
Eine Vielzahl Krimi-Neuheiten
… erscheinen jeden Monat, dazu Graphic Novels (vulgo: Comics) und DVDs und BluRays. Unmöglich, das alles zu überblicken und zu rezensieren. CrimeMag siebt und schürft deshalb für Sie und weist hier regelmäßig mit Hilfe von Kaliber.38 und der befreundeten Buchhandlungen Chatwins (Berlin), Wendeltreppe (Frankfurt) und Buchladen in der Osterstraße (Hamburg) auf interessante Neuerscheinungen hin. Empfehlungen für DVDs, BluRays und Comics geben Katrin Doerksen und Thomas Groh.
Bitte denken Sie daran, dass gerade in diesen Zeiten Ihre lokale Buchhandlung(en) besonderer Unterstützung und Solidarität bedürfen. Lieber dort bestellen als bei amazon.

Claudia Denker von der Krimiabteilung im Chatwins in Berlin-Schöneberg:
Das Weihnachtsgeschäft ist dieses Jahr für uns Buchhändler ganz schön besonders. Die Kunden werden angehalten, nicht zu lange zu stöbern, vielleicht auch mal ihre Geschenke selber einzupacken, und das übliche Gedrängel muss dieses Jahr selbstverständlich ausbleiben. Weniger anstrengend ist es deshalb nicht – das Telefon klingelt pausenlos, Mails müssen beantwortet werden, aber auch das Gespräch mit plauderbedürftigen Kunden darf aus sozialen Gründen nicht ganz ausfallen.

Meine Tipps im Dezember:
Vor zwei Jahren hat mich Tom Franklins »Krumme Type, Krumme Type« begeistert, und ich freue mich nun auf die 10 Geschichten in »Wilderer« (Pulp Master). Im selben Verlag kommt eine Neuübersetzung von Ted Lewis »Schwere Körperverletzung«.
Ich hoffe jetzt sehr darauf, dass Lutz Göllners »Ganoven, Mörder, Panzerknacker« (Verlag Der Tagesspiegel) es schnell auch ans Lager der Großhändler schafft, »Wahre Verbrechen aus Berlins Unterwelt« – das ist doch was zu Weihnachten! Zumindest in Berlin.
Neugierig bin ich auch auf Marcello Fois: »Abschiede« (Polar Verlag), erschienen in der neuen Taschenbuchreihe.

Im September ist er mir durchgerutscht, den Kriminalroman »Der rote Apfel« (Heyne) von der Südkoreanerin Mi-Ae Seo möchte ich gerne noch nachträglich empfehlen, weil ich ihn richtig gut finde.
Und überaus sympathisch ist »Rory Shy, der schüchterne Detektiv«, erfunden von Oliver Schlick (Ueberreuter Verlag), empfohlen ab 10.
Und nun singen wir alle unterm Weihnachtsbaum:
Krazy: »Seifenblasenmaschine« (Timezone)!

Jutta Wilkesmann, Wendeltreppe, Frankfurt:
M.C. Beaton: Hamish riecht Ärger (Lübbe)
Cay Rademacher: Stille Nacht in der Provence (DuMont)

Maximilian Rosar: Die Stille der Toten (Aufbau)
Kaspar Wolfensberger: Gommer Winter (Kampa)
Tim Macgabhan: Der erste Tote (Suhrkamp)
Wolfgang Schorlau: Kreuzberg Blues (Kiepenheuer & Witsch)
Und wie immer viele liebe Grüße – eine schöne Zeit. Und wir alle bleiben gesund und munter!!!!
(Pfeifen im Walde)
Die Wendeltreppe

Torsten Meinicke, Buchladen in der Osterstraße, Hamburg:
Das waren meine dunklen Lektüren im trüben Lockdown-Monat November:
Melissa Scrivner Love, Capitana (Ü. Andrea Stumpf und Sven Koch), Suhrkamp 2020, 333 S., 15,95 Euro: Lola Vasquez wird verarscht und schlägt zurück. Gnadenlos auch gegen den eigenen Bruder. Melissa Scrivner Love hält das Niveau von Lola. Gerne mehr von der Mutter mit Knarre und sozialem Bewußtsein!
Dominique Manotti, Marseille.73 (Ü: Iris Konopik), Argument 2020, 397 S., 23 Euro: Eine Serie von ungeklärten Morden an Einwanderern, rechte rassistische Netzwerke innerhalb der Polizei, schlampige Ermittlungen und vernichtete Beweismittel. Das hört sich alles sehr aktuell an, oder? Ist es natürlich auch, doch der neue Roman der Grande Dame des französischen Noir spielt in Marseille im Jahr 1973. Lakonisch und historisch fundiert protokolliert die Autorin den Kampf gegen rechte Umtriebe im Polizeiapparat. Chapeau!

Marcello Fois, Abschiede (Ü: Monika Lustig), Polar 2020, 497 S., 14 Euro: Kommissar Striggio auf der Suche nach einem verschwundenen Jungen. Der große sardische Erzähler holt weit aus. Ein Ziegelstein von einem Buch, geschrieben mit eben solcher Wucht.
Denise Mina, Götter und Tiere (Ü: Karen Gerwig), Argument 2020, 352 S., 21 Euro: Mittlerweile viel besprochen und einhellig bejubelt. Und das vollkommen zu Recht. Ein ganz großer Wurf der schottischen Autorin, die Sozialgeschichte der Stadt Glasgow im Gewand eines Krimis.
Tim MacGabhann, Der erste Tote (Ü: Conny Lösch), Suhrkamp 2020, 275 S., 15,95 Euro: Zwei Journalisten in Mexiko. Der Fotograf Carlos wird von Narco/Polizisten ermordert, sein Freund kehrt zurück und recherchiert die Story weiter. Alles nicht ganz neu, der Auftakt einer Trilogie soll es sein. Schaun wir mal.

Hubert Mingarelli, Ein Wintermahl (Ü: Elmar Tannert), ars vivendi 2020, 142 S., 18 Euro: Sicher, dem Genre ein wenig entfernt, trotzdem sehr lesenswert. Drei Wehrmachtssoldaten in Polen. Um der Teilnahme an Erschießungen zu entgehen, gehen sie lieber auf Patrouille. Als sie einen versteckten Juden aufgreifen, stellt sich die Frage: abliefern oder laufen lassen? Ein Kammerspiel um Handlungsfreiräume, Pragmatismus, Pflichtgefühl und Humanität.
Bleibt alle gesund, seid solidarisch und tragt eure Schnutenpullis! Das neue Jahr wird besser werden. Immerhin erscheinen dann neue Bücher von Simone Buchholz, Doris Gercke und Ross Thomas. Und hoffentlich auch endlich mal wieder was aus der Qualitätsschmiede Pulp Master …
Torsten Meinicke

Jan Christian Schmidt von Kaliber.38:

Da ist sie ja wieder, die australische Autorin Candice Fox! Wir hatten schon befürchtet, dass sie nur noch Kooperationen mit James Patterson schreibt. Sei es drum – mit ihrem frischen Thriller Dark (Suhrkamp, dt. von Andrea O’Brien) schickt Fox eine neue Heldin ins Rennen: Jessica Sanchez, Polizistin in Los Angeles. In ihrem ersten Fall tut sie sich zusammen mit drei ehemaligen Gefängnisinsassinnen (von denen Sanchez eine selbst hinter Gitter brachte), und macht sich auf die Suche nach der verschwundenen Tochter einer der Delinquentinnen. Dabei kreuzen sich ihre Pfade mit den Wegen finsterer Gestalten, die auf der Suche nach der Beute eines zum Tode verurteilten Häftlings sind. Candice Fox, noch jung an Jahren aber bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, beschreibt komplexe und farbenfrohe Charaktere, die auch robuster Gewalt gegenüber nicht abgeneigt sind. Ihre Geschichte um vier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein können, verspricht Lesevergnügen auf hohem Niveau. Auch ein schönes Geschenk – vielleicht nicht für Leute, die sonst stromlinienförmige Krimis von James Patterson lesen.

Nicht wirklich neu ist Das Gemälde von Susan Hill – die unheimliche Geistergeschichte war bereits 2009 im Knaur Verlag erschienen. Jetzt gibt es das Buch der Autorin, die in England zu den bekanntesten Schriftstellerinnen zählt und Lesern klassischer Krimis mit einer Serie den über Polizisten Simon Serrailler aus dem beschaulichen Städtchen Lafferton bekannt ist, in neuer Ausgabe im Züricher Kampa Verlag (dt. von Susanne Aeckerle). Das titelgebende Bild zeigt eine Szene des Karnevals in Venedig im ausgehenden 18. Jahrhundert: Gondeln auf dem Canal Grande, bunte Masken, Gaukler, Jongleure und Musikanten. Hinter der arglosen Szene verbirgt sich Finsteres: Auf dem Gemälde, so raunt man, liege ein Fluch, und es verfüge über die makabere Macht, Menschen zu verschlingen und Tote sichtbar zu machen. Eine feine Schauergeschichte in gehobener Ausstattung – dazu vielleicht noch die DVD „Wenn die Goldeln Trauer tragen“ oder schlicht ’nen Fläschken Sherry vom Discounter…

Rassismus gehört wahrscheinlich zu den Polizeien dieser Welt wie die polierten Uniformknöpfe, nur bei den Ursachen müsste man genauer hinschauen. Einen glasklaren Blick auf die Strukturen im Polizeiapparat hat die Französische Autorin Dominique Manotti, von Hause aus Historikerin mit Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte. Marseille.73 heißt ihr neuer Krimi, womit Schauplatz und Zeit der Handlung gleich benannt wären (siehe auch die Besprechung von Joachim Feldmann in dieser Ausgabe). Das scheint weit weg, aber die Parallelen ihres hochpolitischen Kriminalromans zu unserer Gegenwart sind schmerzlich evident: Der Krimi spielt vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise, in der die französische Regierung den ausländischen Arbeitskräften mit Ausweisung droht, die keinen regulären Arbeitsvertrag vorweisen können. Die Arbeitsemigranten organisieren ihren Widerstand, der wiederum die französische Rechte auf den Plan ruft: Es kommt zu einer pogromartigen Stimmung gegen Einwanderer, die in einer blutigen Mordserie mit rund fünzig arabischen Opfern mündet. Polizei und Justiz schauen weg – oder schieben mit dem Stichwort „Blutfehde“ den Opfern gleich selbst die Schuld in die Schuhe. An dieser Stelle betritt Kommissar Théo Daquin die Szenerie, „ein unbestechlicher Bulle mit Reibfläche und ausgeprägtem Sinn für Unrechtsverhältnisse“, wie der Verlag ihn beschreibt. Dominique Manotti, Spezialistin für die dunklen Zonen der Gesellschaft, beschäftigt sich in „Marseille.73“ mit dem brennenden, leider nicht bloß historischem Problem des Rechtsterrorismus und serviert dem Leser feinste politische Krimikost.

Sie haben keine Lust auf Krimis und möchten mal wieder ein richtiges Buch lesen? Ich bin jüngst über Sechs Koffer von Maxim Biller gestolpert (Kiwi-Hardcover oder Fischer Taschenbuch). Ein ganz famoses Buch über Billers russische und tschechische Wurzeln. Das Buch rekurriert aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder auf das gleiche Geschehen: Verrat innerhalb der Familie. Beeindruckend, wie Biller mit kurzen, frechen Sätzen und spannender Erzählperspektive einen eigenen Kosmos zum Leben erweckt. Der schmale, knapp 200-seitige Text macht auch auf schmerzliche Weise bewusst, wie erschütternd wenig wir – Wessies? – über Osteuropa wissen. Da gilt es, noch einen reichhaltigen Schatz zu bergen, ohne den vielleicht auch aktuelles jüdisches Leben in Deutschland gar nicht richtig verstanden werden kann.

Gar keine Lust aufs Lesen? In der ARD-Mediathek gibt’s eine beachtliche achtteilige TV-Serie aus Tschechien (ja, ja, die blinden Flecke im Osten), die mit erfreulich viel Mut zu Hässlichkeit überzeugt. Die achtteilige Mini-Serie Wasteland – Verlorenes Land – ein Format, dass ich in Pandemie-Zeiten richtig zu lieben begonnen habe – wurde 2016 von HBO-Europe produziert und erzählt in düsteren Bildern, in denen kaum mal das Tageslicht durchdringt, von dem zerrissenen tschechischen Dorf Pustina, das dem Kohlebergbau weichen soll. Ironischerweise werden die Bilder heller, nachdem der Tod Einzug hält Pustina – heller, aber nicht optimistischer. Schwer zu ertragen all das – gigantische Bagger reissen tiefe Wunden in die Landschaft und hinterlassen zerrüttete Menschen in einer zerrütteten Natur. Am Ende hofft man fast, die Bagger mögen Schluss machen mit all dem Elend, und das vermaledeite Dorf für immer im Boden begraben.
Noch was zum Glotzen: In der ARTE-Mediathek findet sich eine Stephen King-Dokumentation – „Stephen King – Das notwendige Böse“. Die 53-minütige Sendung versucht, anhand alter Interviews dem Phänomen Stephen King und seinem unglaublichen Erfolg auf die Spur zu kommen. Die Interview-Auszüge mit dem Bestsellerautor sind thematisch sortiert und konzentrieren sich auf die Frage, warum wir Menschen uns so wohlig gruseln und so viel Lust am Schrecken empfinden können. A propos Gruseln: Was macht eigentlich Vader Abraham? – Ach, egal…

Comic/Heimkino Mai 2020 – von Katrin Doerksen und Thomas Groh
Die Unheimlichen: Frankenstein nach Mary Shelley von Ralf König
Carlsen Verlag, Hardcover, 64 Seiten, bestellbar
Der achte Band der Reihe Die Unheimlichen, für die bekannte deutsche Comickünstler*Innen Klassiker der Horrorliteratur als Comic adaptieren.

Kokoro – Der verborgene Klang der Dinge von Igort
Reprodukt, Hardcover, 128 Seiten, farbig, bestellbar
Zum inzwischen dritten Mal kombiniert Igort sein Reiseberichtsformat mit kleinen Exkursen in die japanische Kulturgeschichte und Alltagskultur und begegnet dem Schaffen international renommierter Künstler von Yasujiro Ozu bis Ryuichi Sakamoto. Ein wahres Füllhorn an Wissen, Eindrücken, Zeichenstilen.

Kriegsjahre von Shigeru Mizuki
Reprodukt, Klappenbroschur, 488 Seiten, Schwarzweiß, bestellbar
Der zweite Band von Shigeru Mizukis autobiografischer Trilogie beschäftigt sich mit seiner Zeit als Soldat im Pazifikkrieg, wo er, stationiert auf der damaligen Insel Neubritannien, seinen linken Arm verlor und inmitten der imperialistischen japanischen Armee endgültig zum Pazifist wurde. Seine Erinnerungen sind heftig, jedoch niemals bitter.

Sie wollen uns erzählen von Michael Büsselberg
Ventil Verlag, Hardcover, 128 Seiten, farbig, bestellbar
Zehn Comickünstler*Innen, darunter Anna Haifisch oder Sascha Hommer, interpretieren zehn Songs aus der kompletten Schaffensphase von Tocotronic. Inklusive Künstlerporträts und Anmerkungen von Dirk von Lowtzow.

Noch vor Jahresende erscheinen:
Die Tunnel, der neue Band, der gefeierten israelischen Comickünstlerin Rutu Modan („Das Erbe“) bei Carlsen.
Die Graphic Novel erzählt zwei Geschichten über illegales Bauen & Graben in Israel und den besetzten Gebieten. Es geht um eine Gruppe von rivalisierenden Archäologen, die eine nicht genehmigte Ausgrabung um die berüchtigte Grenzmauer herum machen und sich dann mit palästinensischen Schmugglern zusammentun, um die gemeinsamen Tunnel zu verbinden. Mit sehr viel Humor erzählt, hat fast schon etwas Screwball-Comedy-mäßiges …

Bei Splitter erscheint Alfred Hitchcock 1: Der Mann aus London, eine biografische Erzählung.
Es ist der erste von zwei Bänden (der zweite kommt Ende 2021), geht also angenehm tief ins Detail und dürfte nicht nur für Film-Freaks interessant sein. Die Handlung des ersten Bands hört kurz vor dem Zweiten Weltkrieg auf.