Geschrieben am 1. Juni 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2020

Schatzsuche: Crime-Neuerscheinungen 06/2020

Eine Vielzahl Krimi-Neuheiten

 … erscheinen jeden Monat, dazu Graphic Novels (vulgo: Comics) und DVDs und BluRays. Unmöglich, das alles zu überblicken und zu rezensieren. CrimeMag siebt und schürft deshalb für Sie und weist hier regelmäßig mit Hilfe von: Kaliber.38 und der befreundeten Buchhandlungen Chatwins (Berlin), Hammett (Berlin), Glatteis (München), Wendeltreppe (Frankfurt) und Buchladen in der Osterstraße (Hamburg) auf interessante Neuerscheinungen hin. Empfehlungen für DVDs, BluRays und Comics geben Katrin Doerksen und Thomas Groh. – Glatteis und Hammett pausieren dieses Mal.

Bitte denken Sie daran, dass gerade in diesen Zeiten Ihre lokale Buchhandlung(en) besonderer Unterstützung und Solidarität bedürfen. Lieber dort bestellen als bei amazon. Lesen Sie dazu auch Gerhard Beckmanns Wutschrei bei uns.

Claudia Denker von der Krimiabteilung im Chatwins in Berlin-Schönebergnull

Als Gerhard Henschel mir erzählte, sein nächstes Buch sei ein Krimi, dachte ich: »Ups.« Und als er dann sagte, es ginge darin um einen Serienkiller, der Autoren von Regionalkrimis umbringt, dachte ich: »Wenn das mal gut geht.« Der Titel »Soko Heidefieber« (Hoffmann & Campe) verspricht auch nichts … und jetzt habe ich beim Lesen einen Riesenspaß! Genau wie im Roman Stephen King, der eigentlich von einem deutschen Kollegen um Unterstützung gebeten wird.  Zu dessen Ärger macht er sich allerdings darüber lustig, dass »irgendein Typ die Morde als angewandte Literaturkritik bezeichnet hat.« Ich freu mich auf den zweiten Band.

Genauso wie auf den neuen Fall der lustigen Truppe vom »Kommando Abstellgleis«: Sophie Hénaffs dritter Roman heißt »Mission Blindgänger« (Bertelsmann), der auch bereits erschienen ist.

Detective Superintendent MacNeice ist ein Neuer, »Der gute Cop« erscheint Mitte Juni. Scott Thornley hat sich einen liebenswürdigen und empathischen Ermittler ausgedacht. Kann man brauchen (Suhrkamp).

Vielleicht auch noch:
Hideo Yokoyama »50« (Atrium)
Jason Starr »Seitensprung« (Diogenes)

Und ein kleiner Nachtrag zur Mai-Schatzsuche, weil jetzt gelesen: Peter Grandls »Turmschatten« (Das Neue Berlin) lohnt sich wirklich! Hammer!

Jan Christian Schmidt von Kaliber.38:

Da wackelt doch die Heide! Ein Krimi von Gerhard Henschel mit dem Titel „Soko Heidefieber“ (Hoffmann und Campe). Das Buch ist ein Regional-Krimi über Regionalkrimis, entsprechend vom Verlag als „Überregionalkrimi“ ausgewiesen. Die Story: Ein Serienmörder hat es abgesehen auf die Verfasser von Regio-Krimis und meuchelt die Autoren so, wie sie es selbst in ihren Romanen ersonnen hatten. Gemordet wird bald bundesweit: Es trifft Granden des Genres, wie den Verfasser des „Eidelstedter Blutbogen“, den Autor des Bestsellers „Showdown auf Juist“ und den Schriftsteller Armin Breddeloh, der gerade mit seinem neuen Krimi „Heidefieber“ reüssiert. Die Polizei tappt – richtig! wo sonst? – im Dunkeln, und ein vom Verband deutschsprachiger Krimiautoren engagierter Privatdetektiv kommt auch nicht voran. Schließlich nimmt sich ein Lokaljournalist aus Uelzen der grausamen Taten an und entdeckt den entscheidenden Hinweis. 
Wir freuen uns auf lustvoll-fröhliches Spielen mit Klischees – und hoffen, dass Henschels Text nicht ins Leere läuft, wo doch der Höhepunkt an Regio-Krimis lange überschritten ist. Genauer: Der deutsche Provinz-Krimi spielt mehrheitlich nicht mehr in Ostwestfalen, Niederbayern oder in der Uckermark – der deutsche Regio-Krimi spielt in der Provence, der Toskana, auf Kreta oder Korsika, an der Algarve oder in der Bretagne. Über ein gepflegtes Henschel-Gemetzel an den Verfassern (und Verlegern!) dieser Texte hätte ich mich noch mehr gefreut!

Immer charmant sind die Bücher des Engländers Colin Cotterill: „Dr. Siri und die Spiele der Rattenfänger“ heisst sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch (Goldmann, dt. von Thomas Mohr). Der Roman ist der mittlerweile zwölfte Band einer Reihe um den alten Pathologen Dr. Siri Paiboun und sein verschrobenes Team aus der Demokratischen Volksrepublik Laos. Wir sind im Jahr 1980 und die Laoten fiebern voller Stolz und Freude den Olympischen Spielen in Moskau entgegen – den ersten Olympischen Spielen überhaupt an denen das kleine Land teilnehmen wird, dank des Boykotts des Westens als Folge des russischen Afghanistan-Einmarsches. Dr. Siri, fast achtzig Lenze in den ollen Knochen und eigentlich schon in Rente, hat sich als medizinischer Berater in das Team eingeschlichen. Ebenfalls eingeschlichen hat sich ein falscher Schütze in das Sportlerteam, und der Leichenbeschauer Siri sieht sich mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, erstmals ein Verbrechen aufklären zu müssen, bevor es überhaupt stattgefunden hat. „Dr. Siri und die Spiele der Rattenfänger“ verheisst unterhaltsame, detailverliebte und gut gemachte Kost.
Der Verfasser Colin Cotterill ist nicht nur Autor, sondern auch Cartoonist und überhaupt ein guter Mensch, der sich seit langen Jahren über den halben Globus hinweg für Bildungs- und Kinderschutzprogramme engagiert. Ruhm und Reichtum und viele verkaufte Bücher seien ihm von ganzen Herzen gegönnt!

Warum Jason Starr es immer noch nicht in die erste Reihe der Kriminalliteratur geschafft hat, ist eines der Mysterien des Genres. Der New Yorker Autor liefert seit knapp einem Vierteljahrhundert gute Krimi-Qualität in der Tradition von Patricia Highsmith. Sein Thema sind die Zwänge der Mittelschicht und die – meist – zum Scheitern verurteilten Ausbrüche aus eben diesen. In seinem neuen Roman „Seitensprung“ (Diogenes, dt. von Thomas Stegers) erzählt Starr vom New Yorker Jack Harper, einst ein Rock’n’Roller, jetzt Immobilienmakler in der Midlife-Crisis und trockengelegter Alkoholiker. Harper muss sich gehörig anstrengen, um ein durch und durch langweiliges Leben finanziell zu stemmen, und auch seine Ehe ist an einem sex- und emotionslosem Tiefpunkt angekommen. Einen Ausweg aus der Lebenskrise glaubt er im Internet zu finden – auf einem Seitensprungsportal. Doch das erotische Intermezzo endet anders als erhofft: Die begehrte Dame liegt tot auf dem Boden ihrer Behausung, erwürgt mit einer roten Krawatte. Harper gerät ins Visier der Cops und gerät mit seinen Entscheidungen sukzessive in einen Strudel, der ihn immer weiter runterzieht. Jason Starrs Romane eignen sich nicht fürs große Breitwandformat, sondern sind kriminalliterarische Kammerspiele.

Abschließend erfrischender Trash: „Bermuda“ heisst ein Horror-Thriller von Thomas Finn (Knaur Verlag): Der Autor gruselt uns mit einer Erzählung über eine Gruppe Schiffbrüchiger, die auf einer unheimlichen Vulkan-Insel im Bermuda-Dreieck landen. Das Eiland, auf dem weder Handys noch Kompass funktionieren, erweist sich als tödliche Falle. Die Leseprobe bestätigt, was wir uns versprochen haben: „Bermuda“ ist nicht die Hohe Kunst der literarischen Feinmotorik, sondern herrlicher Quatsch zum flinken Wechmömmeln, voller Klischees und verbrauchter Bilder, über die sich – da schließt sich der Kreis – Gerhard Henschel so schön lustig macht. I love it!

Torsten Meinicke, Buchladen in der Osterstraße, Hamburg

Der „Leib-und-Magen-Sortimenter“ von Frank Göhre (siehe das lesenswerte Interview mit Göhre im Börsenblatt 22/2020, S. 30 f.) hat in letzter Zeit gelesen:

Marion Feldhausen, Der Himmel so rot, Ulrike Helmer Verlag 2020, 206 S., 14 Euro: Eine Leiche ohne Kopf, Rockerbanden, Mafia, Drogen und Wehrmachtsverbrechen in Italien. Viel, vielleicht ein wenig zu viel Stoff für gut 200 Seiten.

Gerhard Henschel, Soko Heidefieber. Ein Überregionalkrimi, Hoffmann und Campe 2020, 284 S., 18 Euro: Wer keine Regio-Krimis mag, hat viel zu lachen, wer Frank Schulz mag, kann mitleiden, wer das Krimigenre ernsthaft mag, lese besser anderes. 

Derek Raymond, Ich war Dora Suarez (Ü: Gabriele Kunstmann), Pulp Master 1990, 300 S., 14,80 Euro: Solange der Verleger nichts Neues von Pulp Master ausliefert, lese ich zur Strafe alle bisher erschienenen Titel. Stark! Man könnte glatt einen Krimipreis nach dem Titel benennen …

Philip Kerr, Trojanische Pferde (Ü: Axel Merz), Wunderlich 2020, 492 S., 24 Euro: Der unverwüstliche Bernie Gunther ermittelt weiter. Dieses Mal in Griechenland 1957 inmitten von alten Nazis und Kriegsverbrechern.

Und auf baldige Lektüre warten zu Hause:
– Nicolas Zeimet, Rückkehr nach Duncan’s Creek (Ü: Ronald oder Roland Voullié), Polar 2020, 388 S., 22 Euro

– Hideo Yokoyama, 50 (Ü: Nora Bartels), Atrium 2020, 352 S., 22 Euro

PS: Meinen herzlichsten Glückwunsch nachträglich allen dem Krimigenre zugeneigten Verlagen, die kürzlich mit dem Deutschen Verlagspreis 2020 ausgezeichnet wurden: CulturBooks, Edition Nautilus, Liebeskind, Pendragon und Pulp Master. Ihr habt es so was von verdient!

Jutta Wilkesmann, Wendeltreppe, Frankfurt:

Hier die Bücher, die wir gerade gelesen haben oder solche, auf die wir uns freuen:

Nalini Singh: Im grausamen Licht der Sonne (Knaur)

Gordon Tyrie: Todesströmung (Droemer)

Ron Corbett: Preisgegeben (Polar)

Leonie Swann: Mord in Sunset Hall (Goldmann)  

Horst Eckert: Im Namen der Lüge (Heyne)     

Comic/Heimkino Mai 2020 – von Katrin Doerksen und Thomas Groh:

Julie Doucet: Julie Doucets allerschönste Comic Strips
Reprodukt, 168 Seiten, 20 Euro, bestellbar

Viele Comic-Künstlerinnen würden vielleicht heute nicht zeichnen, hätte es Julie Doucet nicht gegeben: In ihrer Reihe „Dirty Plotte“ orientierte sie sich schon in den 1990er Jahren am Stil der Comiclegende Robert Crumb und brach mit ihren Comicstrips über Themen wie Menstruation oder der Hassliebe zum eigenen Körper regelmäßig Tabus. Jetzt erstmals auf Deutsch übersetzt in einem Sammelband.

Nina Bunjevac: Bezimena
Avant-Verlag, 224 Seiten, 30 Euro, bestellbar

In Bezimena verarbeitet die serbisch-kanadische Autorin Nina Bunjevac ihre eigenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und stürzt ihr Publikum in ein moralisches Dilemma: Denn erzählt wird die um surreale Traumsequenzen und Rückgriffe auf griechische Mythologie angereicherte Geschichte aus der Sicht des Täters.

Tor Freeman: Willkommen in Oddleigh
Reprodukt, 64 Seiten, 18 Euro, erscheint im Juni

Der neue Comic der Kinderbuchautorin Tor Freeman ist ein Krimi über die Fälle der tierischen Hauptkommissarin Jessie und Sergeant Sid im kleinen Städtchen Oddleigh. Wem bei britisch skurrilem Charme das Herz aufgeht, der ist hier richtig.

Riad Sattouf: Esthers Tagebücher 4 – Mein Leben als Dreizehnjährige
Reprodukt, 56 Seiten, 20 Euro, erscheint im Juni

Mit einem Band pro Jahr begleitet der Comickünstler Riad Sattouf das Heranwachsen der Tochter eines Freundes: Mittlerweile ist Esther 13 Jahre alt, muss sich in der Schule durch den Religionsunterricht quälen und mit ihren Eltern um jede Minute mit dem Smartphone kämpfen. Aber: Sie ist unverändert charmant und findet Jungs nach wie vor blöde.

Hans Hillmann: Ein Zeichner und seine Welten
Avant-Verlag, 300 Seiten, 50 Euro, vorbestellbar

Eine umfassende Sammlung der Werke des Grafikers und Illustratoren Hans Hillmann, der mit seinen kontrastreichen Abstraktionen wie kein Zweiter die deutschen Filmplakate der 1960er und -70er prägte. 

Patrick Radden Keefe: Wind of Change
Crooked Media, acht Folgen, je ca. 45 Minuten

Steckt der CIA hinter dem Scorpions-Schlager „Wind of Change“? Handelt es sich bei der Ballade um einen gezielten Akt psychologischer Kriegsführung, um den Eisernen Vorhang niederzureißen? Ist der Soundtrack zum Mauerfall ein einziger großer Politthriller? Klingt absurd, aber es gibt Leute, die schwören Stein und Bein darauf. Der „New Yorker“-Journalist begibt sich in dieser kurzweiligen und hochwertig produzierten Podcast-Reportage auf Spurensuche, die sich luxuriös viel Zeit nimmt, um selbst noch entlegenste Facetten des Kalten Kriegs und der Rolle der Popkultur darin zu beleuchten. Und am Ende? Steht die Begegnung mit Klaus Meine selbst, in einem Hotel in Hannover… Auf Spotify lässt sich der Podcast bereits an einem Stück wegbingen, wer dort keinen Account hat, bekommt >hier< wöchentlich eine Folge geliefert.

Foto: © SWR

Annett Krause und Matthias Hilke: Bruno S. – Als ich Mensch wurde, musste ich sterben
SWR, 54 Minuten, hier online.

Kennen Sie noch Bruno S.? Mit den Werner-Herzog-Filmen „Jeder für sich und Gott gegen alle“ und „Stroszek“ wurde der verschrobene Berliner Hinterhof-Musiker schlagartig weltweit bekannt, versank dann aber wieder in der Versenkung. Dabei steckt hinter Bruno S. eine bewegende Lebensgeschichte: Von den Nationalsozialisten im Heim gegängelt und mutmaßlich misshandelt, später dann die Liebe zur Musik, zu Moritaten und Musikinstrumenten aller Art. In seiner Berliner Wohnung hortete er seine Instrumente wie einen Schatz (von seinem Filmhonorar leistete er sich einen Steinway) und verbarrikadierte sich hinter zugezogenen Vorhängen vor den Zumutungen der Welt, der er zeit seines Lebens skeptisch gegenüber stand. Annett Krause und Matthias Hilke haben ein einfühlsames Radioporträt dieses Außenseiters, grantelnden Eigenbrötlers und unverwechselbaren Originals produziert.

David Cronenberg: Crash
Turbine Medien, ca 280 Minuten mit Bonusmaterial, bereits erschienen

David Cronenbergs „Crash“ zählt selbst unter eingefleischten Fans des kanadischen Body-Horror-Auteurs zu den polarisierenden Werken: Die einen sehen darin lediglich einen faden Softporno unter originellen Vorzeichen (eine Gruppe von Outcasts entdeckt Autounfälle als erotischen Fetisch), die anderen sehen hier zentrale Aspekte in Cronenbergs Schaffen in kongenialer Allianz mit der literarischen Vorgabe von J.G. Ballard auf den Punkt gebracht: eine melancholische Meditation über den Menschen, dessen Triebe sich auf seine Hervorbringungen verlagern und der sich ganz den Schubkräften avancierter Technologie überlässt, stets auf der Suche nach dem, was es an Geheimnissen noch zu wissen gibt. Turbine Medien beschert diesem Klassiker des kontroversen Films in Form einer luxuriösen Special Edition die internationale HD-Premiere.