Die psychotische Gesellschaft
Neuerscheinung bei Klett-Cotta in der Reihe Tropen: „Die psychotische Gesellschaft“ von Ariadne von Schirach.
„Im Kern jeder psychotischen Erfahrung steht also ein umfassender Realitätsverlust. Dazu kommen Symptome aus dem affektiven, die Gefühle betreffenden Formenkreis wie Erregungszustände, aber auch eher dem schizophrenen Spektrum zugeordnete Phänomene wie Wahnideen, Störungen des Ich-Erlebens und mangelnde Krankheitseinsicht. Der psychotische Mensch hat seinen Geist und sein Urteilsvermögen verloren, sein Leben ist ihm fremd geworden. Er weiß nicht mehr, wer er ist noch was er eigentlich will, und kann sich deshalb nicht länger angemessen verhalten. Begleitet wird dieser Selbst- und Weltverlust von Angst angesichts der inneren Auflösung und Ohnmacht angesichts der Unfähigkeit, selbst etwas daran zu ändern. Auf gesellschaftlicher Ebene erleben wir den Realitätsverlust als postfaktisches Zeitalter, bestimmt von Fake News und alternativen Fakten. Diese Wortneuschöpfungen verweisen auf einen fundamentalen Zweifel an der Wirklichkeit ebenso wie an ihrer medialen Vermittlung. Was ist wahr, was ist falsch, und wem soll man noch glauben?“
Ariadne von Schirach
Selbstmordattentäter, Geflüchtete und populistische Präsidenten. Und dann spielt auch noch das Klima verrückt. Dieser krisenhafte Zustand hat viele Gründe. Die Ökonomisierung der Welt hat sich im 21. Jahrhundert fast vollendet. Sie betrifft schon lange nicht mehr nur das Sichtbare, sondern reicht tief in das Unsichtbare hinein: in das Soziale, in den Umgang mit uns selbst, den anderen und der Welt. Der Selbstwert ist zum Marktwert geworden, die Grenzen zwischen Ich und Welt verschwimmen. Das Resultat dieser kollektiven Identitätskrise ist eine psychotische Gesellschaft, deren Mitglieder weder wissen, wer sie sind, noch was sie sollen, und deshalb unfähig sind, mit sich und miteinander bewusst, wertschätzend und angemessen umzugehen. Doch jede Krise trägt in sich die Möglichkeit einer neuen Ordnung, sie ist eine Chance, unser Verhältnis zu uns, den Anderen und der Welt neu zu erzählen.
Interview mit Ariadne von Schirach im Deutschlandfunk
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