10-3-95, 20:05 (skizzenbuch)

Weg nach Berlin. Zug. Rückwärts fahrend. Eine ungewisse Zeit bricht an, es versucht, Frühling zu werden. Parteiauftrag morgen, 10 Uhr, Abgeordnetenhaus. Reden, Sprechen. Gespräche über Zukunft, die zu weit voraus liegt. Dennoch notwendig. Einer der ersten Tage des Frühlings – Redewendung, Satz: schon mal gebraucht, ungefähr vor einem Jahrdutzend, weit über tausend Tage zurück. Eine unruhige Zeit setzt sich fort. Werden wir scheitern? Zuhause ist e nachhause gekommen. Sie hat etwas gekocht und gegessen. Sie liest die ersten Seiten des Buches, das sk gerade beendet hat. „Das Schiff versank.“ Choral von Hansen. Wenn sk nachher ankommt, bricht sie auf. Vielleicht Tanzen im Hinterhof. Oder sie trifft Isa. Oder sie bleibt am Buch kleben. Das Buch kam von sk. (…) sk wird morgen nicht da sein. Er kommt später. Der Frühling kommt. Die Seiten füllen sich mit einigem Erbarmen. Die Luft war den Tag über klar. Man konnte den Mond sehen, ein halber, hoch am Himmel und also recht klein. Werden wir scheitern?

sk‘s Besprechung vom „Choral …“ erwies sich als brauchbar. Als er sie schrieb, hatte er noch 150 S. vor sich. Aber es war abzusehen. Das letzte Viertel des Buches nur noch Vollzug dessen, was schon angelegt. Beruhigend. Alles ist klar, wie die Luft heute. Beruhigend zu lesen und wohl auch zu schreiben. Mit dem Stück ist es noch beiweitem nicht so weit. Alles noch unklar. Nur einige klare Gedanken im Haschmich (ich bin der Frühling), die dann als nur ein Satz oder Wort auf einen Zettel kondensieren. Noch viel dran zu machen. Wenn sk dran bleibt, wird aber irgendwann dieser beruhigende Vollzug kommen. Das nur noch fertig werden Müssen. In der Regel dann doch das einfachste. Seit langem hat sk ein Buch wieder ganz gelesen. Mitten im schlimmsten Trubel, oft zwischen Türangeln. Gut. Am Ende, auf den Schienen, dann dieser beruhigende Vollzug: Fertiglesen, Klarwerden. So wie die Luft. Die Sprache des Buches schleicht sich ein. (…) Reise. Das skizzenbuch beginnt mit Reise. Auch nicht schlecht. Und mit Frühling. Auch nicht schlecht.

Beobachten. Material. Die Seiten werden nach Beschriftung so pergamentartig. Sie verwandeln sich. Im Wagen hört man Stimmen von jungen Frauen. Brocken. Sie war mal mit Holger zusammen. Die üblichen Geschichtchen. Tausendfache. Alles ist gut. Die Beruhigung, die sk erfaßt, seit einigen Tagen, hat etwas Fatales. Das Leiden wird luftig. Ein Annehmen? Noch zu früh. sk hat sich ein Bild von e eingesteckt. Als er letztesmal von Berlin zurückkam, lag zuhause e‘s Karte auf dem Schreibtisch. Er war müde gewesen vom Parteitag, erschöpft. So war es kaum schlimm. (…) Heute ein Brief von r. Morgens hat man ihm Zahngold eingesetzt. Prothetisches. Das fühlt sich im Mund, mit der Zunge berührt, glatt an und glänzend. Beim Einsetzen, mit offenem Mund, denkt er an Juden, denen man es vor der Fabrizierung im Krematorium herausgebrochen hat. Das ist Deutschland: eingesetztes und herausgebrochenes Zahngold.

(…)

Das Schreiben in der 3. Person gefällt ihm. Es schafft Abstand. Der ist beruhigend. Der ist nicht gefährlich, weil ja klar bleibt, worum es geht, klar wie die Luft heute an einem der ersten Tage des schüchternen Frühlings. Die Wendung, der Satz begleitet ihn, fällt ihm zu gegebenem Anlaß immer wieder ein. Wahrscheinlich ist das eine gute Wortreihe. Sonst hätte er sie vergessen. „Die Wünsche der Menschen sind vielgestaltig“ – dieser Satz von Kluge begegnet ihm auch immer mal wieder. Ein guter Satz.

Immer noch ist sk nicht klar, warum er im Buch von Hansen etwas angestrichen hat. Kurz, als er noch vorhatte, e, wie mit ihr versprochen, sein Exemplar zu leihen (bevor das zeite Rezensionsexemplar ankam), dachte er, es sei gut, sie sehe, was er anstreiche. Dann fand er das kindisch, und es schmeckte gallig nach früher. Gleichwohl strich er weiter gute Sätze an. Er arbeitet mit dem Buch, er liest es nicht nur. Das ist gut. Es begleitet ihn ein Stück. Das ist gut. Es ist nah an seinem geplanten „… und der Titan nickte“. Jetzt trägt seine Besprechung diesen Titel, wie eine Erinnerung an ein nicht geschriebenes Buch. Sehr beruhigend.

20:47

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