Geschrieben am 9. November 2013 von für Bücher, Crimemag, Porträts / Interviews

Alf Mayers „Blutige Ernte“: Tom Rob Smith: Ohne jeden Zweifel

Ohne-jeden-ZweifelFamilienbande

– Kenne ich meine Eltern überhaupt? Diese Frage stellt sich Daniel, der Ich-Erzähler in Tom Rob Smiths Thriller „Ohne jeden Zweifel“ explizit auf Seite 150. Zuvor schon war Stück für Stück seiner verbürgten Wahrnehmung von Familienrealität zersplittert – und damit natürlich von Realität überhaupt. Mit einem Anruf seines Vaters fing es an: „Deine Mutter … Es geht ihr nicht gut … Sie bildet sich Dinge ein – wirklich schlimme Dinge … Deine Mum ist im Krankenhaus. Ich musste sie einweisen lassen …“ Seine Eltern leben in Schweden, wollten sich dort auf einem Bauernhof zur Ruhe setzen. Auf seinem Computer geht der Sohn die Mails der letzten Monate durch, die letzte Nachricht seiner Mutter bestand aus einem Wort: „Daniel!“

Über dieses eine Wort wird er noch öfter sinnieren. Ein Hilferuf. Daniel, der eigentlich seinen Eltern dringend mitteilen will, dass er mit einem Mann zusammenlebt, bucht gerade einen Flug nach Schweden, als ihn sein Vater erneut anruft, seine Frau sei gerade entlassen worden und verschwunden. Als das Telefon erneut klingelt, ist es seine Mutter, die zu ihm nach London unterwegs ist. Er bringt sie in einem Hotel unter, sie hat Dokumente und Beweisstücke dabei, darunter das Tagebuch einer Frau, die vor hundert Jahren auf dem Hof gelebt hatte. All das hängt mit einem in die Gegenwart weisenden Vorfall vom Sommer 1963 zusammen, als eine Freundin ums Leben kam und mit dem Umfeld in Schweden. Kein schönes Bild, was sich da in der ländlichen Idylle entblättert. Es geht um Missbrauch in größerem Stil, um Sex auf einer Insel in Tränenform, um miteinander verschachtelte Geheimnisse – und immer wieder um die Brüchigkeit des Bodens unter der Realität.

Hierzu ein Dialog zwischen Sohn und Mutter aus der Mitte des Buches, die Achterbahnfahrt ist da noch längst nicht zu Ende:

„Vierzig gemeinsame Jahre können doch nicht in ein paar Monaten in die Brüche gehen.“
„Das kann noch viel schneller gehen. Du sehnst dich nach Sicherheit, Daniel. Das hast du immer. Aber ich sage dir mal was. Es gibt keine Sicherheit. Eine großartige Freundschaft kann an einem Abend weggefegt werden, ein Geliebter kann sich durch ein Eingeständnis in einen Feind verwandeln.“
In gewisser Weise war das eine Warnung – das Gleiche würde mit uns geschehen, wenn ich ihre Geschichte nicht glaubte. Sie sagte:
„Dein Vater und ich spielten uns gegenseitig etwas vor. Ich tat, als wüsste ich nichts von der Träneninsel. Er tat, als hätte er nicht gemerkt, wie weit meine Nachforschungen mittlerweile gingen.“

„Kind 44“: Mit 29 einen Weltbestseller

„Ohne jeden Zweifel“ ist Tom Rob Smiths vierter Roman, ein Schritt für ihn in eine neue Richtung nach der Thriller-Trilogie mit Leo Demidov. Im April 2008 war ihm mit seinem Debüt „Child 44“ (Kind 44) ein formidabler Coup gelungen: ein elektrisierender Thriller aus der Stalin-Zeit. Aus einem Land, in dem der Tod nur ein Flüstern entfernt war, in dem es offiziell kein Verbrechen gab und geben konnte; die Behauptung, es gäbe so etwas, wiederum schon ein solches. Ein Land, in dem aber Kinder verschwanden. Viele. Tom Rob Smith transformierte die Serienmorde des ukrainisch-russischen Andrei Romanowitsch Tschikatilo, der von 1978 bis 1990 mindestens 53 Menschen auslöschte, sehr effektiv in ein traumatisiertes Nachkriegsrussland, erfand im idealistischen MGB-Offizier Leo Demidov und seiner Frau Raissa ein interessantes Heldenpaar, dessen innere Dynamik dann auch noch die in den Spannungsbögen leider abbauenden Folgebände „The Secret Speech“ (Kolyma, 2009) und „Agent 6“ (2011) befeuerte.

Unvergessen blieben mir die erste Sätze in „Child 44“:

„Since Maria had decided to die her cat would have to fend for itself. She’d already cared for it far beyond the point where keeping a pet made any sense. Rats and mice had long since been trapped and eaten by the villagers …“

Der Erstling erhielt weltweites Lob. Der abgebrühte Otto Penzler schwärmte, „Chinatown“-Drehbuchautor Robert Towne sah „le Carré at his best“, Lee Child meinte: „An amazing debut – rich, different, fully formed, mature … and thrilling.“ Tom Rob Smith war damals 29 Jahre alt.

„Kind 44“ wurde mit dem „Ian Fleming Steel Dagger“ der britischen Crime Writers’ Association (CWA) und der „International Thriller Award“ in der Kategorie Best First Novel der amerikanischen International Thriller Writers Inc. (ITW) ausgezeichnet. Es war auf der Longlist für den 2008 Man Booker Prize, wurde in 17 Sprachen übersetzt. Ridley Scott sicherte sich die Filmrechte, das Drehbuch schrieb Richard Price, Scott gab die Regie an Daniel Espinosa („Safe House“) ab, blieb aber Produzent des in diesem Jahr in Tschechien gedrehten Films (siehe auch das Interview weiter unten). Neben Tom Hardy („The Dark Knight Rises“) als Leo Demidov und Noomi Rapace (Lisbeth Salander in der Erstverfilmung von Stieg Larssons Millenium-Trilogie) wurden Gary Oldman als Vincent Cassel verpflichtet. Tom Hardy und Noomi Rapace sind auch in der ebenfalls abgedrehten Dennis-Lehane-Verfilmung „Animal Rescue“ ein Paar, Hardy wird 2014 auch als „Mad Max“ zu sehen sein.

KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERADie Puppe in der Puppe

Ein Wunderkind also, dieser Tom Rob Smith. Natürlich ist so etwas eine Hypothek. Ich kann verstehen, dass nach der großen historischen Leinwand und all den Breitwandeffekten politischer Thriller nun eine kleine intime Familiengeschichte für ihn Anziehungskraft besaß. Mich hat die Geschichte interessiert gehalten, weil ich die Anfangsprämisse ziemlich heiß fand, von der Idee her ein wenig Maxim-Biller-verdächtig. Ein relativ junger Autor, der seinen Erstling noch den Eltern widmete, lässt seinen Helden die ihm von den Eltern vorgelebte Welt zerlegen. Entweder muss da jemand sehr selbstbewusst und experimentierfreudig sein oder Rechnungen offen haben – nun TRS konnte mich im Interview beruhigen. „Es ist alles Fiktion“, lächelte er.

Tom Rob Smith hat ein Vexierspiel konstruiert. Seine Erzählform verlangt ein wenig, was man im Englischen „suspension of disbelief“ nennt, eine einigermaßen bedingungslose Gefolgschaft dem Erzähler gegenüber, das Beiseitestellen von Zweifeln, Aufklärungsverlangen und offenen Fragen. Es ist eine auktoriale Erzählweise, die wie im Hütchenspiel immer wieder neue Puppen in der Puppe hervorzaubert, die sich – bitte – am Ende zu einem großen ganzen Sinne fügen mögen. Smith erzählt das zum einen weitgehend in einer Sprache ohne Umschweife ‒ matter of fact, was sich im Englischen meist besser liest als in einer deutschen Übersetzung ‒, zum anderen bringt er mit Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Rückblenden, Einwänden anderer Romanfiguren und sogar einem Märchen andere Stimme ein, hat daran lange gefeilt, wie er im Gespräch bekannte. Die englische Originalausgabe des Buches, betitelt „The Farm“, erscheint übrigens erst im Februar 2014. Random House Germany durfte/musste/sollte mit dem Bestsellerautor TRS zuerst auf den Markt.

„Der Kern des Buches ist Familie“

Tom_Rob_Smith_202011Ein Interview mit Tom Rob Smith während der Buchmesse 2013 von Alf Mayer

Alf Mayer: Wie war es, der breiten historischen Thriller-Leinwand den Rücken zu kehren und eine eher intime Geschichte zu erzählen?
Tom Rob Smith: Aufregend war es. Neu. Und schwierig. Ich habe zwei Jahre an dem Buch geschrieben, immer wieder neu überlegt und angefangen. Es sind ja zwei Geschichten, die der Mutter und die des Sohnes. Das Knifflige waren dann auch die Verbindungen, wie sie sich verzahnen und ergänzen, wie sich die eine Geschichte aus der anderen erzählt. Es ist aufregen, wenn man weiß, dass man eine Geschichte erzählen will – und nicht weiß, wie man sie erzählen soll. Das ist eine Herausforderung.

AM: Worum geht es für Sie in diesem Roman?
TRS: Herauszufinden, wer man ist. Es geht um Erwachsen werden. Um Vertrauen. Um Familie. Der Kern des Buches ist Familie.

AM: Hat das in irgendeiner Weise mit Ihrer eigenen Familie, mit Ihren Eltern zu tun? Wenn ich das fragen kann.
TRS: Klar. Aber nein. Meine Eltern sind in keiner Weise so. Ich fand die Prämisse spannend: Ein Sohn bekommt einen Anruf, dass seine Mutter im Krankenhaus ist, und ab da gerät alles außer Kontrolle. Wie gewinnt er den Boden zurück? Was erwächst da aus der Dunkelheit? Daniel muss sich seine Familie plötzlich wieder neu zusammenfügen, auf einem viel dunkleren Grund. Es ist eine traurige Geschichte, eigentlich.

AM: Stimmt es, dass der Trailer zum Buch von Ihnen selbst stammt?
TRS: Sagen wir, ich habe daran mitgearbeitet. Und es hat Spaß gemacht. Die Atmosphäre, die ich wollte, kommt gut rüber, die Darstellerin der Mutter entspricht absolut meinen Vorstellungen. Isn’t she great?

AM: Sie sind filmaffin?
TRS: Oh ja (lacht). Ich liebe Film und ich liebe Fernsehserien. Manche Bücher sind zu umfangreich für einen Film, aber sie passen gut ins Fernsehen. Da gibt es erzählerischen Raum, Zeit für wechselnden Rhythmus, für allerlei Ideen. Ich bin gefragt worden, an einer Serie über Spione in London mitzuarbeiten. Da denke ich, steige ich ein.

AM: Wie weit ist die Verfilmung von „Kind 44“?
TRS: Ich war gerade bei den Dreharbeiten in Tschechien. Ridley Scott und sein Team machen eine fantastische Arbeit. Der erste Tag war surreal. (Tom Rob Smith zeigt mir Fotos auf seinem Handy, AM.) Sie haben in und um Prag unglaubliche Locations gefunden, all diese kommunistische Architektur, riesige Schauplätze. Nur eine einzige Szene wurde als Set gebaut, sonst sind das alles originale Orte, an denen gedreht wurde.

AM: Das Drehbuch, haben Sie daran mitgearbeitet?
TRS: Nein. Ich hatte die Option, aber ich wollte etwas anderes machen. Außerdem: Richard Price hat das Script Wgeschrieben. Er hat „Die Farbe des Geldes“ nach dem Roman von Walter Tevis für Scorcese geschrieben, fünf Folgen für „The ire“, hat seinen Roman „Clockers“ selbst fürs Kino adaptiert, was kann ich mir besseres wünschen?

AM: Und die Schauspieler, entspricht das dem, was ein Autor sich einmal vorgestellt hat?
TRS: Gary Oldman ist fabelhaft, er ist etwas älter und auch sympathischer als Polizeichef.
Tom Hardy wird, denke ich, groß herauskommen. Er ist unglaublich intensiv. Und mit Noomi Rapace knistert es. Es ist fabelhaft.

AM: Wann kommt der Film?
TRS: Ich denke, spät nächstes Jahr. Das wird aufregend. I’m excited.

Alf Mayer

Tom Rob Smith: Ohne jeden Zweifel (The Farm, 2014). Aus dem Englischen von Eva Kemper. München: Manhattan 2013. 384 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Rob Smiths Homepage. Fotos: Noomi Rapace ©Iker Arbildi/Creative Commons Attribution 2.0 Generic license. Rob Smith ©Scott McPherson.

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