aber doch nicht in Deutschland. Inzwischen wird bekannt, dass sich die über 60-Jährigen zur Impfung melden können. Angeblich gebe es in der Altersgruppe keine Risiken mehr für Sinusvenenthrombosen, aber ich vermute eher, dass sie die Altersgruppe gewählt haben, weil die unkritisch geworden sind, satt vom Wohlstand und es ihnen egal ist, was man mit ihnen macht.
Ich sitze vor dem Rechner und überlege. Ich muss meinen Termin stornieren, um meinen Impfcode wieder zu bekommen. Aber was ist, wenn das nicht passiert? Wenn ich einen neuen Code, wo auch immer, beantragen muss und das gar nicht vorgesehen ist? Ein Gefühl sagt mir, dass ich niemals wieder einen so günstig gelegenen Termin bekommen kann. Wer weiß, vielleicht werde ich der letzte Geimpfte Berlins? Eines Tages betrete ich den fast verlassenen Flughafen Tempelhof, der Regierende Bürgermeister begrüßt mich mit einem Strauß Blumen und die Impfhelfer stehen Spalier. Und wenn ich dann das Terminal verlasse, bricht Jubel unter den 3 Millionen anwesenden Berlinern aus, Hippies fahren Skateboard auf der Landebahn, Kinder tollen herum und Erwachsene haben Sex unter freiem Himmel und alle feiern das Ende der Pandemie. Eigentlich eine schöne Vorstellung, aber wenn ich ehrlich bin, überlasse ich die Ehre, der Letzte zu sein, gerne jemand anderem.
Die Terminstornierung klappt, jetzt wieder die Auswahl des Impfzentrums. Aus Gewohnheit wähle ich als erstes das Eisstadion aus.
Aber wieder sind keine Termine verfügbar. Gibt es das Erika-Heß-Eisstadion als Impfzentrum gar nicht? Sind die Hinweisschilder am S-Bahnhof Wedding ein Fake?
AstraZeneca, so wird mir klar, will ich nicht mehr. Wer weiß, was aus dem Zeug wird? Vielleicht gibt es noch mehr Nebenwirkungen? Vielleicht ist das nur destilliertes Wasser oder Red Bull ohne Geschmack? Von der Arena in Treptow oder dem Velodrom lasse ich weiter die Finger weg. Ich kann mich einfach nicht überwinden, dorthin zu reisen. Aber was ist, wenn es Biontech nur dort gibt?

Ich klicke mich weiter durch die Seite. Der nächstmögliche Termin ist in genau 2 Monaten am 01. Juni auf dem Messegelände. In der Nähe war ich mal zu einem Zahnklinik-Termin und habe den Weg wieder nach Hause gefunden. Ich bestätige den Termin. Was soll ich für eine Einlaufmusik wählen? Spontan fallen mir von Queen ein: We will rock you, Save me und am passendsten Don´t stop me now. Oder vielleicht Battle without Honor or Humanity von Tomoyasu Hotei aus Tarantinos Kill Bill Teil 1?
Was wird in den zwei Monaten passieren? Nach all den Pannen in der Politik. Es sieht ja derzeit nicht danach aus, als ob irgendein Messias auf den Plan tritt, das ganze neu organisiert und es so perfekt macht, dass alle Welt wieder neidisch auf Deutschland blickt. In den Nachrichten lese ich, dass Jens Spahn Sonderrechte für vollständig geimpfte einführen möchte. Na toll. Mein Blick fällt auf das Welcome Kit. Wird also nichts mit dem Papp-Mittelfinger und der Gerte und wenn alle Stricke, also wirklich alle Stricke reißen, brauche ich die Pistole für mich selbst, spätestens dann, wenn es so sein sollte, das ich der Letzte bin. Auch mit dem Open-Air Rave wird es nichts. Bin zwar raus aus dem Alter, aber ich denke, ich wäre hingegangen. Menschen um mich herum, vielleicht jemanden kennenlernen, vielleicht sogar tanzen.
Mal so richtig die Sau rauslassen. Tja, dann halt nicht.
Wäre ja auch zu schön gewesen.
Robert Rescue bei CrimeMag. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.