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Magazin für Verrisse aller Art     Archiv

Herausgegeben von Dieter Conen & Hadi Eberhard

   




AUSGABE 4    Dezember 2000


Markus Werner: Der ägyptische Heinrich



Alle Jubeljahre muss ein Magazin wie das unsrige auch einmal eine Lobeshymne vom Stapel lassen, weil das erstens dem Verdacht entgegen wirkt, wir hätten den bösen Blick und könnten aus pathologischer Mißgunst gegen arrivierte Schreiber kein gutes Haar an deren Texten lassen. Zum zweiten ist das besonnene (Ggs.: besinnungslose) Loben eine weitaus schwierigere Übung als das Verfassen selbst des gepfeffertsten Verrisses. Gelingt ersteres, so schärft das den kritischen Verstand weitaus mehr als letzteres. Und wir sind um jede Denkverbesserung verlegen.

Der schweizer Schriftsteller Markus Werner erzählt im 'ägyptischen Heinrich' von seinem Ururgroßvater Heinrich Bluntschli, der um die Lebensmitte aus dem Land der Eidgenossen nach Ägypten ausgewandert ist. Flucht aus seiner zusammengebrochenen heimischen Existenz. Der Autor berichtet zugleich von den Schwierigkeiten, eine über hundert Jahre zurückliegende Biographie anhand unzuverlässiger Zeugenaussagen, weniger Briefe und Tagebuchnotizen sowie höchst karger Dokumente bei öffentlichen Stellen zu rekonstruieren.
Markus Werner gelingt das Kunststück, diesen potentiell trockenen und auf den ersten Blick wenig interessanten Stoff, mit dem er seine Leser vortrefflich langweilen könnte, zu einer packenden Lektüre aufzubereiten. Allerdings darf man hier 'packend' nicht im landläufigen Sinne als crichtonhafte Action- und Tempobolzerei verstehen (nichts gegen Michael Crichton!). Das Packende an diesem Buch liegt wohl gerade im Gegenteil: in der Langsamkeit, in der Genauigkeit, in der beharrlichen Art, mit welcher der Autor den spärlichen Fakten ein Gesamtbild abtrotzt. Hierzu greift er tief in die erzählerische Trickkiste (Ich-Erzähler neben auktorialem Erzählen plus z. B. fiktiver Zwiesprache mit seinem Helden). Bei der Verfertigung der Urahnen-Vita leistet Werner ähnlich Verblüffendes wie jene Paläontologen, die anhand eines versteinerten Kiefernknochensplitters und eines, sagen wir, Jochbeinbruchstücks den kompletten Schädel eines Urmenschen nacherschaffen. 

Vor den Augen des Lesers entsteht die entzwei gerissene Biografie eines Mannes, der nicht so recht für diese Welt gemacht war. Bürgerliche Tugenden wie Ordnungsliebe, Ehrlichkeit, beharrlicher Fleiss, Bescheidenheit in den Ansprüchen ans Dasein und dergleichen hätte Heinrich Bluntschli gern besessen. Doch der Schöpfer hat ihn nicht ausgestattet damit, jedenfalls nicht in dem Maße, welches erforderlich gewesen wäre, um ein erfolgreiches und geachtetes Mitglied der schweizerischen Gesellschaft jener Tage zu werden. Heinrich Bluntschli müht sich nach Kräften um den Aufbau einer Existenz, die insbesondere den Ansprüchen seines Eheweibes genügt. Er scheitert mit Pauken und Trompeten und verläßt bei Nacht und Nebel, auf der Flucht vor seinen Gläubigern, das Land in Richtung Ägypten. Die Ehe zerbricht in der Folge. Das Weib wechselt nach der vollzogenen Scheidung ausgerechnet zu jenem Kerl, der Heinrich einmal, gleichsam lebensbestimmend, gekränkt hat, indem er ihn während einer Schiffsfahrt über den Zürichsee öffentlich als Billigreisenden bloßstellte, der sich widerechtlich in die erste Klasse eingeschlichen hat.

Während die Lebenszeit Bluntschlis in der Schweiz recht gut dokumentiert ist, existieren über das zweite Leben in Ägypten kaum verläßliche Informationen. Weitgehend vergebens forscht der Biograf in Bibliotheken, Botschaftsarchiven und sonstigen öffentlichen Quellen vor Ort. Ihm bleiben außer seiner Phantasie wenig mehr als die schönfärberischen, lückenhaften Überlieferungen diverser Nachkommen des Ururgroßvaters. Letzterer wird darin mit dem ägyptischen Vizekönig sowie dem Kanalbauer Ferdinand de Lesseps in enge Verbindung gebracht. Er soll verschiedene glanzvolle Ämter inne gehabt haben. Das alles dürfte Wunschdenken der nachgeborenen Blunschlis gewesen sein und mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Belegt ist allerdings, dass der Ururgroßvater Bluntschi in dem fernen Land eine sehr junge und hübsche neue Lebenspartnerin gefunden und Nachkommenschaft mit ihr gezeugt hat. Die näheren Umstände seines Zweitdaseins indessen verlieren sich im Dunst der Vergangenheit. Gewiß ist nur eines: Der Ahne des Autors hat ein nach bürgerlichen Maßstäben aufregendes, geradezu odysseehaft bewegtes Leben geführt, das man vermutlich - an denselben Maßstäben gemessen - als gescheitert betrachten muß. Und doch scheint es zugleich auf höhere Weise gelungen. Man meint nämlich nach der ergreifenden Lektüre des Buches, das Markus Werner mit sehnsüchtiger Feder geschrieben hat, nur eine Hallodri-Biografie wie diese (und nicht etwa eine bürgerliche) verdiene die Bezeichnung 'Leben' überhaupt.

Wenn ich den Stil des Buches mit einem einzigen Begriff charakterisieren müßte, würde ich das Wort 'Klarheit' verwenden. Es gibt nichts in diesem Text, was unverständlich wäre. So manchem Kritiker dürfte das, getreu der Devise 'Was nicht über meinen Horizont geht, kann keine große Kunst sein', bemäkelnswert erscheinen. Wir hingegen sind dankbar für jeden begreifbaren Satz. Wir schätzen weder jene Autoren, die das Unklare gezielt als Stilmittel einsetzen, um ihren Ergüssen den Anstrich des Numinosen zu verleihen. Noch möchten wir von schlampigen Formulierungen Akkord arbeitender Vielschreiber im Dunkeln gelassen werden noch wollen wir uns gar von jenen Skribenten traktieren lassen, bei denen es zum genauen Hindenken nicht langt, und die wegen akuter Hirnleere ungehemmt nach Sprechformeln greifen, die jede sinnvolle Bedeutung durch übermäßigen öffentlichen Gebrauch längst eingebüßt haben. Bei Markus Werner bleiben uns all diese Enttäuschungen erspart. Zugleich ist seine Art von Klarheit wohltuend weit von der comicstriphaften Simplizität der Popschreiber-Garde entfernt. Diese KameradInnen bringen bevorzugt solche Figuren und Gedanken hervor, die weitgehend deckungsgleich mit dem sind, was Otto-Normalleser immer schon irgendwie über coole, kiffende, vom existenziellen Nichts in den Schwitzkasten genommene Szenetypen gewußt zu haben glaubt. Insofern erforschen die jungen Herrschaften per Sprache nicht die Welt, sondern bedienen und verfestigen, schreiberisch durchaus versiert, bloß die 'Prädispositionen ihrer Rezipienten'.

Es geht aber, mit Verlaub, gerade um das Erforschen in der Literatur, und nicht darum, den Meinungs- oder Kenntnisstand eines Schreibers zu einem beliebigen Thema publik zu machen. Denn was kann einer schon wissen, das nicht schlichtweg Vorurteil wäre? Nichtsdestotrotz arbeiten schätzungsweise 95% Prozent aller Autoren nach der letztgenannten Methode. Antworten geben kann aber jeder Einfaltspinsel. Es kommt drauf an, die richtigen Fragen zu stellen! Und eine Frage liegt nicht nur dann vor, wenn der Autor ein Fragezeichen setzt. Das machtvollste Frageinstrument ist die Beschreibung. Es muß aber eine Beschreibung sein, die sich behutsam und ehrfürchtig ihrem Objekt nähert und nicht eine, die ihm ruchlos die Klugscheißer- und Besserwisserkeule überzieht. Behutsam und ehrfürchtig ist eine Beschreibung zum Beispiel dann, wenn sie trotz des äußersten Bemühens um den 'treffenden Ausdruck' - das gleichwohl unverkrampft und anmutig wirken soll, als pflücke der Autor seine Worte sozusagen im Vorübergehen vom Baum der Erkenntnis (in dieser Kunst hat Markus Werner es weit gebracht) - behutsam und ehrfürchtig ist eine Beschreibung dann, wenn sie trotz äußersten Bemühens um sprachliche Genauigkeit zwischen den Zeilen oder Worten Zweifel an der eigenen Treffsicherheit erkennen läßt. Es könnte auch anders beschrieben werden, soll sie signalisieren; vielleicht ist gar der Gegenstand, dem ich eine Sprachgestalt geben will, nichts als eine Fata Morgana, gar kein 'reales Ding' in der Welt, sondern pures Gespinst meines überreizten Hirns, dem ich durch das Aufschreiben nur den Schein von 'Substanz', von Anschaulichkeit und Wahrsein verleihe. Diese Ungewißheit, die ein fundamentales Problem allen Denkens und Erkennens und damit des Schreibens ist - das Bestehen dieses Problems bestätigt die Alltagserfahrung jedes halbwegs wachen Verstandes; Großdenker mit Markennamen brauchen wir dazu nicht als Gewährsleute anzuführen -, diese Ungewißheit muß Widerhall in einem Text finden, wenn der nicht bloß Comic strip, vorwitziges Gequassel, pädagogisches Lehrstück, Seifenopfer oder schlicht und einfach Unsinn sein will. Und der ägyptische Heinrich hallt davon wieder. Mächtig. Wir jedenfalls vernehmen das imposante Geräusch deutlich und klar.


Fritz Gimpl





AUSGABE 4    Dezember 2000


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