Geschrieben am 16. September 2018 von für Crimemag, CrimeMag September 2018

Sonja Hartl über tote Mädchen

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Sheryl Lee als Laura Palmer in „Twin Peaks“

Dead Girls Everywhere

Ein Mädchen mit blutleerem Gesicht, tot, in Plastikfolie gewickelt. Die tote Laura Palmer in der ersten Folge von „Twin Peaks“ ist eines der bekanntesten Bilder der Seriengeschichte. Ein Mädchen, grausam zu Tode gekommen, verkörpert den Zusammenprall von (unterstellter) Unschuld und Verdorbenheit. Ihre Ermordung ist nun Anlass, von dem Städtchen Twin Peaks zu erzählen – und von dem ermittelnden FBI-Agenten Dale B. Cooper.

chop DEAD GIRLS coverLaura Palmer faszinierte auch mich damals – und das Geheimnis um ihren Tod hat mich bis heute nicht losgelassen. Mit ihr begann aber auch die Welle der toten Mädchen im Fernsehen, die bis heute nicht vorbei ist. Tote Mädchen sind ein bequemes narratives Mittel, um beim Rezipienten sofort Gefühle zu wecken. Tote Mädchen, schön und in der Regel weiß, setzen eine Erzählung in Gang, ob in „True Detective“, „Pretty Little Liars“ oder „Tote Mädchen lügen nicht“. Diese toten Mädchen (oder auch Frauen) sind ein Rätsel, wie Alice Bolin in „Dead Girls“ formuliert: „Women are problems to be solved, and the problem of absence, a disappearance or murder, is generally easier to deal with than the problem of the woman’s presence.“

Lieber tot als gegenwärtig und präsent

Exemplarisch zeigt sich das an den beiden Staffeln von „Tote Mädchen lügen nicht“. Im Mittelpunkt der Erzählung über die Schülerin Hannah, die Selbstmord begangen hat, stand schon immer ihr Schulfreund Clay, der mithilfe der 13 Kassetten, die sie hinterlassen hat, herausfinden will, warum sie sich umgebracht hat. In der ersten Staffel kommt Hannah durch die Kassetten immerhin noch selbst zu Wort. Ihr Erleben, ihre Wahrnehmung spielt eine Rolle – untergeordnet. In der zweiten Staffel ist sie indes lediglich in den Gedanken von Clay präsent, er sieht sie, weil er ihren Tod verarbeiten muss; sie ist eine reine Projektionsfläche für ihn, an sie hartl 61a11e51-3935-4cd7-9f25-8b5679ac5a5drichtet er seinen Ärger, wenn sie seine Erwartungen enttäuscht hat, die er in ihrer Verklärung an sie gestellt hat. Clay ist in ein Ideal verliebt gewesen, das der Realität nicht standhält – und die Serie deutet an, dass Hannah vor allem wichtig war, weil sie Clay etwas bedeutet hat. Lasse ich einmal beiseite, dass die zweite Staffel von „Tote Mädchen lügen nicht“ ohnehin unnötig war, hätte in ihr zumindest die Chance gelegen, tatsächlich Hannahs Geschichte zu erzählen. Das Leben eines Teenagermädchens, das dazugehören will und Fehler macht. Stattdessen aber geht es um Clays Leiden durch ihren Tod.

Darin steckt die grundlegende Ambivalenz aller Dead Girl Shows: Sie tragen dazu bei, die etablierten Hierarchien zwischen den Geschlechtern zu verstärken. Die Frau ist das Opfer, der Mann der Retter, die Frau ist die Unterlegene, der Mann der Stärkere. Der Tod der Frau dient dazu, vom Mann zu erzählen. Eine Serie wie beispielsweise „Tote Mädchen lügen nicht“ ist sich derrape cultureund des Sexismus der Gesellschaft bewusst. Indem die Footballmannschaft aber eine fast mafiöse Vereinigung und nicht mehr eine Gruppe von Teenagerjungs mit einem toxischen Maskulinitätsideal ist, verfehlt sie ihre Wirkung. Sie sagt, diese Jungs und all die Männer, die wegsehen und ermöglichen, sind die Ausnahme und nicht die Regel.

Dennoch bin ich überzeugt, dass mit Geschichten über toten Mädchen grundsätzlich Misogynie und Sexismus sichtbar gemacht werden können. Dass es möglich ist, dass sich durch diese Geschichten Frauen und Mädchen den dunklen Seiten ihres Lebens stellen können, dass sie Gespräche über Dinge in Gang setzen, über die nicht gesprochen werden soll: häusliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, widerstreitende Gefühle über die Mutterschaft zum Beispiel. Diese Geschichten können erforschen, zu was Frauen aufgrund des konstanten Sexismus in der Lage sind – was Wut mit ihnen macht.

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Amy Adams als Detective Camille Preaker in „Sharp Objects“ von Jean-Marc Vallée (c) HBO

„Sharp Objects“: den beschädigten, verletzten weiblichen Körper zurückerobern

Einen interessanten Versuch in diese Richtung unternimmt die Serie „Sharp Objects“ – nach dem gleichnamigen Debütroman von Gillian Flynn, der bei uns als „Cry Baby“ erschien (Scherz, 2007). Von Gillian Flynn stammt auch auch die Romanvorlage für Gone Girl – Das perfekte Opfer. In „Sharp Objects“ kehrt die Journalistin Camille Preaker in ihre Heimatstadt Wind Gap zurück, weil dort innerhalb eines Jahres das zweite Mädchen verschwunden ist und später auch tot aufgefunden wird. Camille soll für ihre Zeitung über diesen Ort und das Verschwinden schreiben. Wie Rust Cohle in „True Detective“ wird sie von ihrer inneren Düsterheit bestimmt, von ihren inneren Dämonen. Während Rust Cohle trinkt, um seine Tochter zu betrauern, trinkt Camille wegen ihrer toten Schwester. Beide geraten an einen Mordfall, von deren Lösung sie sich Absolution versprechen – und bei beiden wird es im Verlauf der Serie(n) immer schwieriger, ihren Dämonen zu entkommen. Preaker und Cohle haben nur ihre Vergangenheit und sind auf der Suche nach Gerechtigkeit, die sie sich durch die Aufklärung eines anderen Verbrechens versprechen.

hartl 2909588.jpg-r_1280_720-f_jpg-q_x-xxyxxNun klingt das auf den ersten Blick wie eine reine Umbesetzung, die viele mit einer feministischen Tendenz verwechseln: Ein Figurentypus, der überwiegend von Männern gespielt wird, wird mit einer Frau besetzt und damit haben wir eine „starke“ Frauenfigur. Doch das ist hinsichtlich Camille Preaker viel zu kurz gedacht: Am Ende der ersten Folge sieht man, dass sie nicht nur trinkt, um zu vergessen, sondern sich ritzt. Sie schneidet Wörter in ihren Körper. Damit nimmt „Sharp Objects“ eine sehr spezielle und vorwiegend weibliche Form der Selbstverletzung in den Mittelpunkt – und einen weiteren beschädigten weiblichen Körper.

Denn genau darum geht es der Serie: Sie will den beschädigten, verletzten weiblichen Körper zurückerobern. Diese Serie erzählt nun nicht mehr davon, wie Frauen Schaden zugefügt wird, sondern von dem Schaden, den Frauen sich zufügen. Es sind nicht mehr die toten Frauen und Mädchen, die eine seltsame, bisweilen erotische Anziehung auf den Ermittler oder die Stadt ausüben. Das tote Mädchen ist nicht mehr eine leere Hülle, durch die Männer ihre Probleme aufarbeiten können, sie wird nicht mehr benutzt, um über Maskulinität zu erzählen. Vielmehr geht es um die lebenden Frauen. Um den Schaden, den sie sich zufügen, aufgrund der Erwartungen, die an ihre Feminität gestellt werden. Weibliche Körper und Traumata werden nicht mehr mit einem männlichen Blick betrachtet, sondern mit einem weiblichen. Allein die Preakers versammeln. Allein die Preakers versammeln Archetypen des Weiblichen: Camille ist die verlorene Tochter, die nach Hause zurückgekehrt, eindrucksvoll gespielt von Amy Adams in einer Mischung aus Südstaatenprinzessin und White Trash. Stets hat sie etwas Strahlendes, aber zugleich ist ihre Zerbrechlichkeit zu spüren. Camilles Mutter ist die kühle Matriarchin Adora, die über das Haus und als größte Arbeitgeberin auch über den Ort herrscht. Fantastisch gespielt von Patricia Clarkson ist sie eine innerlich verrottete Südstaatenschönheit, stets auf das Ansehen bedacht und doch besessen von dem Wunsch, gebraucht zu werden. Und dann gibt es noch Amma (Eliza Scanlen), Camilles jüngere Halbschwester. Sie kennt sie gar nicht, sie wurde geboren, nachdem ihre andere Halbschwester Marian (Lulu Wilson) starb. Amma ist eine jener jungen Frauen, die wissen, dass ihr Aussehen und ihr Körper ihnen Macht über die Menschen und insbesondere die Männer gibt. Aber das reicht nun einmal nicht. In der siebten Folge wird sie zu Camille sagen, dass es einfach sei, Männern zu gefallen, indem man sie einfach Dinge machen lasse. Aber mit Mädchen sei es viel schwieriger, die würden sie nicht mögen, sie würden sie fürchten. Eliza Scanlen schafft den Spagat zwischen bravem Mädchen und allzu junger femme fatale mühelos, innerhalb weniger Sekunden verändert sie ihre Körpersprache und Mimik vollends.

Eine Stadt, die von ihren Frauen größtmögliche Weiblichkeit verlangt

Sicherlich gelingt auch „Sharp Objects“ nicht immer die Balance zwischen Reproduktion alter Muster und deren Hinterfragung, auch fordert die Serie durch das langsame Erzähltempo und die allzu offensichtliche Unfähigkeit einiger Figuren heraus. Aber sie fasziniert auch durch das konstante Hinterfragen von Rollen und der Rezeption von Frauen. Allzu oft auf Schlagworte reduziert, findet man hier keine Girl Power oder „starke“ Frauenfiguren, keine Rächerinnen. Sondern Mütter, die nicht vergessen, ihre Töchter daran zu erinnern, dass sie sie nicht lieben. hartl tale p15392341_v_v8_aaMädchen, die keine Gelegenheit auslassen, diejenigen niederzuzwingen, die sich nicht den gesellschaftlichen Erwartungen unterwerfen. In Gillian Flynns Buch steht, dass Wind Gap eine Stadt sei, die von ihren Frauen größtmögliche Weiblichkeit verlangt. In der Serie ist das in jedem Bild zu sehen. In dieser Stadt sind die Männer so sexistisch, dass sie allein die Vorstellung, die Mädchen könnten von einer Frau ermordet sein, ablehnen. Die Serie drängt nun aber die Männer an den Rand und konzentriert sich allein auf die Frauen, ohne zu behaupten, alle Rätsel lösen zu können.

Damit macht „Sharp Objects“ zweierlei deutlich: Tote Mädchen – oder weibliche Opfer im Allgemeinen – müssen nicht aus Kriminalerzählungen verschwinden, sondern die Erzählweise muss sich verändern. Dazu gehört auch, dass der männliche Blick, der in Filmen und Serien so präsent ist, hinterfragt wird. Ein eindrückliches Plädoyer hierfür lieferte zuletzt auch der Film „The Tale – Die Erinnerung“ von Jennifer Fox. Allein durch die Entscheidung, die Rolle einer Dreizehnjährigen nicht mit einer wesentlich älteren Schauspielerin zu besetzen, lässt sofort im Bild erkennen, dass es falsch ist, wenn ein erwachsener Mann sie begehrt, dass das vermeintlich Verführerische einer Dreizehnjährigen allein im Blick des Täters ist.

Sonja Hartl

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