AUSGABE 4 Dezember 2000
Susanne Riedel: Kains Töchter
Manche Romane geben sich am Anfang sperrig. 10, 20 oder mehr Seiten kann es dauern, bis wir
seinen Widerstand überwunden haben. Gelingt aber der Einstieg in die Erzählung, dann
mag es sein, daß wir süchtig nach ihr werden. Es ist dies das epische Erlebnis,
von dem wir nie genug bekommen können, auch wenn es mit den Jahren immer schwerer zu haben
ist.
Bei Susanne Riedels Roman KAINS TÖCHTER ward mir ein episches Erlebnis nicht beschieden.
Vom ersten Satz an befiel mich Widerwille, anhaltendes Verlangen, die Lektüre beenden
zu dürfen, und von diesem Buch bitte nie wieder etwas hören oder sehen zu müssen,
und ich bewundere die eminente Fähigkeit der Autorin, dieses Bedürfnis bis zur letzten
Seite gnadenlos gesteigert zu haben. Dabei fällt es mir nicht leicht zu sagen, was mich
stärker abgestoßen hätte, die Unsäglichkeit der Handlung oder das Elend
der sprachlichen Gestaltung.
Worum geht es? Es geht, kurz gesagt, um Schuld, um Schuld von biblischer Dimension, um die
immanente Schuldhaftigkeit menschlicher Existenz, um Schuld als konstituierende Bedingung des
Seins - eine Schuld, von der es keine Hoffnung auf Erlösung gibt in einer Welt ohne Gott,
denn der Mensch ist an das Verhängnis seiner Schuld unrettbar gekettet, Schuld ist sein
Geschick und Erbe, das ihn immer und überall einholt ( . . . Schuld ist persönlich.
Schuld ist nie fremd. S. 166; Menschen tun Dinge, Leben setzen sich fort . . .
die Schuld quillt uns aus allen Poren ...' S. 329 etc. etc.).
Um die Allgemeingültigkeit dieser parareligiösen Daseinsexegese zu untermauern, erfindet
Susanne Riedel als Schauplatz des Unheils einen quasi-mythischen Ort: das Otschtal. Im Otschtal
lebt und vermehrt sich seit Generationen hühnerartig (S. 273) die Sippe der Leghorns (Leghornhennen?),
von deren trübem Schicksal die Ich-Erzählerin Joa hier berichtet (man beachte die
Namen). Mutter Rose Marie schlägt und mißhandelt ihre Töchter und treibt sie
durch lieblose Aufzucht in schwere neurotische Verhaltensstörungen (Schuld!), besonders
Joas jüngere Schwester Timpie (Thymia Sophie, Name!). Joas Vater Caleb (Name!) hat sich
dem unheilträchtigen Otschtal durch Flucht entzogen (Schuld!) und lebt in der Stadt. Sein
Bruder Zack (Zachariah, Name!) unterhält ein ehebrecherisches Verhältnis zu Rose
Marie (Schuld!). Frucht dieser sündigen Verbindung ist die bereits erwähnte Timpie,
aber das erfahren wir definitiv erst am Ende, obwohl wir es schon lange vorher ahnen. Timpie
bringt im Alter von vier Jahren ihre Mutter um (schwere Schuld!). Timpie ist hochbegabt. Joa
macht ihre erste, selbstverständlich freudlose sexuelle Erfahrungen (Schuld!) mit dem
jungen Pfarrer Ezra (Name!). später studiert sie Medizin und heiratet Elijah (Name!),
einen Arzt und Psychotherapeuten. Nach langem Hin und Her bekommt sie eine Tochter Ruth (Name!),
die sie schlägt und mißhandelt (Schuld!), wie sie selbst geschlagen und mißhandelt
worden ist. Zwischen Timpie und ihrem leiblichen Vater Zack entsteht eine inzestuöse Beziehung
(sehr schwere Schuld!). Timpie weiß nicht, daß Zack ihr Vater ist, und Zack weiß
es angeblich auch nicht. Joa erfährt durch Zufall davon, behält aber ihr Wissen zunächst
für sich. Timpie wird von ihrem Vater Zack schwanger, und Joa wird es nun zu bunt. Sie
klärt Timpie darüber auf, daß Zack ihr eigener Vater und Vater ihres werdenden
Kindes ist (Schuld!). Daraufhin bringt Timpie sich um und tötet dabei, ohne es zu wissen,
Joas Tochter Ruth gleich mit (schwere Schuld!). Fortan fühlt sich Joa schuldig am Tod
ihrer Schwester Timpie und ihrer Tochter Ruth. In schwerer Depression und Selbstanklage vegetiert
sie weiter und schreibt das vorliegende Buch, denn sie weiß: . . . die Menschen
sollten solche Geschichten erleben, sie haben ein Recht darauf. (S. 8), und die Aufgabe
der Künstlerin sei: . . . den Mangel zur Schönheit zu verklären.
(S. 267).
Um es mit aller Klarheit gleich zu sagen: Wir sind nicht der Meinung, daß Menschen derartige
Geschichten erleben sollten, und vor allem finden wir, daß man einen Mangel nicht auch
noch schön reden sollte. Die protestantisch-alttestamentarische Ereignisorgie (wir könnte
auch von saurem Kitsch reden), die hier dem Leser hingerieben wird, ist als solche schon ungenießbar
genug, aber so richtig qualvoll wird sie erst durch die Sprache, die uns die Autorin über
mehr als 300 Seiten zumutet. In manchem erinnert das Geschehen an die Düsternis früher
Ingmar-Bergmann-Filme (Wilde Erdbeeren etc.), in denen rundum gestörte Menschen sich das
Leben gegenseitig zur Hölle machten, aber während Bergmann in der Wahl seiner Mittel
spröder und bedachtsamer war (von abartigen Symbolismen abgesehen), schreckt Susanne Riedel
vor keiner sprachlichen Entgleisung zurück, um Mangel in vermeintliche Schönheit
zu verklären. Hemmungslos parfümiert sie ihren Text bis ins Mark mit präziösen
Lyrismen, sie überschüttet ihre Sätze mit einem schmierigen Make-up aus falschen
Bildern, krummen Metaphern und peinlichen Vergleichen. Dabei kippt der erlesen psalmodierende
Hochton des Riedelschen Sprachduktus jederzeit ins Lächerliche ab:
Es sollte eine Geschichte sein, aus Dingen, die man am Rande der Lügen entdecken
kann: Moos und Holunderbeeren, Kirchenlieder, ein bläßlicher geheimnisvoller Himmel,
gefleckt wie ein Schwalbenei, die frühen Abende, an denen das Licht langsam wird und breit
und golden. S. 7f; . . . draußen in der Luft ein weicher traubenfarbener
Schimmer, kostbar. S. 29; als das Dunkel aufplatzte . . . S. 30; . . .sie
lachte splitternd . . . S. 31; Großmutters Augen quietschten leise . . .
S. 45; Smaragdfarben taumelte unser Haus in der Wiese, . . . S. 48; In Großmutters
Herz stieg man mit Besen und Dreckschaufel. S. 68; . . . sie aß Sauerkraut
mit der gleichen Begeisterung, die sie für Stahlrohre an den Tag legte. S. 78; Seine
Haare hatten die Farbe von gefrorenem Wasser, in das einer gepinkelt hat. S. 103; Timpie
rammte sich in die Sprache wie ein Nagel, den man in eine butterweiche Wand schlägt.
S. 159; Pferde rannten durch mein Gehirn. S. 174; . . . transparente Haut
wie ein Norditaliener . . . S. 179; Großmutter strahlte wie eine Wunderkerze.
S 187; . . . der Gang der Dinge war unvermeidbar wie Staupe . . . S. 216; Panik
schwamm in meinem Herzen wie Milch, in die man Zitronensaft gießt . . . S. 248).
Die Liste dieser poetischen Geniestreiche ließe sich beliebig verlängern. Würde
man sie streichen, bliebe von dem Buch nichts übrig. Ratlos fragen wir uns, was das Motiv
gewesen sein mochte, eine derart ungenießbare Handlung in einer derart ungenießbaren
Sprache zu erzählen. Ich sagte es schon: Ich bin nicht der Meinung, daß Menschen
solche Geschichten erleben sollten, und noch weniger bin ich der Meinung, daß Menschen
solche Geschichten lesen sollten, aber vor allem bin ich der Meinung, daß Bücher
mit solchen Geschichten nicht geschrieben werden sollten.
Meike Fessmann, eine Rezensentin, die uns schon mehrfach durch verquastes Gesülze auffiel,
schreibt in einer mächtig raunenden Besprechung in der SZ: Susanne Riedel wagt in
ihrem Debüt eine starke Setzung . . . und zeigt fast eine Art Gottvertrauen,
daß die Wörter magisch sind, wenn man sie nur richtig wählt. Was immer
eine starke Setzung sein mag, die richtige Wahl der Worte, richtig, darauf kommt es an, und
genau das ist hier der essentielle Mangel. Trotz verbiesterten Wollens schafft Susanne Riedel
es nicht, ihn ins Schöne zu verklären. Mangel ersetzt sie durch Masse, wahre Empfindung
durch faules Pathos. Der Ton stimmt nicht. Nichts an diesem Buch ist echt, alles ist nur anempfunden,
Maske, Simulation, fake, und das Buch handelt auch nicht wirklich von Schuld. Das Thema Schuld
ist nur erdacht, es ist Vorwand und dient als pompöse Schminke für Depression und
Selbstmitleid, denn wahre Schuld bläht sich nicht so, sie plustert sich nicht auf, sie
ist nicht redselig, verschwätzt und eitel wie dieses Buch.
Dieses Buch ist ein fataler Irrtum, mit Literatur hat es nichts zu tun. Es ist bestenfalls
gefallsüchtiges Kunstgewerbe einer Journalistin, die gerne Schriftstellerin sein möchte
und ihre Möglichkeiten verkennt. Weil sie kein Thema hat, klügelt sie etwas aus und
versteckt es unter fremden Federn und Kaisers neuen Kleidern, aber depressiv sein und nicht
schreiben können, macht noch keinen Roman: . . . denn ihre Sprache verrät sie . .
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Kees van de Verschredderen
AUSGABE 4 Dezember 2000
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