Geschrieben am 15. August 2017 von für Bücher, Crimemag

Roman: Stuart Neville: Der vierte Mann

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Von Sonja Hartl
„Rattenlinien“ heißen jene Fluchtlinien, die führende Vertreter des Nationalsozialismus und Angehörige der SS nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs genutzt haben, um aus dem Land zu kommen. Einige ihrer Gesinnungsgenossen hatten sehr früh erkannt, dass der Zusammenbruch bevorsteht und sich abgesetzt. Dann organisierten sie vom Ausland aus Fluchtrouten für ihre Verbündeten, „mit Unterstützung der Kirche oder dem ein oder anderen Regierungsmitglied. Ein Empfehlungsschreiben, ein paar Devisen, um die Reise zu erleichtern, und Bargeld, um ein neues Leben zu beginnen.“ So steht es in Stuart Nevilles „Der vierte Mann“, dem diese Rattenlinien im Original den Titel geben: Ratlines. Denn diese Fluchtrouten gingen nicht nur nach Südamerika, sondern auch nach Irland. Basierend auf historischen Personen erzählt Neville nun von einer Zeit in der irischen Geschichte, in der Nationalsozialisten – teilweise unter ihrem echten Namen – unbehelligt in Irland lebten. Zu ihnen gehört Otto Skorzeny, ein Österreicher, der 1932 der NSDAP beitrat, Offizier in der Waffen-SS war und an der – durch NS-Propaganda überhöhte – Befreiung Mussolinis 1943 beteiligt war. In dem Roman beschreibt er sich selbst als Soldat, als ein Nationalist ohne Nation – und findet mit dieser Deutung Verbündete in diesem Land voller Nationalisten. Das Vorwort gibt zudem Auskunft darüber, dass der junge Politiker Charles Haughey einen Empfang für ihn in einem Country Club gab und Skorzeny 1959 ein Anwesen in Kildare erwarb. Aber schon vier Jahre später behauptete der damalige Justizminister Charles Haughey, Otto Skorzeny sei niemals in Irland ansässig gewesen.

Aus diesen historischen Fakten entwickelt Stuart Neville eine spannungsreiche Geschichte: In Irland des Jahres 1963 macht ein Mörder Jagd auf Nazis, die in dem Land leben. Zwei Tote gab es bereits, bei der dritten Leiche ist eine Nachricht an Skorzeny zu finden. Daraufhin wird der Justizminister Charles Haughey unruhig und setzt den G2-Mann Albert Ryan auf dem Fall an. Ryan ist irischer Protestant, hat mit den Briten im Zweiten Weltkrieg und in Korea gekämpft und ist damit auch ein Nationalist ohne Nation. Denn seine irischen Nachbarn haben ihm nicht verziehen, dass er an der Seite der verhassten britischen Besatzer gekämpft hat. Ohnehin erweist sich Irland in dieser Zeit als ein Treffpunkt der Nationalisten ohne Nation – man begegnet Bretonen, die für die Unabhängigkeit der Bretagne zu Nazi-Kollaborateuren wurden, der IRA, Rhodesier und schließlich dem Agenten Weiss, in Deutschland geboren, den USA aufgewachsen und nun für den Mossad arbeitend. Hierin klingen immer wieder Fragen nach Identität und Zugehörigkeit an, die Gründe für die Kämpfe liefern. Jedoch verschweigt Neville nicht den Preis, den alle am Kampf Beteiligten zu bezahlen haben. Sei es, dass sie in ewiger Angst leben, sei es, dass sie sich in der zivilen Gesellschaft nicht zurechtfinden. Dabei spielen immer wieder Gewlt und Ehre eine Rolle. Irland hat sich nicht am Kampf der Alliierten gegen das Reich der Nazis beteiligt – es war ein noch junges, wirtschaftliches gebeuteltes Land, das an der Seite der Alliierten – und damit der Briten – hätte kämpfen müssen. Es gab Stimmen, die das Verhalten Adolf Hitlers als kompromisslosen Kampf für die eigene Nation sahen, die in dem Feind des Feindes einen Verbündeten sahen – und andere, die auf den verbrecherischen Wahnsinn aufmerksam machten, viele, die dann in der britischen Armee kämpfte. Im Nachhinein lässt sich indes sagen, dass „Irland einfach nur tatenlos zugesehen (hat), wie Europa brannte“, aber die Widersprüche, die in dieser Diskussion um die Beteiligung Irlands zu erkennen waren, ziehen sich über Jahrzehnte durch die Nation.

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Diese Themen verbindet Stuart Neville in seinem Plot um einen Geheimdienstagenten, der es mit Söldnern und anderen Agenten zu tun bekommt, vor allem aber immer wieder die Schwäche der irischen Politiker spürt. Dabei hat er sich klugerweise entschieden, keinen Spionageroman zu schreiben, sondern bei den Ermittlungen in einem Kriminalfall zu bleiben. Sicherlich kommt nicht jede Wendung überraschend, aber auch im Vergleich zu seinen vorhergehenden Romanen ist Neville hier viel weniger auf den Effekt aus. Deshalb verleihen der Plot und die Erzählweise dieser Geschichte die Bodenhaftung, die sie angesichts der spektakulären historischen Fakten benötigt. Und eines macht „Der vierte Mann“ sehr deutlich: Gier und Gewalt machen vor keinen Grenzen halt.

Stuart Neville: Der vierte Mann. Übersetzt von Armin Gontermann und Wolfgang Thon. Aufbau Taschenbuch. 448 Seiten. 9,99 Euro.

Ein weiterer Roman, der sich dem Thema widmet ist „Rattenlinien“ von Martin von Arndt. Hier bei CULTurMAG finden Sie Anne Kuhlmeyers Besprechung.

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