AUSGABE 4 Dezember 2000
Reinhard Mohr: Die Tyrannei der Lust; SPIEGEL 27/2000
Ich könnte nicht behaupten, dass mich Reinhard-Mohr-Texte je übermäßig
gelangweilt hätten. Manch einen darf man getrost als Kabinettstückchen bezeichnen.
Und weil der Mann so trefflich formu- und fabulieren kann, bekleidet er beim Spiegel die Ämter
des Zeitgeistoberanalysten und Chef-Henkers in Personalunion. Mit diebischem Vergnügen
erinnere ich mich zum Beispiel an die erbarmungslose Züchtigung der Popschreiber-Garde,
anlässlich deren Auftritts vor der Bundespräsidentengattin und anderen. Freilich
kam mir die Invektive arg großkalibrig vor. Die Posaunen von Jericho aufgefahren gegen
eine Sandburg, die jeder mittlere Luftzug spurlos auseinandergebröselt hätte. Hatten
die Herren Pop-Schreiber denn versprochen, das Abendland zu retten (oder in den Untergang zu
stürzen)? Meines Wissens nicht. Warum regte sich dann der Rezensent so auf, als habe er
den 'faselnden Fünf' eines von beiden tatsächlich zugetraut und müsse nun seiner
maßlosen Enttäuschung über deren Versagen mit einer Philippika Luft machen?
Dieser unverhältnismäßige Entrüstungsaufwand, fand ich, verlieh dem Plapperquintett
und ihrem nett-nichtigen Büchlein durch die Hintertür gerade jene Relevanz, die ihm
eigentlich abgesprochen werden sollte.
Nun gut. Jetzt also nimmt Herr Mohr die bundesdeutsche Lust aufs Korn. In seinem Artikel ist
die Rede von Sexualisierung der Öffentlichkeit, welche Hand in Hand gehe mit einem Rückgang
des Sex im Privatleben. Deutsche seien Opfer einer visuelle Tyrannei der Lust. Aufreizende
Bilder und Appelle aller Orten minderten das Verlangen im heimischen Schlafzimmer. Die gute
alte Geilheit, die noch auf alsbaldige Erfüllung drängte, sei zur 'neuen Sexualität'
mutiert, die es eher auf Bewunderung abgesehen habe und auf die Bestätigung der Selbstliebe.
Sex sei heutzutage trivialisiert und habe seine umwälzenden Kräfte verloren. Es gehe
im Prinzip nur noch um Selbstvergötterung. Na ja.
Ich habe auch diesen Artikel gern gelesen, das will ich nicht verhehlen, weil er auf typisch
Mohr'sche Weise flott geschrieben ist. Allerdings hat sich bei der Lektüre erstmalig ein
Unbehagen gegen diese Art der Flottheit eingeschlichen. Letztere besteht, wenn ich recht sehe,
im wesentlichen darin, ein paar eher halbseidene Fakten zusammenzutragen und mit einem Trommelfeuer
höchst griffiger Formulierungen auf möglichst publikumswirksame Weise auszudeuten.
Und was könnte dem durchschnittlichen Spiegelleser genehmer sein als die zwischen den
Zeilen übermittelte Versicherung, sein tristes Sexleben, die schnelle Nummer mit Mutti
einmal pro Quartal, sei noch Gold gegen das autistische Treiben all der unheilbar narzistischen
Schickis und Mickis da draußen?
Affirmation nannte man das früher mal und wandte sich angewidert ab. Es geht mir aber
um anderes.
Das oben erwähnte Unbehagen während des Lesens entsprang dem Empfinden, der Text
lege sich Satz für Satz wie eine Schraubzwinge um mein armes Hirn. Ich hatte das Gefühl,
mir solle ein Weltbild vermittelt werden, dem keine Fakten (Lob des Focus, ha!) zugrunde lagen,
sondern allein und ausschließlich die furchtbare Formulierungsgewalt des Autors. Seine
rhetorische Kunstfertig- und Skrupellosigkeit läßt mir gleichsam keine Wahl, als
für wahr zu halten, was mir da vorgesetzt wird. Mohrs spezifischer Stil hat sich, wie
bei niemandem sonst, zu einer suggestiven Kommunikationstechnik entwickelt, die jene Wirklichkeit,
über welche angeblich nur berichtet wird, im Akt des Niederschreibens (bzw. Gelesenwerdens)
selbst erzeugt. Semantische Autopoiesis nennt man das heute; weiss jedes Kind.
Fazit: Den deutschen Menschen plagt nicht nur die visuelle Tyrannei halbnackter, aufgestrapster
Leiber, sondern auch ein tyrannischer Rhetor, der sein Geld beim Spiegel verdient.
Pater Ralf de Frikassee
AUSGABE 4 Dezember 2000
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