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Magazin für Verrisse aller Art     Archiv

Herausgegeben von Dieter Conen & Hadi Eberhard

   




AUSGABE 4    Dezember 2000


Thomas Lehr: Nabokovs Katze


Volker Hage, Spiegel-Redakteur, der in seiner stupenden Unempfindsamkeit gegen literarische Hervorbringungen wohl nur noch von MRR himself übertroffen wird, hat (wiedermal) völlig losgelöst vom zugrunde liegenden Text das Blaue vom Himmel herunter jubiliert. Wenn ich lese, Thomas Lehr habe einen "altmodisch-gediegenen Bildungs- und Künstlerroman geschrieben, ... mit einer Ernsthaftigkeit und Könnerschaft, die das Buch über die meisten Literaturtitel dieses Herbstes hinaushebt" (Spiegel 41/99, Seite 254) - dann muß ich echt lachen über den gelungenen Witz. Zugunsten des wackeren Kritikus' will ich annehmen, daß er beim Verfertigen seines Artikel mit der Befehlsfolge 'Bearbeiten', 'Textbaustein einfügen' in die falsche Rubrik geraten ist, versehentlich ein lobpreisendes Versatzstück eingeblendet hat statt eines vernichtenden und ihm der fatale Irrtum durch Verkettung widriger Umstände beim Korrekturlesen entgangen ist. Anders kann das Urteil kaum erklärt werden.
Denn was der gepriesene Autor an sprachlichen Unschönheiten, Stoffeligkeiten, ja massiven Fehlleistungen schon auf den ersten Seiten seines voluminösen Werkes bietet, das geht auf keine Kuhhaut. Da heißt es auf Seite 26 zum Beispiel: "Er leugnete seine Sinne, er definierte als Grenze seines Ichs nur den bildlosen, abstrakten Teil seines Gehirns, der in der Lage war, jedes dieser Bilder zu widerrufen...". Eine Seite später steht da etwa zu lesen: "Er sah diese Dinge mit dem Gefühl einer ungeheuren Befreiung und Dankbarkeit, im Bewußtsein ihrer Fragilität, das sich der erlebten Verzerrung durch die Droge verdankte. Zugleich dachte er sich stärker von seiner Umgebung abgegrenzt als je zuvor." Usw., usf.

Abgesehen davon, daß diese Art von verquaster, hochtrabender Technokratensprache allenfalls für eine Seminararbeit im Fachbereich 'Anlagenbau' taugt, muß man sich fragen, ob der Autor verstanden hat, daß es in der Literatur darum geht, seinen Gegenstand anschaulich zu machen, sicht-, fühl, nacherlebbar werden zu lassen, indem man sprachlich v o r f ü h r t, was es zum Beispiel heißt, ein Gefühl der Befreiung und Dankbarkeit zu haben. Was geht in der betroffenen Person konkret in solcher Lage vor, bitteschön? Alles mögliche, darf man vermuten, aber niemals wälzt sie Gedanken wie "Ich habe ein Gefühl der Befreiung und Dankbarkeit" oder "ich definiere als Grenze meines Ichs nur den bildlosen... usw" oder "ich denke mich stärker abgegrenzt von meiner Umgebung..." Diese Sentenzen sind folglich nichts als tumbe Benennungen und Behauptungen von Erlebnissen, statt deren Beschreibung. Und von solchen Sätzen quillt das Buch geradezu über. Es besteht praktisch ausschließlich daraus. Jeden dieser Sätze könnte man als schriftlich niedergelegten Vorsatz verstehen, der angibt, wie geschrieben werden müßte: 'Hier müßte ich eigentlich beschreiben, wie es ist, sich abgegrenzt zu fühlen, ...Befreiung und Dankbarkeit zu erleben, ...seine Sinne zu leugnen' usw. Aber der Autor tut es eben nicht, das Beschreiben, sondern läßt es stets bei der Absichtsbekundung bewenden. Es liegt mithin bestenfalls ein ausgefeilter Romanentwurf auf dem Tisch, der - so könnte man hier einmal mit Fug und Recht behaupten - mit Literatur (im obigen Sinne) überhaupt nichts zu tun hat.

Wer diese Vorsatzsammlung nun ernsthaft für das eigentliche Werk, gar für eine gekonnte, wenn nicht meisterliche Arbeit hält, dem muß der Streß seines Berufes Wahrnehmungsverheerungen zufügen, vor denen ich mich mit Grausen wende.
Wie Lektoren und Juroren diesem inspirations- und leblosen Satzgemurkse genug abgewinnen können, um es zu publizieren respektive mit Literaturpreisen zu bedenken, bleibt eines der sieben ungelösten Rätsel des Universums.
Thomas Lehr kann pretiöse Worte und Wendungen grammatisch eingermaßen fehlerfrei ineinander verschachteln. Aber schreiben kann er nicht.


Fritz Gimpl





AUSGABE 4    Dezember 2000


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