Geschrieben am 1. Juli 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2021

Ulrich Noller porträtiert und interviewt Anthony J. Quinn

Anthony J. Quinns Noir “Auslöschung” erzählt von Politik und Verbrechen an der nordirisch-irischen Grenze. Also an der zwischen Großbritannien und der Europäischen Union: Ein so komplexer wie packender Roman, der im Original schon im Jahr 2012 erschien, durch den Brexit aber gerade jetzt wie ein Buch zur Stunde anmutet.

Wie wird man eigentlich zum Kriminalschriftsteller? Interesse am Zusammenhang von Gesellschaft und Verbrechen, Spannung und Unterhaltung, Lust am Rätsel und an Geheimnissen – vielfältige Antworten auf diese Frage sind denkbar und die meisten davon in Variationen auch oft gesagt. Anthony J. Quinn hat eine etwas ungewöhnlichere Geschichte zu bieten: Er kam über die Natur zum Krimi. Landschaft ist alles für ihn, sagt er. 40.000 Worte über den Lough Neagh brauchte der Quinn, bis er realisierte, dass kein Verlag einen Landschaftsroman über das Gewässer um die Ecke publizieren würde. Mag sein Anblick auch noch so beeindruckend sein. Also habe er seinen ersten Protagonisten in Kapitel Eins ums Leben gebracht und den zweiten zu einem Ermittler gemacht. Der Krimiautor war am Start: Nature Writing mit Leichen. 

Egal, ob das nun die tatsächliche Geschichte ist oder einfach nur eine gut erfundene, wahr ist sie auf jeden Fall: Selten hat man Genreliteratur gelesen, in der die Landschaften, die Flora und Fauna, das Wetter, die Erde, das Wasser, die Natur also, eine so zentrale und bedeutende Rolle gespielt hätte wie in „Auslöschung“, dem ersten Celsius Daly-Band. Und die Natur ist hier nicht bloß Ausstattung und Staffage, ein Mittel, um Stimmungen und Atmosphäre zu transportieren. Sie ist ein alles entscheidender Faktor: von der Jagd-Situation des ersten Mordes über viele (mehr oder minder neblige) Stationen der Ermittlung bis hin zu den Verschwundenen, die am Ende möglicherweise aus dem Morast gegraben werden, der sie jahrelang barg. Extrem beeindruckend, auch in der Übersetzung übrigens, wie opulent, vielfältig, vielfältig und lebendig Anthony J. Quinn das blubbernd, zischend, prasselnd, fauchend, dräuend in Szene zu setzen weiß: Nature Writing vom Feinsten, mit oder ohne Leichen. 

An dieser Stelle eine Einladung zu einer kleinen Zeitreise: „Disappeared“ ist im Original im Jahr 2012 erschienen, man darf annehmen, dass der Text 2010/2011 entstand. Also gut zehn Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, das den Nordirlandkonflikt mehr oder minder befriedete – und gleichzeitig gut zehn Jahre vor dem Brexit, der insbesondere auch die Frage aufwirft, welche Wirkung dieser Austritt Großbritanniens aus der EU an dieser fragilen, lang umkämpften Grenze haben wird: Wird das Abkommen halten, mehr oder minder? Oder wird der Konflikt wieder aufbrechen? „Auslöschung“ ist ein Roman zur Stunde in dieser Frage, denn seine Geschichte macht deutlich, dass es keine zeitliche Grenze gibt, die einen solchen Konflikt mit einem Abkommen ganz und gar enden ließe, die Prägungen und Wirkungen und die Traumatisierungen wirken und schwelen weiter, Dynamiken wie ein Blubbern im Moor, was mag da nach oben drängen, die Zeit heilt keine Wunden. Dann zumindest nicht, wenn nicht jemand wie Celsius Daly für Aufklärung sorgt. Aber was heißt das schon? Und wer weiß, welche Kräfte jenseits dieses einen Falls von Klärung unbemerkt noch weiter wirken? Das Licht ist trügerisch, der Nebel kann jederzeit wieder aufziehen.

2012 bis 2021: Was alles passiert ist in diesen Jahren! Eine Seuche, die die Welt lahm legt. Trump – und der neue Nationalismus auch in Europa. Eben, der Brexit. Die Klimakrise und mit ihr, ja, die große Renaissance des Nature Writing. Manchmal dauert es, bis Romane übersetzt werden, manchmal sind sie trotzdem topaktuell. Beziehungsweise: gerade deswegen. Anthony J. Quinn ist mitten in der Zeit und seiner Zeit voraus. Er scheint einen Riecher für Kommendes zu haben. Und jetzt die Lottozahlen!, würde man ihm gern zurufen, wüsste man nicht, mit Celsius Daly, dass es zwar für einen romantischen Moment, nicht aber für den Hauptgewinn reicht, wenn jemand bedauerlicherweise bloß die ersten vier dieser Zahlen träumt. Interessant übrigens auch, bei der Gelegenheit, dass einer der zentralen Charaktere unter einer fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung leidet, was für den Plot nicht ganz unerheblich ist – ein dicker Trend im Krimi der letzten Zeit, 2012 war das sicher nicht zu erahnen, Chapeau Mr. Quinn.

„Einer nach dem anderen verschwanden seine Gedanken, seine Erinnerungen, als würde ein innerer Nebel sie verschlucken. In ihm war nur noch Stille, während er dastand und die feuchte Morgenluft einatmete.“ David Hughes irrt durch die Gegend, und er irrt durch sein Bewusstsein. „Es war früher Morgen, und er war auf einer Straße, die er schon sein Leben lang kannte. Doch jetzt war er am Ende seiner selbst angekommen. An dem Punkt, an dem der Rest der Welt kippt und ins Vergessen gerät.“ Die Krankheit hat sich längst in sein Wesen geschlichen, hat sein Hirn vernebelt, wie die Landschaft, in der er mit diesen Symptomen gegen Ende seines Lebens nicht mehr zu Hause sein kann. „Sein Verstand glich einem Haus, in das mehrmals eingebrochen und aus dem immer mehr Erinnerung gestohlen worden war. Es waren völlig unvorhersehbare, brutale Übergriffe. Einige seiner wichtigsten persönlichen Besitztümer waren verschwunden, Schubladen ausgeräubert, Möbel umgekippt und zerschlagen, während andere Dinge seltsamerweise gänzlich unberührt geblieben waren.“ Was für starke Bilder! Und zugleich dann Szenen wie die am See, in der Hughes und sein „Besucher“ auf Fealty treffen, der sie töten will, aber im wabernden Weiß kein Ziel ausmachen kann, eine der einprägsamsten Sequenzen des Buches – auch, weil es seine Essenz enthält: Die Unklarheit, das Fragwürdige, das Vielschichtige, das Unbewusste als Gegenpart zur Vereindeutigung, die immer willkürlich ist. Grenzen? Ein Konstrukt, gibt es nicht. Nicht in der Natur, die natürlich auch den Menschen ausmacht. Nur eine Vereindeutigung ist legitim: Die der Klärung, die der Ermittlung also. Und selbst sie lässt am Schluss, wenn der Vorhang schließt, allzu viele Fragen offen.

„Auslöschung“ ist ein Roman über den Konflikt der irisch-irischen Grenze, mit Blick auf die Spuren in den Leben der Menschen in der Gegend, so viel ist immerhin klar. Oder doch nicht? Anthony J. Quinn vollbringt das Kunststück, den Begriff „Grenze“ in seinem Roman über diese Grenze im Prinzip nicht zu verwenden: Nur ein gutes Dutzend mal nutzt er Worte, die „Grenze“ enthalten, meist im Sinne von „eingrenzen“ oder „Grenze zwischen Tag und Nacht“ – „die Grenze“, um die es letztlich bei allem geht, spielt nur sehr beiläufig eine Rolle, die Geschichte fokussiert sich ausschließlich auf die Wirkungen ihrer Grenzziehung. Das ist natürlich ein Statement und steht für sich. Es weist in seinen Assoziationsspielräumen aber auch über das Kernthema des Nordirlandkonflikts hinaus. Denn auch das ist uns in den letzten Jahren ja allzu deutlich vor Augen geführt worden, im Grunde genommen weltweit: Welche Bedeutung solche Grenzen und Grenzziehungen haben und welche Willkür für Menschen diesseits oder jenseits dieser Grenzen einher geht; das reicht von den Folgen der Grenzsetzungen am Ende der Kolonialzeit, die bis heute allerorten Politik bestimmen, bis hin zu Migranten, die auf der Suche nach einem besseren Leben in den Weltmeeren ertrinken. Grenze – das ist eine Frage von Leben und Tod, häufig in großartigen Landschaften übrigens, Anthony J. Quinn erzählt eine Geschichte auch dazu.

Eine fantastische Landschaft, darin eine Grenze. Menschen, die meisten unauffällig und älter, sie tragen den Grenzkonflikt in sich, Schuld und Verantwortung. Die Literatur erzählt ihre Geschichten, sie erledigt das, woran der Journalismus scheitert, jenseits der Stereotypen also. Die Zeit heilt keine Wunden, der Konflikt schwelt weiter, auch in der Hinsicht sind Grenzen eine Illusion. Im Zentrum eine Junge, für ihn wenigstens gibt es ein wenig Hoffnung; dann zumindest, wenn er Antworten bekommt. Sofern er überlebt. Der Junge will nur wissen, wo sein Vater begraben ist, mehr nicht. Der Vater, der nie da war, den die Grenzlandschaft schluckte. Der Junge wühlt alles wieder auf. Schuld und Verantwortung – und Verbrechen. Wie ließe sich davon erzählen, wenn nicht mit den Mitteln der Kriminalliteratur? Noir Nature Writing also – mit Toten und mit Überlebenden.

Anthony J. Quinn: Auslöschung (Disappeared, 2012). Aus dem Englischen von Sven Koch. Polar Verlag, Stuttgart 2021. 424 Seiten, 14 Euro.

„Ein schwieriger Ort zu leben, großartiges Futter für einen Schriftsteller“

Ein Interview mit Anthony J. Quinn

Die Grenze ist ein Ort des Verbrechens. Insbesondere in Irland. Die Wunden des Nordirlandkonflikts sind längst nicht alle verheilt, die Konflikte nicht aufgearbeitet, da droht durch den Brexit neues Unheil, sagt der Schriftsteller Anthony Quinn: „Das ist, als wäre die Grenze wieder vom Himmel gefallen.“ Hoffnung macht ihm das Erzählen, die Literatur, das Schreiben. Denn hier wird den binären Setzungen Wahrheit in all ihrer Differenziertheit entgegen gesetzt. Oder zumindest: die Suche nach so etwas wie einer Wahrheit. „Geschichten könnten uns retten, wenn wir jetzt durch die unruhigen, prekären Jahre des Brexit stolpern.“

Es gibt viele gute Gründe, Krimiautor zu werden. Bei dir spielte die Landschaft eine zentrale Rolle. Warum das?

Für mich war das Schreiben immer in erster Linie, über Landschaft zu schreiben. Obwohl ich Krimis mit starken Noir-Tönen schreibe, sind meine Bücher von der Suche motiviert, den Geist des Ortes in Nordirland nach dem Konflikt zu verstehen. Manchmal ist die unerforschteste Landschaft das Gelände, das der Heimat am nächsten liegt. Ich wollte die Landschaft, in der ich aufgewachsen bin und die ich liebte, annehmen und ihrer Schönheit gerecht werden. Ich wollte auch dem Geist der Menschen Tribut zollen, die dort leben und die während des Nordirlandkonflikts eine außergewöhnlich schwierige Situation durchgemacht haben.

Was ist das für eine Landschaft?

Die irische Landschaft, die ich kenne und liebe, hat eine eigene Geographie von Stimmungen, eine Verflechtung von Dunkelheit und Licht, die ich immer wieder faszinierend finde. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Beschreibungen Ähnlichkeit mit dem haben, was tatsächlich da draußen ist, oder ob jemand anderes bemerkt, was ich sehe. Vielleicht spiegeln sie eher eine Region meines Geistes. Das Setting steht für mich immer an erster Stelle, und es prägt Charaktere und Handlungen. Im Herzen bin ich ein verhinderter Dichter, und meine Muse ist Nordirland – seine gurgelnden Moore, sein gefrorenes Dickicht aus Dornenbäumen, seine Nebel, die vom Lough Neagh hereinwirbeln.

Der Lough Neagh ist dabei sowas wie ein Epizentrum …

Tatsächlich war das erste Buch, das ich schrieb, ganz um Lough Neagh herum angesiedelt, und nach ungefähr 40.000 Wörtern wurde mir klar, dass dies ein Buch war, das niemand jemals veröffentlichen würde, weil es nur um Schlamm und Regen ging. Also habe ich meinen ersten Charakter in Kapitel eins getötet und dann meinen zweiten zum Detektiv gemacht, und so ging´s los mit meiner Karriere als Kriminalschriftsteller.

Warum ist „Krimi“ eine gute Möglichkeit, über die nordirische Gesellschaft und ihre Grenzkonflikte zu schreiben?

Als jemand, der sein ganzes Leben lang in der Nähe der irischen Grenze gelebt hat, denke ich, dass die pessimistischeren und Noir-artigen Formen der Genreliteratur besonders gut geeignet sind, um über die Probleme und die Grenzkonflikte zu schreiben. Die Welt meiner Kriminalromane ist in der Regel eine Landschaft voller Angst, die voller Geheimnisse und ungelöster Verbrechen ist. Diese amorphen Verschwörungen sorgen für ein düsteres Terrain, das von vereitelten Detektiven und Wahrheitssuchern bevölkert wird, die auf ihrer Suche um Klärung und Gerechtigkeit ringen.

Eine Suche nach Wahrheit?

Herkömmliche Kriminalromane basieren auf der Vorstellung, dass unabhängig vom Verbrechen, egal wie klug oder mächtig der Täter und wie dunkel das Geheimnis ist, die Wahrheit immer herauskommt. Noirs sind pessimistischer, da ist die Wahrheit oft ein fernes Ideal. Was als Wahrheit gilt, kann subjektiv und temporär sein. So kommt man dem Verstehen der Probleme und Konflikte näher als anders.

Ist das auch eine persönliche Angelegenheit?

Was meine Romane nicht erzählen können, ist mein Kampf als Krimiautor, die wahre Geschichte der Gesellschaft zu erzählen, in der ich aufgewachsen bin, als Zeuge, der dort war, aber die Wahrheit über das, was geschah, nicht kannte oder verstand. Erst jetzt kann ich Fragmente der Wahrheit sammeln – in einer Landschaft voller emotionaler Erinnerungen, aber nur wenige nachprüfbarer Fakten.

Mein Eindruck ist, dass „Natur“ dabei viel mehr ist als nur ein Hintergrund oder etwas Atmosphärisches. Sie spielt dramaturgisch eine zentrale Rolle.

Als Ire ist Landschaft für mich viel mehr als nur Geografie. Es ist ein Teil meiner kollektiven Identität. Es ist auch ein Fenster in die Seele eines Landes und seine unruhige Geschichte. Von Anfang an wollte ich eine Landschaft schaffen, die die emotionale Ebene des Plots und das drohende Gefühl der Bedrohung vermittelt. Ich wollte auch, dass es erkennbar irisch ist. 

Das ist ja dann, sagen wir, nicht immer nur romantisch und hübsch.

Es ist mir ein Vergnügen, die LeserInnen auf die Seltsamkeit der nordirischen Landschaft aufmerksam zu machen und sie an einem grausam aussehenden Schwarzdornbaum, einem verrottenden Häuschen oder einem tückischen Moor schaudern zu lassen. Ich wollte, dass die LeserInnen die dunkle Schwerkraft der Grenzlandschaft spüren, ihre ineinandergreifenden Pfarreien der Trauer, ihr Netz aus kurvenreichen Straßen, das Gefühl, dass sich dort draußen inmitten des Schwarzdorndickichts und der wirbelnden Nebel immer noch lose Teile der Vergangenheit wie Schatten durch die Landschaft schlängeln.

Also – Nature Noir? Nature Writing mit Leichen?

Ja, und ich möchte mich immer bei den Lesern für die Leichen entschuldigen. Wenn meine Leser über die Leichen hinwegkommen, werden sie hoffentlich eine mysteriöse und doch auch stimmungsaufhellende Landschaft finden, um ihre Fantasie zu inspirieren. Wie gesagt: Ich mag es besonders, über Lough Neagh zu schreiben. Es ist der größte Süßwassersee auf den britischen Inseln, aber seine Landschaft scheint eine der am wenigsten geschätzten Aussichten auf diesen Inseln sein, eine Leere im Inneren Nordirlands. Sein Wasserstand sank vor etwa fünfzig Jahren und wurde aus der Sicht der örtlichen Straßen und Aussichtspunkte entfernt. Dies könnte einer der Gründe für seine versteckte und verquere Schönheit sein. Im Winter ist es oft in Nebel gehüllt, was dazu beiträgt, dass es sich in sich selbst zurückzieht.

Ein Ort zwischen Traum und Realität?

Der See fühlt sich auf jeden Fall wie ein Ort an, der nur der Phantasie zugänglich ist, und ich dachte, es könnte eine nützliche Metapher für die verborgenen Geschichten der Probleme sein, die Amnesie, die hier mitten im Leben nach dem Konflikt aufgetreten ist, die Leere im Herzen des Friedensprozesses, die Notlage der Opfer und ihr Streben nach Gerechtigkeit, die ungeklärten Morde, die stillschweigend aus dem Blickfeld entfernt wurden.

Etwas sehr Menschengemachtes in dieser Landschaft ist die Grenze. Welche Rolle spielt sie für Dein Schreiben?

Die Grenze hat in meinem Leben und in meinem Schreiben eine zentrale Bedeutung. Ich bin ungefähr drei Meilen von der Grenze entfernt aufgewachsen und sie ragte in meiner Kindheitslandschaft hervor, einer Zone der Festung und der bewaffneten Soldaten, mit einer Atmosphäre von Omen, Finsternis und Tragödie. Die Grenze markierte eine große Lücke zwischen Nordirland und Südirland. Nach meiner Vorstellung existierte der Rest Irlands als verlorene oder geheime Welt jenseits der Dunkelheit der Probleme, außerhalb der Reichweite der stürzenden Präsenz von Militärhubschraubern und der lauernden Präsenz von Soldaten.

Welchen Einfluss hat diese Grenze auf die Lebensgeschichten der Menschen?

Mein Großvater und sein Bruder John und Thomas Daly waren ungefähr in dem Alter, in dem meine Töchter jetzt sind, als die irische Grenze 1921 geschaffen wurde und Nordirland von der Republik Irland trennte. Sie bewirtschafteten die Felder, auf denen ich jetzt lebe, und ich erinnere mich, dass ich als Kind fast jeden Tag ihre kleinen Hütten besucht habe. Sie waren fromme Gottesmänner und widmeten alles, was sie taten, ihrer Familie und ihrem katholischen Glauben. In ihrer Jugend waren sie aber auch an illegalen Schmuggelaktivitäten über die irische Grenze beteiligt. Bevor sie starben, erzählten sie ihre Geschichten über den Schmuggel mit einem Gefühl von Schuld und Trauer.

Also: Gelebter Widerspruch – aus Notwendigkeit?

Dass diese äußerst sanftmütigen und religiösen Männer zu solch gewagten Gesetzesverstößen hätten fähig sein können, war Teil der verzerrenden Logik des Grenzlandes. Auf ihre Weise waren mein Großvater und mein Großonkel Teil eines stillen Krieges gegen die Grenze, der von Töchtern und Ehefrauen, Ehemännern und Söhnen im umstrittenen Gebiet von Ulster geführt wurde. Die Menschen ihrer Generation bewegten Vieh, Tee, Butter, Zucker, Alkohol und Tabak, alles, was einen ausreichenden Preisunterschied oder eine ausreichende Knappheit aufwies, um den Schmuggel das Risiko wert zu machen. Dieser schleichende Kampf um die Kontrolle dauerte Jahrzehnte – bis die Troubles den Kampf auf eine neue und dunklere Bühne führten.

Diese Grenze war also nicht nur eine Grenze – sondern so etwas wie ein lebenslanger Einschnitt?

Der Schmuggel meines Großvaters war ein Symbol, dessen Umfang nicht klar definiert werden kann. Genauso wie das Ausmaß der Gesetzlosigkeit entlang der Grenze und die Art und Weise, wie die Teilung von 1921 die Katholiken Nordirlands abdriften ließ. Die Generation meines Großvaters hatte ihr Leben wie gewohnt fortgesetzt, aber viele von ihnen blieben ohne Bindung an die Gerichtsbarkeit oder ein staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein. Und die aufdringliche Bürokratie an der Grenze führte dazu, dass sie sich rebellisch fühlten. Sie fühlten sich ermutigt, sich wie Gesetzlose zu verhalten. Das Leben war hart und die Versuchung, von der Grenze zu leben, war zu groß. Was war die Schande bei einem kleinen Schmuggel, bei dem vorübergehende wirtschaftliche und steuerliche Unterschiede oder eine Lücke in den Vorschriften ausgenutzt wurden?

Grenzen und Krimi, das kann eine ganz schön konstruktive Kombi sein, oder?

Auf jeden Fall. Ich scheue zurück, darüber nachzudenken, was das fein abgestimmte Gewissen meines Großvaters von der ganzen Illegalität gehalten hätte, die die Grenze über die Jahrzehnte dann hervorgebracht hat – dem Massenschmuggel von Treibstoff, dem Betrug mit EU-Agrarsubventionen, den illegalen Deponien und dem Menschenhandel, dem Vertrieb von kontaminierten Fleisch aus illegalen Schlachthöfen, den zweifelhaften Immobiliengeschäften. Ganz zu schweigen von den Schieß- und Bombenkampagnen der IRA. Ich habe diese Verbrechen durch meine Kriminalromane verfolgt; die Fäulnis, die aufgrund der Grenze in die Gesellschaft kam, den moralischen und zivilen Niedergang, der zu Zeiten meines Großvaters begann und sich seitdem beschleunigt hat. Die Grenze war mehr als nur Kontrollpunkte, befestigte Polizeistationen und eine plötzliche Verschlechterung der Straßenoberfläche. Sie stand für eine Verzerrung der Psyche und der moralischen Perspektive.

Im Original wurde der Roman im Jahr 2012 veröffentlicht. Lange vor dem Brexit also. Wie haben sich die Dinge in deiner Wahrnehmung seitdem entwickelt?

Für die katholische Bevölkerung Nordirlands war der Brexit eine Katastrophe. Die Europäische Union war ein Weg, unsere Ängste um Identitäten und Grenzen aufzulösen. Wir werden kulturell, wirtschaftlich und politisch so viel verlieren.

Und wie ist die Situation jetzt?

Es gibt eine starke Medienwahrnehmung, dass die Grenzbezirke Irlands weiterhin unbewohnbare und rückständige Orte sind, an denen immer noch gewalttätige Männer lauern und illegale Schmuggel- und kriminelle Netzwerke betreiben, und dass der Brexit die Dinge noch viel schlimmer machen wird. Bis zu einem gewissen Grad ist das wahr. Die irische Grenze wird immer ein Treffpunkt für Schmuggeloperationen und Kriminalität sein. In gewisser Weise gab es nie eine „harte Grenze“ zwischen der Republik und Nordirland im Sinne einer statischen Linie oder Barriere. Stattdessen hat die Grenze als etwas viel Unruhigeres und Durchlässigeres existiert, als eine verschwommene Zone von Sackgassen und flüchtigen Korridoren, die Kriminellen, Polizisten und den einfachen Menschen, die versuchen, pragmatisch in ihrem Schatten zu leben, unterschiedliche Begrenzungen und Möglichkeiten bieten. Es ist ein schwieriger Ort zum Leben, aber ein großartiges Futter für einen Schriftsteller.

Nochmal zurück zur Frage der Wahrheit. Die Konflikte enden nie. Zumindest, wenn nicht offen darüber gesprochen wird. Sie interessiert sich nicht für Strafe und Gerechtigkeit, sagt Tessa einmal – ihr geht es nur um die Wahrheit …

Die Wahrheitsfindung ist ein wichtiger Teil der Genesung Nordirlands. Bis zu einem gewissen Grad dauerten die Troubles viel zu lange, aber sie endeten zu schnell. Viele Familien streben immer noch nach Gerechtigkeit und suchen in einigen belastenden Fällen immer noch nach den Leichen ihrer Angehörigen. Wir hatten keine Wahrheitskommission in der Art der Post-Apartheid-Gesellschaft in Südafrika. Immerhin: Wir hatten eine Menge Krimis, die sich mit dem Erbe des Nordirlandkonflikts befassten.

Also – die Literatur als eine Art Wahrheitskommission?

Die Wahrheit kann vielleicht nur durch das Geschichtenerzählen gesichert werden, und im Kontext des Konflikts kann Fiktion eine Darstellung von Recht und Unrecht, Kriminellen und Opfern, Gerechtigkeit und Bestrafung liefern. Eine, die nicht schwarz/weiß gezeichnet ist. Die Geschichte des Konflikts, die ich in meinen Inspector Celsius Daly-Romanen zu präsentieren versucht habe, ist eine Geschichte tragischer Leben, verpasster Möglichkeiten für Gerechtigkeit und zerrissener Identitäten, die durch störende Erinnerungen belastet sind. Der fehlerhafte, aber konventionelle Detektiv, den die Romane erzählen, ist einer, dessen emotionale Narben ihn in dem Kontext hoffentlich zu einer sympathischen Figur machen. Ich hoffe, dass die Leser, insbesondere diejenigen, die mit zivilen Konflikten und Grenzen vertraut sind, sich mit ihm beschäftigen und einen deutlichen Appell spüren an vergrabene Erinnerungen und das, was noch im Dunkeln zurückbleibt.

Die Grenze ist der Kern von allem. Kann man so eine Grenze eigentlich auch irgendwie neu erfinden – in Geschichten?

Die Grenze ist eine einsame Linie auf einer Karte, aber es ist auch eine Geschichte, die Geschichte von uns, die wir in ihrem Schatten leben, eine Geschichte, die von persönlichen und kulturellen Erinnerungen durchdrungen ist. Es ist eine Geschichte, die wir in uns und zwischen uns teilen und die uns als vom Rest der Menschen auf den britischen Inseln getrennt kennzeichnet. Je mehr ich schreibe und mit anderen Schriftstellern interagiere, desto mehr sehe ich, dass Geschichten eine Art der Zugehörigkeit und Beziehung sind, ein gemeinsamer Boden, auf dem sich Worte und Gedanken niederlassen und interagieren und sich in eine Kraft verwandeln können, die Grenzen stürzen könnte. Das Geschichtenerzählen hilft uns, Wege zu finden, menschlich zu sein und mit Außenstehenden zu interagieren. Der irische Schriftsteller Michael Harding nennt Geschichten “ein Bauernhandwerk” und behauptet, dass “die Möglichkeit Europas in den Possen des Geschichtenerzählens geboren wurde”. Ich sehe die irische Grenze jetzt anders, als einen Umkreis, der sich um unsere Reisen und unser Leben organisiert, und nicht umgekehrt, dass unsere Reisen Geschichten sind, die von der Landschaft gezeichnet werden, und zwar genau wie frühere Generationen. Wenn wir uns dahin entwickeln, werden wir uns wieder in der irischen Landschaft zurechtfinden, die wir zu Hause nennen.

Diese Grenze ist letztlich ja eine willkürliche – menschliche – Konstruktion in der Landschaft. Lösen sich solche Grenzen auch in Landschaften auf?

Als Teenager, der so nahe an der Grenze aufgewachsen ist, wollte ich rennen und rennen und an einem helleren und sichereren Ort leben, aber als Erwachsener bin ich an Ort und Stelle verwurzelt geblieben. Ich lebe jetzt in der Nähe meines Geburtsortes mit meiner Frau Clare und unseren vier Kindern. Dadurch, dass ich hier geblieben bin und eine Familie gegründet habe, habe ich es geschafft, meine Kindheitslandschaft aus der Dunkelheit der Grenze und ihrer Vergangenheit zu heben. Die Bäume und Flüsse, bei denen ich als Junge mit meinen Brüdern und Schwestern gespielt habe, leben in der Welt meiner Kinder weiter. Aber anders. Ihre vertrauten Klänge und Bilder wurden in neue Geschichten und Abenteuer übersetzt.

Verstehen deine Kinder diesen Unterschied?

Meine Kinder glauben, ich sei woanders aufgewachsen, in einem düsteren Gelände mit Kontrollpunkten und militärischer Ausrüstung, bewaffneten Männern in Tarngrün, kugelsicheren Westen und Sturmhauben. Für ihre Generation existierte die Grenze nicht als Linie auf einer Karte, sondern als widersprüchliche Reihe romantischer Erinnerungen an Schmuggel und Horrorgeschichten aus den Unruhen. Sie hatten die Grenze, die so unsichtbar nahe an ihrem Leben lag, nie bemerkt und sie hatten diese Geschichten nie in ihrer eigenen Landschaft finden können. In den letzten 15 Jahren existierte die Grenze mehr als Folklore und in den Spalten der Vergangenheit, bis ihre Geschichte im Juni 2016 eine unerwartete Wendung nahm, als Großbritannien für den Brexit stimmte. Dann war es, als wäre die Grenze plötzlich wieder vom Himmel gefallen.

Wie schaust du in die Zukunft? Werden diese Grenzgeschichten jemals welche aus der fernen Vergangenheit sein?

Wenn ich von meinem Zuhause in Tyrone nach Süden zu den hohen dunkelblauen Hügeln schaue, die die alte Grenze und die Republik Irland quälend verbergen, denke ich an die neue Grenze, die sich dem Brexit nähert und die seit mehreren Jahren im Gange ist, aber immer noch geheimnisvoll bleibt. Ich fürchte mich, an die neuen Verbrechen zu denken, die in ihren Schatten auftauchen werden. Ich hoffe aber auch, dass wir durch das Sprechen und Erzählen von Geschichten die Vergangenheit besser verstehen und die Spaltungen in der nordirischen Gesellschaft heilen können. Im Gegensatz zu Politik – und Grenzen – vereinfachen Geschichten nicht zu sehr in binäre Setzungen. Sie erinnern uns daran, dass niemand jemals das letzte Wort hat. Geschichten könnten uns retten, wenn wir jetzt durch die unruhigen, prekären Jahre des Brexit stolpern.

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