Fix Zone

Avenue N° 5

Redaktion: 

Eine Zeitschrift, die es zu entdecken gilt: Die fünfte Ausgabe der AVENUE geht dem gegenwärtigen Kult ums Essen auf den Grund. Hierfür bittet sie die Geistes- und Sozialwisssenschaften zu Tisch, die seit mehr als 100 Jahren die Zubereitung und den Verzehr von Nahrungsmitteln erforschen.

Aus der Einleitung der Herausgeber:
„1910 veröffentlicht Georg Simmel, einer der Gründungsväter der deutschsprachigen Soziologie, den Aufsatz Soziologie der Mahlzeit, der «die ungeheure sozialisierende Kraft» des gemeinsamen Essens und Trinkens beschwört: Am Tisch verwandelt sich selbst der Todfeind in einen Gastfreund, der vom gleichen Blut trinkt und vom gleichen Fleisch isst. Die gemeinsame Mahlzeit markiert den Beginn von Vergemeinschaftung überhaupt: Zum einen pazifiziert sie das egoistische und primitive Fressen, zum anderen synchronisiert sie unterschiedliche Menschen in einer gemeinsamen Tätigkeit.

«Die Gemeinsamkeit des Mahles aber führt sogleich zeitliche Regelmäßigkeit herbei, denn nur zu vorbestimmter Stunde kann ein Kreis sich zusammenfinden – die erste Überwindung des Naturalismus des Essens.»Georg Simmel

Gelingt es einer Gesellschaftsschicht, den Sättigungsdruck des Hungers zu überwinden, erlangt, so Simmel, die gemeinsame Mahlzeit eine neue Funktion: Die Gemeinschaft wird zum Selbstzweck und die gute Tischsitte zu ihrer Eintrittskarte.

In seinem zweibändigen Werk Der Prozess der Zivilisation (1939) vertieft Norbert Elias dreißig Jahre später Simmels Skizze. Historischer Ausgangspunkt ist für Elias die Staatenbildung am Ende des Mittelalters. Das neue Gewaltmonopol führt rasch zu einer Entwaffnung des Kriegsadels, der sich fortan in einer höfischen Gesellschaft zu zivilisieren hat. Jede Form der körperlichen Auseinandersetzung gilt nun als Affront gegen den Staatskörper.

Dieser Zivilisationsprozess macht sich zuerst an der gemeinsamen Mahlzeit bemerkbar: Da nichts mehr an Körperlichkeit erinnern darf, unterbinden Tischsitten alsbald das Furzen und Schnäuzen zu Tisch. Auch der Gebrauch von Messer und Gabel gehorcht schon bald einer fein ziselierten Etikette, um diesen Instrumenten jeden Anschein von körperlicher Bedrohung zu nehmen. Und da selbst der ‹gesunde Appetit› noch an ein körperliches Bedürfnis gemahnt, ist er mithilfe von mehreren Gängen und aufwendigen Formen zu zügeln.

Doch nicht nur wie, sondern auch was wir essen, verdankt sich der sozialisierenden Kraft gemeinsamer Mahlzeiten. Am verspeisten Material lässt sich, darauf hat Pierre Bourdieu in seinem Werk Die feinen Unterschiede (1979) hingewiesen, nicht so sehr das Nahrungsmittelangebot, sondern vielmehr der gesellschaftliche Rang ablesen. Denn was wir mögen und was wir verschmähen, ist nicht das Resultat eines angeborenen und unveränderlichen Geschmacks, sondern Ergebnis einer schichtspezifischen Sozialisierung. Großflächige Erhebungen zu Karriereverläufen, Essensgewohnheiten und sozialer Herkunft zeichnen im Frankreich der 1960er ein deutliches Bild: Die unteren Schichten verspeisen Funktion, die oberen Form. In Arbeiterfamilien kommen große Schüsseln mit Fleisch und Teigwaren auf den Tisch, in gebildeten Kreisen mehrere Gänge mit überschaubaren Portionen.

Simmel, Elias und Bourdieu erinnern daran, dass Mahlzeiten eben nicht nur der Sättigung dienen. Was und wie wir speisen, ist abhängig von Ausbildung, geographischer Herkunft oder Schichtenzugehörigkeit. Doch wie sich diese Abhängigkeiten zwischen Nahrung und Gesellschaft, zwischen Speise und Identität heute artikulieren, ist alles andere als klar.“

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