
Digitürliche Aussichten
Es ist schon viele Jahre her, als wir in die Alpen zum Schifahren fuhren, oben, nahe am Gipfel sah man diese riesige Bergstation mit Restaurant, Hotel, Geschäften und Schikurs-Terrain. Das war noch im vorigen Jahrhundert, und meine Freundin, weder ökologisch noch religiös gepolt, fragte sich und mich, ob diese Beschädigung von – an diesem Ort so besonders imposanter – Natur, nicht doch, auch ohne Religion, Sünde sei. Inzwischen haben wir uns an derlei gewöhnt, und wir genießen den Espresso gleich nach dem Ausstieg aus der Gondel.
Alltag, Gewohnheiten und Gerüche ändern sich mit den Umständen, auch Sehnsüchte waren nicht immer die gleichen, sie werden sich modifizieren, wenn die Natur nicht mehr natürlich ist. Romantische Gemüter können sich zu Weihnachten oder Geburtstag (falls man so etwas noch feiert) eine dieser schweren Brillen wünschen, mit denen sie sehen können, wovon sie gehört oder gar gelesen haben und das bald verschwinden wird: Wälder, Wiesen, unberührte Bergwelt mit hüpfendem Getier … wenn nicht noch ein Wunder geschieht.
Es ist alles schon da: schöne Filme, in denen die Kamera über hinreißende Landschaften fährt, Hunderte, ja Tausende Fotos von Tieren und prächtigen Bäumen, durch deren Kronen die Sterne blitzen. Es gibt Musik, die das Quaken der Frösche und das Zirpen der Heuschrecken mit Vogelgesang mischt. Zum Runterladen oder direkt aus den Kehlen von Amsel, Drossel, Fink und Star – aus Silikon. Künstliche Duftstoffe imaginieren Rosen und Harz; insektengroße Drohnen schwirren schon durch die Lüfte und Kids unterscheiden kaum zwischen realer und virtueller Welt. Naturaffine Großeltern werden dem Nachwuchs demnächst pädagogisch wertvolle Videogames mit Panoramabildschirm schenken, die sie selbst gerne ansehen, womit sie nebenbei die Aufsichtsprobleme erleichtern. Bestimmt lassen sich virtuelle Erlebnisse besonders gut dort genießen, wo einst ein Wald stand, ich stelle mir vor, dass es eine Gedenktafel für die Ameisen und Borkenkäfer oder eine kleine Statue mit Eichhörnchen geben wird, vielleicht werden Stationen mit museumspädagogisch interaktiven Spielen eingerichtet, damit der Nachwuchs nicht nur die Augen bewegt.
Schon die Romantiker hatten sich ihr Mittelalter erfunden, um Sehnsüchte nach einer schöneren Welt zu befriedigen. Automatische Webstühle und Eisenbahnen machten vielen Menschen Angst, das Tempo war bedrohlich, der Verzicht auf Pferdefuhrwerke unvorstellbar. Der Duft von Kuhfladen, das Meckern der Ziegen, Hunderte Schmeißfliegen und Tausende Schnaken, sie sind nicht mehr um mich … oder ich muss weit weg fahren, um dieses Natürliche noch zu erleben.

Irgendwie wird es weitergehen, auch wenn Insekten sterben und Früchte nicht mehr von Bienen bestäubt werden. Wir können es uns noch nicht vorstellen. Die Worte „Natur“, „natürlich“, „echt“, „authentisch“ gehören ja zu den beliebtesten Vokabeln junger Menschen – und junger Werbeagenturen. Sie werden die Natur neu erfinden, anders, kühner, bunter, animiert. Umbrüche haben stets neue Begriffe und veränderte Wahrnehmung hervorgebracht, z.B. als der Ackerbau nicht mehr die selbstverständliche Lebensgrundlage war. Kunstnatur, Naturnatur oder knatürliche Kunastur oder Digitur wird so gewöhnlich werden, wie seinerzeit die Erziehung, als Kinder die Gefahr vor rasenden Autos und nicht mehr die vor wilden Tieren lernen mussten. Die Spezies hat sich an vieles gewöhnt, der Gestank von Abgasen und Hundescheiße allüberall gehören seit Jahren zur großstädtischen Natur, und vielleicht wird es angenehmere Duftstoffe geben, wenn die Hundchen elektronisch gesteuert und nur virtuell gefüttert werden. Ein großer Teil der Zweibeiner sind jetzt schon Cyborgs, angeschlossen an Rechner, von denen sie sich nicht trennen können.
Automaten brauchen keine Natur. Oder doch? Bei Karel Čapek entdecken schließlich Roboter, nachdem sie ihre menschlichen, und das heißt unmenschlichen, Unterdrücker besiegt haben und die Macht übernahmen: Natur, Schönheit und Liebe. Weshalb ich diesen Beitrag mit einem Werbespot für das Projekt meines Freundes Edgar schließe: GoBugsGo.
Hazel Rosenstrauch

- Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
- Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.
- Gerade erschienen: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.