
Eine Vielzahl Krimi-Neuheiten
… erscheinen jeden Monat, dazu Graphic Novels (vulgo: Comics) und DVDs und BluRays. Unmöglich, das alles zu überblicken und zu rezensieren. CrimeMag siebt und schürft deshalb für Sie und weist hier regelmäßig mit Hilfe von: Kaliber.38 und der befreundeten Buchhandlungen Chatwins (Berlin), Wendeltreppe (Frankfurt) und Buchladen in der Osterstraße (Hamburg) auf interessante Neuerscheinungen hin. Empfehlungen für DVDs, BluRays und Comics geben Katrin Doerksen und Thomas Groh.
Bitte denken Sie daran, dass gerade in diesen Zeiten Ihre lokale Buchhandlungen besonderer Unterstützung und Solidarität bedürfen. Lieber dort bestellen als bei amazon.
Claudia Denker von der Krimiabteilung im Chatwins in Berlin-Schöneberg

Wenn man drei Bücher mit ins Wochenende nimmt, und man sich nicht entscheiden kann … gleich beim ersten dabei geblieben bin ich mit großem Vergnügen hier: »London Burning« von Parker Bilal (Rowohlt), ein neues Ermittlerteam, ein Fall, der von Anfang an neugierig macht. – Siehe auch TW in unseren „Bloody Chops“, d. Red.
Eigentlich hatte ich noch den neuen John Grisham: »Das Manuskript« (Heyne) dabei, bin aber dann doch nicht so richtig zum Lesen gekommen.

Unbedingt habe ich noch auf dem Zettel: Garry Disher »Hope Hill Drive« (Unionsverlag), und auf meinem Stapel liegt noch »Das Grab im Moor« von Val McDermid (Droemer-Knaur), reinsehen werde ich auch mal in Marc Meller: »Raum der Angst« (Ullstein).
Irgendwie kriminell auch: »Zu viel und nie genug« von Mary L. Trump (Heyne), der Nichte. Jemand hat mir erzählt, am Ende hätte man Mitleid mit Donald Trump, davon bin ich allerdings weit entfernt.
Recht neu ist auch noch das Buch von Patti Smith »Im Jahr des Affen« (Kiepenheuer & Witsch). Sie mag die Bücher von Sjöwall/Wahlöö und hat »Endstation für neun« (Rowohlt) schon zweimal gelesen. Eins ihrer Lieblingsbücher ist »2666« von Roberto Bolaño (S. Fischer), das ist sehr dick, aber irgendwann, wenn mal Zeit ist …
Der dritte Titel meiner Wochenendlektüre war übrigens Jakob Hein: »Hypochonder leben länger« (Galiani). Das ist zwar kein Krimi, aber das ist hier ja erlaubt. Jetzt schon ein Lieblingsbuch – Jakob Hein erzählt über sein Leben als Psychiater – und wie!

Torsten Meinicke, Buchladen in der Osterstraße, Hamburg
Frisch ausgepackt und im Buchladen präsentiert werden gerade:
– Max Annas, Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit, Rowohlt 2020, 335 S., 20,00 Euro: Ein neuer Fall für Otto Castorp. In Jena wird 1985 ein toter Punk gefunden. Die DDR muss sehr grau gewesen sein.
– William Gay, Stoneburner (Ü: Sven Koch), Polar 2020, 392 S., 14,00 Euro: Acht Jahre nach dem Tod des Autors erscheint dieser Hard-Boiled um Rednacks, Drogen und Vietnam.
– Louise Penny, Wenn die Blätter sich rot färben (Ü: Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck), Kampa 2020, 538 S., 17,90 Euro: Der 5. Fall für Gamache. Feine Krimikost aus Kanada, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse 2020.
– Garry Disher, Hope Hill Drive (Ü:Peter Torberg), Unionsverlag 2020, 332 S., 22,00 Euro: Diese Fortsetzung von Bitter Wash Road ist wieder ganz große Kriminalliteratur. Disher schaut genau hin und schreibt präzise und empathisch zugleich. – Siehe dazu das Interview mit Garry Disher von Alf Mayer in dieser Ausgabe, d. Red.

– Robert Hültner, Die Inspektor-Kajetan-Romane. 3 Bände im Schuber, BTB 2020, 1760 S., 36,00: Historische Romane der Spitzenklasse zum Wieder- oder Neuentdecken.
– Giulia Caminito, Ein Tag wird kommen (Ü: Barbara Kleiner), Wagenbach 2020, 265 S., 23,00 Euro: Ja, es ist nur im allerweitesten Sinne ein Krimi. Aber es wird gestorben, verraten, gekämpft. Ein Dorf in der italienischen Region Marken am Anfang des 20. Jahrhunderts, eine Nonne, ein Anarchist. Der Roman über Anarchie und Widerstand, hoch literarisch und kongenial übersetzt.
Bleibt gesund und lest!
Torsten Meinicke

Jutta Wilkesmann, Wendeltreppe, Frankfurt:
Unsere Titel:

Parker Bilal: London Burning (Rowohlt)
Louise Penny: Wenn die Blätter sich rot färben (Kampa)
Hansjörg Schertenleib: Im Schatten der Flügel (Kampa)
Clara Bernardi: Letzte Klappe am Comer See (DuMont)
Christian v. Ditfurth: Terrorland (Bertelsmann)
Garry Disher: Hope Hill Drive (Unionsverlag)
Viele Grüße, und immer gesund bleiben,
Die Wendeltreppe

Jan Christian Schmidt von Kaliber.38:

Au ja! – ein „packender Agenten-Thriller um einen internationalen Rachefeldzug“ von Max Bronski. „Jaguar“ heisst der druckfrische Roman (Droemer). Bronski, der u.a. mit einer sechsbändigen Krimi-Reihe um den Antiquitätenhändler Wilhelm Gossec bekannt wurde, verlässt seinen üblichen Schauplatz München – und spannt einen Erzählbogen um die halbe Welt, der von den späten 1980er Jahren bis in die 10er Jahre unseres Jahrhunderts reicht. Kern des Stoffes ist das amerikanische Wirken in Mittelamerika (hier vor allem El Salvador). Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der in den Fänge der CIA gerät und sich Jahre später an seinen Peinigern rächt, die mittlerweile quer in der ganzen Welt verstreut leben. Wenn Sie dazu was auf die Ohren haben möchten: Der bayerische „Bluespoet“ Schorsch Hampel hat zu Bronskis Roman einen Soundtrack geschrieben. Die CD (oder auch Playlist etwa bei Spotify) hat ebenfalls den Namen „Jaguar“. Feine Musik mit ein paar netten Zitaten (erkennen wir da die „Halunken“ von Morricone oder liegt’s an den Pillen?), auch wenn zu von Ry Cooders „Paris, Texas“ noch ein paar Meter fehlen. Bin mal gespannt, ob und wie sich Text und Musik zusammentun.

Remakes sind im Filmbusiness nichts Außergewöhliches, in der Literatur aber schon. Allein deshalb lohnt sich ein Blick in Karsten Stegemanns Roman „Niewetow“ (Edition Nautilus). Das Buch ist ein literarisches Remake des Klassikers „Der Tod ist ein einsames Geschäft“ von Ray Bradbury aus dem Jahre 1985. Bradburys Buch spielt im kalifornischen Venice im Jahre 1949, in der Umbruchszeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Stegemann hat die Handlung verlegt in das das neblige, ostdeutsche Inselstädtchen Niewetow. „Niewetow“ heisst es in der Leseprobe, „war in jenen Jahren der ideale Ort für Leute, die gern traurig sind.“ Und weiter: „Beinahe jeden Abend hing Nebel über der Stadt auf der Insel, vor deren Küste die Reste der Kriegsmarine einer untergegangenen Armee vor sich hinrosteten, das trübe Brackwasser des Stromes schwappte gegen die Hafenmauern, und Sandkörner prasselten an die Fensterscheiben, wenn der Wind über verlassene Plätze und durch leere Straßen pfiff.“. I love it! Und eine schöne Gelegenheit, sich vielleicht mal wieder mit Ray Bradbury zu beschäftigen…

Mm, das ist unangenehm: Durchgeflutscht ist mir ein Text vom großen Stewart O’Nan, dazu noch ein richtig guter: „Die Stadt der Geheimnisse“ (Rowohlt, aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel) spielt in Jerusalem im Jahre 1947, kurz vor der Staatsgründung Israels, als Palästina noch britisches Protektorat war. O’Nan erzählt die Geschichte des lettischen Juden Jossi Brand, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt, nach dem Krieg in einem Schiff nach Palästina übersetzt und sich in Jerusalem als Taxifahrer durchschlägt. Jossi fährt wohlhabende Touristen zu den Sehenswürdigkeiten – und Kämpfer der zionistischen Sache zu Anschlagsorten. Er will dazugehören zum kämpfenden Untergrund und bleibt doch immer außen vor. Trost sucht er in seinen einsamen Nächten in den Armen der Prostituierte Eva, wie Jossi Holocaust-Überlebende und an Geist und Körper lädiert. O’Nan beherrscht die große Kunst, mit ein paar Federstrichen im Kopf des Lesers ganze Gemälde entstehen zu lassen und führt seine Figuren, die in ungemein komplizierten Zeiten versuchen, das Richtige zu tun, souverän durch einen spannenden Roman. Beeindruckend, was Stewart O’Nan auf gerade 220 Seiten unterbringt!
Comic/Heimkino Mai 2020 – von Katrin Doerksen und Thomas Groh:

Diane Obomsawin: Ich begehre Frauen
Edition Moderne, 80 Seiten, 24 Euro, lieferbar
Die Comickünstlerin Diane Obomsawin hat ihre Freundinnen gebeten sich an den ersten Moment zu erinnern, in dem sie sich zu einer anderen Frau hingezogen fühlten. Die 10 kurzen Vignetten mit anthropomorphisierten Tieren als Protagonistinnen ergeben nebeneinander eine kleine charmante oral history lesbischer Erfahrungen in Kanada.

Michael Jordan: Warum wir müde sind
avant-verlag, 104 Seiten, 22 Euro, lieferbar
Ein Protagonist irrt durch postapokalyptische Fabriklandschaften auf der Suche nach… Ja, wonach eigentlich? Michael Jordans neuer Comic verspricht surreale Alptraumwelten und dreckigen Industrial-Chic.

William Wymark Jacobs, Sabine Wilharm: Die Affenpfote
Carlsen Comic, 64 Seiten, 12 Euro, lieferbar
Ein neuer Eintrag in der wunderbaren Reihe Die Unheimlichen, die Klassiker des Horror- und Thrillergenres neu als Comics adaptiert. Diesmal ist die an Suggestionskraft reiche britische Horrorkurzgeschichte Die Affenpfote dran, in der der Besitzer eines Talismans in Form einer mumifizierten Affenpfote drei Wünsche frei hat. Sie werden ihm erfüllt – doch zu einem schrecklichen Preis.

Viken Berberian, Yann Kebbi: Marode Substanz, Genosse
Edition Moderne, 336 Seiten, 39 Euro, lieferbar
Ein Herr Zement – ein geradezu fanatischer Anhänger Le Corbusiers – hat großes vor mit Jerewan: Eine Utopie aus Beton soll die von sozialen Zuspitzungen geprägte Hauptstadt Armeniens beglücken. Dafür weg soll das Alte und damit auch die günstigen Mietwohnungen der nicht allzu finanzkräftigen Menschen, die massenhaft vertrieben. Eine Revolution braut sich zusammen. – Beton ist massiv und beständig, der Strich Yann Kebbis, der die eigens für diesen Comic verfasste Geschichte des Schriftstellers Viken Berberian umsetzt, ist es nicht: Wachsmälern verliert sich diese Welt im Diffusen, Unbeständigen, Unkonkreten, Bunten. Umso erstaunlicher, welchen narrativen Sog diese Geschichte über Ost und West, über ästhetische und politische Revolutionen, über den Zusammenhang von Stadt, Gesellschaft und Geschichte entwickelt. Große Empfehlung für alle, die avantgardistische Comickonzepte zu schätzen wissen.

Charles Berberian: Charlotte Perriand – Eine französische Architektin in Japan 1940-1942
Reprodukt, 112 Seiten, 20 Euro, vorbestellbar
Nochmal Le Corbusier, nochmal ästhetische Moderne, nochmal Berberian – mit Viken Berberian aber nicht verwandt. Charlotte Perriand wird gerade (Ausstellung, Buch, dieser Comic) breit wiederentdeckt: Kein Wunder, denn die Designerin und Innenarchitektin, die in den 20ern mit einer Mappe bei Le Corbusier vorstellig wurde, sich bei ihm weiterentwickelte und schließlich aus seinem Schatten trat, ist eine auch heute noch aktuelle, faszinierende Emanzipationsgeschichte – und Perriands Stil, der Funktionalität und Zweckdienlichkeit gegenüber platzraubenden Verschnörkelungen stets den Vorzug gab, hat eine bis heute ungebrochene humanistische Güte. Der vorliegende Comic fokussiert auf Perriands Jahre in Japan und wählt dafür einen wunderschönen, zwar schlichten, aber kunstfertigen Stil, dessen Zierlichkeit und Farbgebung immer wieder zum Verweilen und stiller Bewunderung einlädt. Der Spielort Japan ist mit Geschick gewählt: Berberian dient Perriands biografische Passage nicht nur zur Reflexion eines ästhetischen Dialogs der Kulturen, sondern auch der eindringlichen Schilderungen der globalpolitischen Wirren dieser Zeit: Europa versinkt im Krieg, der Zufluchtsort Japan steht am Vorabend seiner eigenen säbelrasselnden Abenteuer.

Grant Geissman: The History of EC Comics
Taschen Verlag, 592 Seiten, 150 Euro, lieferbar
Göttlicher Schund der 50er und 60er: EC Comics brachen Tabus, sie waren grell und wunderbar subversiv. Die Spezialität des Hauses: Horror, Science-Fiction, Crime – und jede Menge Sex, soweit es Zensur, moralisches Empfinden und die Läden es in ihrer Auslage eben zuließen. Kein Wunder, dass es bei einem Intermezzo blieb – bis auf das legendäre MAD-Magazin blieb von dem geballten Spuk des Sittenverfalls wenig übrig. Dafür waren diese krassen Bildwelten umso wirkungsvoller: Der Underground-Comic der 70er, die grimmige Verdüsterung der Mainstream-Comics – ohne die Pionierarbeit von EC Comics hätte die Comicgeschichte anders ausgesehen. Taschen greift nun beherzt in die Vollen der Archive und versammelt für diesen Luxusband Schmuckstücke und Raritäten. – Siehe auch die Besprechung von Alf Mayer in dieser Ausgabe, d. Red.

Mario Bava: Horror Collection
5 Blu-Ray und 1 DVD, Koch Media, ca. 62 Euro
Vom Kameramann zum Meister des günstigen Spezialeffekts bis zum Regisseur: Mario Bavas Karriere bietet einen eindrucksvollen Blick in die seinerzeit höchst lebendige Genrefilmschmiede, die das italienische Kino einst gewesen ist. In liebevoller Aufmachung präsentiert die (lange angekündigte, nun aber wohl wirklich und tatsächlich erscheinende) „Mario Bava Horror Collection“ fünf seiner besten Horrorfilme in Hochauflösung: „Die Stunde, wenn Dracula kommt“, „Lisa und der Teufel“, „Baron Blood“, „Die drei Gesichter der Furcht“ und „Die Toten Augen des Dr. Dracula“ sind allesamt Schmuckstücke des europäischen Genrefilms der 60er und 70er Jahre – nicht zuletzt mit Blick auf den stürmischen Herbst und Halloween eine prall gefüllte Vorratskammer, die von kiloweise Bonusmaterial abgerundet wird.

Morricone und Bukowski – zwei „Lange Nächte“
– Dass es Ennio Morricone nicht mehr geben soll, ist immer noch schwer vorstellbar. In einer „Langen Nacht“ lässt Dlf Kultur Leben und Werk des Maestro nochmal Revue passieren (Skript: Olaf Karnik, Volker Zander) – mit vielen Hörbeispielen, kundigen Einschätzungen (u.a. des Musikers Eric Pfeil, des Filmhistorikers Olaf Möller und des Regisseurs Dominik Graf) und Zitaten des Komponisten selbst aus dem (empfehlenswerten!) Gesprächsband „Ennio Morricone – In His Own Words“. Aber rasch gesputet: Aus lizenzrechtlichen Gründen steht das Audio nur noch bis kommendes Wochenende online – der Download fürs Privatarchiv ist also dringend empfohlen (hier der Direktlink zum mp3).
– Außerdem wäre ja Charles Bukowski vor kurzem 100 geworden. Auch hier hat das Deutschlandradio eine „Lange Nacht“ produziert (Skript: Knut Benzner). Die ursprüngliche Sendeversion ist bereits offline, dafür hat der Sender eine um die Musiktitel gekürzte Zweistundenfassung online gestellt, die noch ein Jahr lang nachhörbar ist. Für alle Fälle auch hier der Tipp: Download der Datei – und nachhören, wann man will.