Geschrieben am 1. Juli 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2021

Robert Rescue: Des Teufels General

Jana Wissmann wachte am Morgen mit der Überzeugung auf, dass sie es heute mit einem ungewöhnlichen Besucher zu tun haben würde. Nicht die übliche Meute von Typen, mit denen sie es sonst in Kabine 1 „Zentrale Aufnahme“ des Corona-Impfzentrums Erika-Heß-Eisstadion zu tun hatte, sondern so etwas wie der Hohepriester, die Krönung oder wie ihre Ballerspiel-affinen Kinder sagen würden, einem „Endboss“. Nicht mit jemandem, der eine Impfung ablehnte, aber dennoch zum Termin erschien, um ihr das lautstark mitzuteilen, nicht mit jemandem, der den verabreichten Impfstoff Moderna ablehnte, sondern den „deutschen“ haben wollte, den es dort aber nicht gab. Nicht mit jemandem, der den simplen Fragebogen falsch ausgefüllt hatte und aggressiv wurde, wenn man ihn darauf ansprach und auch nicht jemanden, der behauptete, eine Impfung habe keinen Sinn, weil das Blut „verseucht“ sei, aber auf Nachfrage nicht verraten wollte, mit was.

Sie verbrachte den Vormittag in banger Erwartung, aber es geschah nichts. Vielmehr sah es aus, als wolle heute keiner dieser Typen erscheinen, alle Leute vor ihr waren normale Bürger und sie glaubte, sie habe sich getäuscht. Bis 14:30 Uhr.

Baron Freiherr Ritter Wolfgart von Seelow-Kasulke war mit seinen 124 Jahren inoffiziell der älteste Bürger Berlins. Er war inoffiziell auch der älteste lebende Mensch in Deutschland, Europa und der Welt. Inoffiziell deshalb, weil er wissenschaftlich nicht erfasst war, was damit zusammenhing, dass die offiziellen Stellen Angaben zu seinen Lebensdaten nicht an die Öffentlichkeit gaben. Das Land Berlin ging mit der Person Baron Freiherr Ritter Wolfgart von Seelow-Kasulke so diskret um wie mit dem Standort des Führerbunkers. Und zu dem hatte der alte Mann eine besondere Verbindung, als General der Waffen-SS zur besonderen Verwendung, NSDAP-Mitgliedsnummer: 5, der einzige Offizier, der ohne Termin zu Hitler durfte, der Soldat, der im engsten Führungskreis als „einzig wahrer Paladin des Führers“ galt.

Seine „Arbeit“, wenn man es so nennen will, verrichtete er im Hintergrund, und alles davon hatte keinen praktischen Sinn, kaum ein Historiker weiß um ihn und Fotos sind nicht überliefert. So sprengte er den Schlagbaum an der polnischen Grenzstation Kolibki, kurz nachdem einige deutsche Soldaten für ein gestelltes Foto posiert hatten. Er warf den Fehdehandschuh über die sowjetische Grenze und coverte einen Song von Glenn Miller auf deutsch, der in seiner Schlechtigkeit zum Kriegseintritt der USA führte.

Während des Kampfes um Berlin versuchte er eine Armee aus Erzengeln zu rekrutieren, die mit ihrer „aus Sodom und Gomorra erprobten Feuerkraft die bolschewistischen Aggressoren in die Schranken weisen sollten“. Dieser Plan scheiterte zum einen daran, dass Gott niemals einem Nazi helfen würde, zum anderen nahm ihm seine Göttlichkeit den Kirchenaustritt 1924 übel. Der Führer lobte Baron Freiherr Ritter Wolfgart von Seelow-Kasulke kurz vor seinem Freitod für dessen „außergewöhnliche Bereitschaft zur unkonventionellen Problemlösung.“

Laut des Maschinisten Johannes Hentschel verließ der General der Waffen-SS mit ihm zusammen als letzte den Führerbunker und bestand darauf, die Tür abzuschließen, weil das ein ordentlicher Deutscher eben so mache. Direkt im Anschluss fuhr Seelow-Kasulke in das zerbombte Wedding, quartierte sich in der Seestraße 102 ein und verließ die Wohnung mehr als 70 Jahre nicht mehr, aus Angst, die „Besatzer und der Bolschewik“ seien hinter ihm her. Nur einmal in dieser Zeit trat er kurz in das Rampenlicht der Öffentlichkeit, als die polnische Regierung ihn 1975 aufforderte, eine Rechnung über die Reparatur des Schlagbaums zu bezahlen, worauf der General einen Brief mit „delikatem“ Inhalt schrieb, der zu einer Krise in den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen führte. Bundeskanzler Helmut Schmidt verfügte daraufhin die „Lex Seelow-Kasulke“, wonach „die Person des Generals im Interesse der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Welt nach 1945 zu isolieren sei, bis er verrotte“.

Seestraße, Berlin

Eines Tages erreichte das Relikt der Geschichte ein Brief von der Senatorin für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. Weil sich der Alt-Nazi gegen den „neuerlichen, persönlichen Angriff auf sein Leib und seine Seele seitens der Besatzer und des Bolschewiken“ zu schützen bemühte, vereinbarte er einen Termin im Impfzentrum Erika-Heß-Eisstadion.

Jana Wissmann schaute auf die Uhr, als sich der nächste vor ihr auf den Stuhl setzte. Es war 14:30 Uhr. Sie warf ihrem Gegenüber einen flüchtigen Blick zu, der dann zu einem langen wurde.

„HH“, sagte der Mann vor ihr.

„Soviel ich weiß“, hob Jana Wissmann an. „ist gerade kein Karneval und selbst wenn es so wäre, würden sie sich mit dieser Uniform keine Freunde machen und müssten zudem mit einer Anzeige und mehr rechnen.“

„Das sind Verbote von den Besatzern und den Bolschewiken. Das interessiert mich nicht. Ich lebe in den Grenzen von 33 bis 45.“

„Ja, ich sehe schon“, kommentierte Jana Wissmann. „Kann ich ihre Unterlagen haben?“

Der alte Mann fummelte in der schwarzen Uniformjacke. Die Kragenspiegel kannte sie aus diversen Filmen, die ihr Mann gerne sah. Vermutlich wären ihr und vielen anderen die Uniform auf den ersten Blick nicht weiter aufgefallen, aber die rote Armbinde mit dem Hakenkreuz war unübersehbar. Wie hatte er nur hier reinkommen können? Hatten die Helfer heute einen „Ich will keinen Stress“-Tag oder lag es am Alter des Mannes? Das eingefallene Gesicht ließ sie vermuten, dass er mindestens 90 Jahre alt war. Aber das konnte nicht stimmen, wie sie im Kopf durchrechnete. War er ein Überlebender oder ein quasi Nachgeborener?

Was war mit der Frau neben ihm? Etwa Mitte 40 und ein Kopftuch tragend. Ein völlig gegensätzliches Paar.

Der Alte schob die Unterlagen durch den Schlitz. Anamnesebogen und Einverständniserklärung, ausgedruckt und handschriftlich in Sütterlin ausgefüllt.

Sie würde nachfragen müssen, mehr als üblich.

Sie griff zu einem Impfbuch. Vorne war ein Reichsadler aufgedruckt, der auf einem Kranz thronte, in dessen Mitte das Hakenkreuz prangte. Sie schlug es auf. Der erste und einzige Eintrag trug das Datum 13. März 1936 und war für eine Tetanus-Impfung. In die Seite war eine Notiz geklammert mit einem Text, der mit „H“ unterschrieben war.

„Ich nehme an, dass sie nicht vorhaben, sich in absehbarer Zeit einen internationalen Impfausweis zuzulegen?“

„Um Gottes willen! Das Dokument ist doch noch gut! Haben sie die Notiz bemerkt, die hat mir H persönlich hinterlassen. „Für meinen treuen Ritter, möge er nie von meiner Seite weichen. Mein bester Mann wird die Spritze nicht brauchen, denn er ist gegen jede Unbill gefeit.“

„Ah, jetzt verstehe ich auch ihre Begrüßung, dieses HH. Haben sie etwa Sorgen vor Repressalien der „Besatzer“ oder etwa der deutschen Strafbehörden?“

Der alte Mann antwortete nicht. Jana Wissmann wandte sich an die Frau.

„Sie sind die Betreuungsperson?“, fragte sie rhetorisch.

„Das ist Uschi“, brachte sich der alte Mann ein. „Ein gutes, schlesisches Mädchen, der Heimat und der Treue zum Vaterland verbunden und immerzu besorgt um das Wohlergehen des Mannes.“

„Mein Name ist Aische Güncürlük und ich komme aus Kars in Ostanatolien.“

Der alte Mann lachte auf. „Und eine Fantasie hat die Uschi, eine blühende Fantasie! So sind die schlesischen Frauen, meine geliebten schlesischen Frauen!“

Jana Wissmann atmete tief ein und aus und beeilte sich, die Daten des Besuchers in den Computer einzugeben. Bei dem Geburtsdatum staunte sie nicht schlecht.

Der alte Mann und seine Begleitung standen auf. „HH“, sagte er zur Verabschiedung und fügte hinzu: „Mögen bessere Zeiten wiederkommen.“

Sie sah ihnen hinterher, wie sie sich zum Wartebereich bewegten. Sie nahm sich vor, später rumzufragen, ob der alte Mann im Impfbereich noch weiter aufgefallen war. Sie sah auf die Uhr. In einer halben Stunde hatte sie Feierabend. Der nächste setzte sich auf den Stuhl. „Mein Impfbuch finden sie bestimmt interessant“, platzte es aus diesem heraus. „Das ist mein Impfbuch von der Bundeswehr. Von 1992. Aber das ist doch noch gut, oder?“

Jana Wissmann sah kurz auf und sagte emotionslos. „Das ist nichts besonderes. Wir hatten hier schon einen Impfnachweis von 1936.“

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

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