AUSGABE 4 Dezember 2000
Boylie- und Girliewunder in der deutschen Literatur?
Nachdem kürzlich diverse marktstarke Presseorgane das
Phänomen 'neue deutsche Dichter' ausgemacht und lautstark abgefeiert haben,
konnte die Lit-eX Redaktion nicht umhin, einer Auswahl der bejubelten Bücher
kontrollehalber auf den Zahn zu fühlen, um den grassierenden Hype ein bißl zu
dämpfen. Unsere Redakteure haben sich die folgenden Werke vorgeknöpft: Silvia
Szymanski, 'Chemische Reinigung'; Karen Duve 'Regenroman'; Benjamin Lebert,
'Crazy'; Benjamin v. Stuckrad-Barre ('Stucki'), 'Soloalbum'; Elke Naters,
'Lügen'; Thomas Lehr, 'Nabokovs Katze'; Jenny Erpenbeck, 'Geschichte vom alten
Kind', Julia Frank, 'Liebediener'. Diese kleine Auswahl erhebt keinen Anspruch
auf Repräsentativität oder gar Vollständigkeit.
Nun sind die wackeren
Kritiki dem vielzähligen Feind mit einer Mischung aus Neid und Verachtung im
Busen entgegengetreten, die Feder grimmig gezückt, um, was immer sich darböte,
kurz und klein zu rezensieren. Es zeigte sich jedoch alsbald, daß dieses
Vorhaben so nicht durchführbar war. Einerseits nämlich hatten einige Rezensenten
wegen heraufziehender Altersmilde oder -demenz unvermutet ihren Biß verloren.
Andererseits war die Beschaffenheit der Texte derart, daß blindwütiges
Drauflosprügeln, die übliche Erfolgsmethode, denselben nicht gerecht geworden
wäre, von einer Ausnahme, Thomas Lehr, abgesehen (siehe dazu den gesonderten
Beitrag in dieser Lit-eX Nummer; wer 500 Seiten und mehr vorlegt wie dieser
Autor, der setzt sich sofort dem Verdacht aus, Mangel an Klasse durch
überbordende Masse zu kompensieren; und der Verdacht bestätigt sich leider bei
der Lektüre). Im Klartext: Die Werke haben dem Besprechungsteam über weite
Strecken sozusagen gefallen, alle wie sie da sind, von Lehrs Wälzer einmal
abgesehen.
Eingefleischten Niedermachern fällt dieses Eingeständnis naturgemäß
schwer. Aber es führt kein Weg an ihm vorbei. Und damit war uns der Knüppel
praktisch aus der Hand geschlagen - es sei denn, wir würden es fertigbringen zu
zeigen, daß die Bücher schlecht sind, obwohl sie uns gefallen. Aber wie stellt
man das an? Und kann das überhaupt sein? Versuchen wir es:
Zunächst ist
vorbehaltloses Lob zu zollen: Die durchweg jungen bis sehr jungen Leute
beherrschen, würde man landläufig sagen müssen, ihre Sprache - jedes auf seine
individuelle, eingängige Weise. Man kommt nicht umhin, über die 'Coolness' der
gebotenen Texte zu staunen. Da wird sauber und schnörkelos erzählt; neben
staubtrockenem Sarkasmus finden sich treffsichere Pointen, gefällige
Wortspielchen und durchaus auch ergreifende poetische Wendungen. Eine in
praktisch allen Texten vorkommende Protagonistengestalt, die ziellos und gequält
durch die globalisierte, tv-versehrte, drogenverseuchte Jetzt-Welt stolpert,
geht dem Leser jeweils gehörig ans Gemüt und strapaziert bisweilen dessen
Lachmuskeln. Und bei all dem fehlt, kaum faßbar, jede Form von Larmoyanz -
Pflichtterminus für einen Kritiker deutscher Literatur, der hiermit in der
Besprechung untergebracht ist. Eine geradezu erschreckende sprachliche
Geschliffenheit muß man den Autoren bescheinigen. Nur beim Jüngsten, Lebert,
geht es, rein stilistisch gesehen, rustikaler zu - was dem insgesamt angenehmen
Leseerlebnis jedoch keinen Abbruch tut, die Story vielmehr besonders
'authentisch' erscheinen läßt und dem Schreiber unsere speziellen Sympathien
einträgt.
Wann endlich beginnt der Tadel?
Jetzt! Dazu müssen wir
allerdings vorbereitend vier Sätze weit ausholen: Literatur, die diese
Bezeichnung verdient, hat - mancher nicht unmaßgeblichen Auffassung nach, die
wir teilen - eine Erforschungspflicht (Explorationsfunktion). Sie soll erkunden
wollen, wie die Welt wirklich ist (und nicht, wie sie durch den Lattenzaun der
gesammelten Vorurteile des Autors aussieht). Ihr Wesen besteht darin, Fragen zu
stellen, nicht Antworten zu geben. Und genau da liegt's im Argen bei den
gesichteten Werken: Sie schwelgen im Bescheidwissen. Diesen Jungs und Mädels
macht keiner was vor. Hier schreiben abgebrühte Existenzprofis und werfen mit
jovialer Geste ihre Desillusionen unters Volk wie Faschingsprinzen kunterbunte
Hustendrops. Friß, Vogel, oder stirb. Selbst dort, wo diese Popanz-Attitüde
ironisch gebrochen ist - wir denken an Stucki und Szymanski -, entlarvt sich der
betreffende Autor damit n i c h t selbst, stellt n i c h t seinen hochtrabenden
Erzählgestus augenzwinkernd in Frage, sondern bestätigt und unterstreicht
denselben nur auf besonders infame Weise. Ironie als die Fortsetzung des
Todernstgemeinten mit anderen Mitteln. Vollkommen humorlos erscheinen deswegen
die Texte über weiteste Strecken, obwohl man beim Lesen zuweilen brüllen könnte
vor Lachen.
Nein, das nicht!, sagt sich der Leser nach der Lektüre. Das
ist das Falsche! Und warum ist es falsch? Weil die Damen und Herren Jungautoren
keinen Respekt vor ihrem Arbeitsmittel, der Sprache, haben. Jawohl. Sie zwingen
sie gnadenlos unter die Knute des Inhalts. Sie mißbrauchen Wörter und Sätze als
stilistisch hochfrisiertes Vehikel ihrer Meinungen über die Welt. Als ob man nur
mal rasch ein paar griffige Formulierungen zu einem angesagten Thema
zusammenzutragen bräuchte, damit 'Wahrheit' entstünde. Dem ist nicht so, wie die
Erfahrung lehrt. Wahrheit hat nur dann eine Chance, behaupten wir, wenn der
Sprache die Ehre des Zweifels angetan wird, ob sie denn überhaupt willens oder
fähig sei, Abläufe und Verhältnisse wahrheitsgetreu wiederzugeben. Diese Ehre
verweigern die Jungautoren ihrem Handwerkszeug. Sie trumpfen lieber mit
chromblitzenden Wendungen auf, als ob die Welt seit Anbeginn darauf gewartet
hätte, ausgerechnet von ihnen verstanden und ausgedeutet zu werden. Da packt den
Leser dann wieder das Brüllgelächter. Geschichten, meinen wir, die in
schwelgerischer Erzähllust dahingaloppieren und dabei nicht a u c h die
Möglichkeiten und Grenzen der Sprache mitthematisieren, und sei es nur in Form
ganz von ferne angedeuteter Bedenken hinsichtlich ihrer - Verzeihung! -
kommunikativen Leistungsfähigkeit, solche Geschichten geraten zum reinen
Comicstrip. Literatur mit Videoclip-Ästhetik. Großmeisterin hierin: Karen Duve.
Sie, diese Geschichten, lösen sich ab von jeder Wirklichkeit, genauer gesagt:
von jedem Versuch, Wirklichkeit zu beschreiben, noch genauer: von der Mühe
herauszufinden (Exploration!), ob diese ominöse Wirklichkeit denn überhaupt
existiert. In ihnen ist der erstbeste Eindruck, den die Welt in den
Autorenhirnen hinterläßt, in Schrift umgesetzt. Die Verfasser lassen keinen
Funken Mißtrauen gegen die eigene Wahrnehmung, die daraus gezogenen Schlüsse und
Sentenzen erkennen. Solche Texte nennen wir Trivialliteratur. Sie bedienen den
Gimpel in uns, der sich nach Kohärenz, Kausalität, Witz, Tempo, Spannung und
dergleichen Läppischem sehnt, weil er sein Dasein fristen muß in einem
Realkontinuum, das diese Merkmale nur sehr bedingt enthält. Deshalb gefallen sie
uns, die Geschichten. Schlecht sind sie trotzdem. Eben weil sie nicht 'wahr'
sind, ja ihnen die 'Wahrheit' völlig schnurz ist. Genau besehen sind diese
Literaturwerke deshalb nichts anderes als Demonstrationen von
Formulierungsfertigkeiten in Romanstärke anhand an den Haaren herbeigezogener
Geschichtchen, von TV-Unsäglichkeiten wie etwa 'Gute Zeiten, schlechte Zeiten',
'Verbotene Liebe' und dergleichen nur insoweit unterschieden, als sie einen
höheren Grad an Eloquenz besitzen: Der triviale Inhalt wird halt etwas gewandter
dargeboten. Neueste deutsche Texte als literarisches Äquivalent zur
Milchschnitte: Schmeckt leicht und belastet nicht - doch nach spätestens drei
dieser Syntho-Happen wird einem kotzübel davon.
Elsbeth v. Joolen und Schwallbach
AUSGABE 4 Dezember 2000
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