Geschrieben am 16. Dezember 2018 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2018

Eine Weihnachtsgeschichte von Sara Gran

Gran, Sara_Credit Eliza Gran

Sara Gran (c) Eliza Gran

Das Rätsel des Pilzgeflechts, das uns manchmal, hoffentlich, auffängt, wenn wir fallen

von Claude.
Eine Erzählung von Sara Gran  – Deutsch von Eva Bonné.

Gegen Ende meines Studiums begann ich, für Claire DeWitt zu arbeiten, die beste Detektivin der Welt. Ich werde wohl nie erfahren, ob es das Beste war oder das Schlimmste, was mir je passiert ist. Vielleicht war es das Interessanteste. Mit interessant ist es immer so eine Sache.
Angefangen hatte es natürlich mit dem Buch. Als ich Claire kennenlernte, studierte ich Mediävistik und schrieb gerade an meiner Doktorarbeit. Eines Tages, als ich in Berkeley in der Bibliothek saß, fiel ein kleines Taschenbuch mit dem Titel Détection aus dem Regal und fast auf meinen Kopf. Als ich das Buch zum ersten Mal in die Hand nahm, fühlte es sich an, als hätte ich mein Leben lang mit dem falschen Schlüssel in einem Schloss herumgestochert, doch nun passte der Schlüssel perfekt und öffnete jedes Schloss mit einem satten, leisen Klick. Je länger ich in dem Buch las, desto intensiver wurde das Gefühl. Schlösser schnappten, Türen öffneten sich, und Millionen von Kleinteilen rutschten an den richtigen Platz, gemächlich und unaufhaltsam, wie in einer zauberhaften Weltmaschine.

Nachdem ich mich mit dem Buch beschäftigt hatte, unterbrach ich das Studium eine Weile. Nach einer gewissen Zeit mit Claire kehrte ich an die Uni zurück, bloß dass ich die Doktorarbeit jetzt nicht mehr in Mediävistik schreiben wollte, sondern in Semiotik. Ich wusste nicht mehr genau, was ich überhaupt an der Uni wollte. Ich hatte nie vor, später als Dozent zu arbeiten, und obwohl ich hier und da publizierte, trug ich keinen großen Roman mit mir herum, der endlich aufgeschrieben werden wollte. Ich hatte jede Menge Ideen, aber kein gesteigertes Bedürfnis, mich als Intellektuellen in Szene zu setzen, was eine der Voraussetzungen für akademischen Erfolg gewesen wäre. Auf dem Arbeitsmarkt sah es so oder so düster aus. Aber ich mochte meine Arbeit, hielt mich gern in der Uni auf und kannte nichts anderes. Irgendwie fühlte ich mich dort zu Hause.

Nebenbei jobbte ich als Privatdetektiv. Ich kann nicht behaupten, ich hätte einen Fall gelöst, wohl aber, dass ich bei der Aufklärung von sechsundvierzig Fällen assistiert hatte.
Manche waren eher banal, wie die Spur des Verlegten Vermögens. Im Grunde ging es da nur um ziemlich wertvollen Goldschmuck, den Claire als Honorar nach einem Fall erhalten und dann verlegt hatte. Wir fanden ihn in der Damentoilette eines Pokerclubs in San Mateo wieder. Andere Fälle waren groß, beispielsweise der Fall des Durchbohrten Herzens, der fünf Menschenleben gekostet hatte und uns nächtelang nicht schlafen ließ. Danach hätte ich fast das Handtuch geworfen. Aber nach einer Pause von einigen Wochen lud Claire mich auf einen Tagesausflug nach Bodega Bay ein, kaufte mir Austern und Fischsuppe – mein Leibgericht – und machte mit mir eine lange Wanderung durch das Vogelschutzgebiet, und da spürte ich irgendwie, dass ich bei ihr und in diesem Job eine neue Art Heimat gefunden hatte.

bod

Ehrlich gesagt erinnerten mich Claires hoffnungslose Labilität und Unzuverlässigkeit an meine Herkunftsfamilie. Meine Eltern waren intelligente, unberechenbare, charmante Narzissten. Ich liebte sie trotzdem, wie Claire. Wenn ich alle meine menschlichen Beziehungen zusammenrechnete, ergab sich unter dem Strich eine halbwegs normale Familie. Zu dem Netzwerk gehörten auch meine Cousine Elena, mein Onkel Jerome und meine Patentante Helena.
Helena wurde meine erste Mandantin.
Als sie mich um Hilfe bat, ging ich sofort zu Claire.
„Wie viele Fälle hast du bearbeitet?“, fragte sie. Sie lag auf dem Sofa und schaute sich auf dem Laptop Videoclips von Paul Stamets an. Zu der Zeit hatte sie es mit den Pilzen. In der Küche wuchsen Shiitake und Rosenseitlinge, auf der Feuertreppe Glänzende Lackporlinge und im Schlafzimmer Magic Mushrooms.
„Sechsundvierzig“, sagte ich.
„Es ist an der Zeit, deinen eigenen Fall zu lösen“, sagte Claire. „Seit wann arbeitest du für mich? Seit ein paar Jahren, mindestens.“
„Länger“, sagte ich. „Viel länger.“ „Du bist … was, Mitte dreißig?“, fragte sie. „Ja“, sagte ich, „ziemlich genau.“ „Okay“, sagte sie, „du bist bereit.“
Ich saß ihr gegenüber. Sie sah mich nicht an. Ich war mir nicht sicher, ob es sich um Claire in Hochform handelte, die mich mit Erkenntnissen bezüglich meiner Reife und der Notwendigkeit neuer Herausforderungen konfrontierte, oder um Claire in einem Formtief, die mich einfach nur loswerden und sich wieder ihren Pilzen zuwenden wollte.
Claire stoppte das Video, klappte den Laptop zu und sah mich an.
bod1„Claude“, sagte sie, „ich rate dir das nicht aus einer Laune heraus, und die Pilze haben nichts damit zu tun. Also, haben sie natürlich, sie haben mit allem zu tun, aber das zählt gerade nicht. Du bist bereit. Du kennst die Frau. Du kennst die Welt. Es ist dein Fall, geh und löse ihn. Das Geld kannst du behalten.“
Ich nickte und blieb sitzen.
„Du bist immer noch mein Assistent“, sagte sie. „Ich brauche dich. Du orientierst dich nicht um, noch nicht. Es ist nur eine Nebentätigkeit. Und wenn es gut läuft, kannst du es irgendwann wiederholen.“
„Okay“, sagte ich und stand auf.
„Jetzt geh und lös deinen Fall“, sagte sie. „Und wenn du das nächste Mal herkommst, bringst du mir Maitake-Sporen mit.“

Zu Collegezeiten war Helena die beste Freundin meiner Mutter gewesen. Sie sah aus wie eine Anwältin; meistens trug sie konservative Kostüme, Seidenblusen mit ausgefallenem Kragen und halbhohe Pumps. Doch sie war keine Anwältin, sondern Literaturprofessorin in Stanford und ein sehr netter Mensch. Meine Detektivarbeit sah sie – wie meine Eltern – eher kritisch, deswegen hatte ich, als sie mich anschrieb und ein gemeinsames Mittagessen vorschlug, nicht gedacht, es könnte um einen Fall gehen. Ich dachte mir gar nichts dabei. Wir verabredeten uns regelmäßig zum Mittag- oder Abendessen, und wenn meine Eltern wieder mal über Feiertage verreist waren, lud Helena mich zu sich nach Hause ein.

Wir trafen uns im Chez Panisse. Ich konnte sofort sehen, wie nervös sie war. Sie atmete flach, ihre Stimme zitterte, ihr Lächeln war schief und falsch.
Wir sahen uns die Karte an und bestellten. „Helena“, sagte ich, „ich bin jetzt Detektiv, und ich kann dir ansehen, dass irgendwas nicht stimmt.“
Eine lange Zeit betrachtete sie mich mit einem merkwürdigen Ausdruck.
„Ich glaube …“, sagte sie, brach ab, setzte von Neuem an.
„Ich bin sehr stolz auf dich, Claude. Du bist jetzt erwachsen. Ich hoffe, dass du mir helfen kannst, denn ich werde dich um Hilfe bitten. Gleichzeitig habe ich … Ich habe das Gefühl zu fallen, und ich weiß nicht, ob die Welt mich auffangen wird. Ich habe es verbockt. So richtig.“
Ich nahm ihre Hände.
„Ich fühle mich alt“, sagte sie. Sie verzog das Gesicht und versuchte, nicht zu weinen. „Ich glaube, ich werde Henry verlieren. Ich werde alles verlieren.“
„Tante Helena“, sagte ich. So hatte ich sie als Kind immer genannt. „Was die Welt machen wird, weiß ich nicht, aber ich bin auch noch da. Was immer auch passiert, du kannst auf mich zählen.“
Sie holte tief Luft und blinzelte die Tränen weg.
„Erzähl es mir“, sagte ich. „Fang einfach an. Egal, wo.“ „Okay“, sagte Helena. „Dann fange ich von vorne an.“
Sie fing aber nicht an. Das Essen wurde gebracht. Helena hatte eine Pizza mit Ziegenkäse und Zitrone bestellt, ich Entenbraten mit Cranberrysauce. Wie Sie aus dem Menü schließen können, fand das Treffen kurz nach Thanksgiving statt.
Wir kosteten das Essen und versicherten einander, wie köstlich es sei. Was sonst, wir waren im Chez Panisse.
Schließlich sagte ich: „Tante Helena, nun komm schon. Erzähl.“

Gran, Das Ende der Lügen

Das Ende der Lügen (The Infinite Blacktop), ein neuer Fall für Claire DeWitt, erscheint am 25. Februar 2019

Sie holte tief Luft und erzählte. Helena hatte etwas Unnahbares, eine ausgesprochen anmutige Haltung, die ich abwechselnd beruhigend und verstörend fand. Sie erinnerte mich ein bisschen an Dorothy Dandridge oder Lena Horne; eine besonnene, elegante Schwarze aus einer anderen Ära, die stets die richtigen Worte parat hat und in der Handtasche Pfefferminzbonbons für anderer Leute Kinder. Nur manchmal strahlte sie eine gewisse Härte aus. Da war kein Spielraum für Fehler. Inzwischen hatte ich allerdings gelernt, dass in Fehlern jede Menge Potenzial steckt, dass sie sogar einen gewissen Wert haben können. Nur durch Fehler kommt Leben zustande. Ein Spermium und eine Eizelle kollidieren und verschmelzen, aus einem alten Kohlkopf wird Kimchi.
„Ich habe einen Fehler gemacht“, sagte Helena und schaute auf ihre Pizza nieder. „Mit Henry. Bitte, nimm mir etwas ab“, sagte sie, „es ist mir zu viel.“
Ich wusste, sie sprach über die Pizza, aber vielleicht meinte sie auch ihre Schuldgefühle. Sie war seit ungefähr zwanzig Jahren mit Henry verheiratet. Er war ein guter Mensch. Er leitete eine internationale Hilfsorganisation.
„Einen Fehler?“, fragte ich.
Helena blickte nicht auf. „Nimm ein Stück, bitte“, sagte sie. „Es ist zu viel, ich schaffe das nicht.“
Ich nahm ein Stück Pizza von ihrem Teller. Es schmeckte köstlich, was sonst.
Helena sah mich an. „Da war eine Frau in Stanford. Eine Mathematikprofessorin. Wir hatten … o je, es gibt kein passendes Wort dafür. Es ist zu schrecklich. Ich kann nicht glauben, dass ich so etwas getan habe. Wir hatten eine Affäre. Na ja, eigentlich keine richtige Affäre, nur einen Abend und zwei Nachmittage. Wir waren befreundet und haben … Ich weiß auch nicht. Es fühlte sich so … Ich weiß es nicht. Ich verstehe es nicht. Sonst war ich immer eine sehr treue Ehefrau, das weißt du.“
„Ja“, sagte ich. „Also war es … ein Ausrutscher. Ein Fehler. Was ist das Problem?“
„Das.“
Helena zog einen braunen Briefumschlag aus ihrer Handtasche und überreichte ihn mir. Darin steckte ein Blatt Papier aus einem Tintenstrahldrucker. Papier, wie es in jedem Laden zu kaufen war. Ich hielt das Blatt vorsichtig an den Rändern und las:

ICH WEISS, WAS DU GETAN HAST

Ich sah Helena an.
„Es ist schon der zehnte“, sagte sie, „oder der zwölfte. Anfangs habe ich sie weggeschmissen. Ich wusste nicht, was das soll. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es nur der Anfang war.“
Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich nahm wieder ihre Hand.
„Claude“, sagte sie, „ich habe solche Angst. Du weißt ja nicht, wie das ist, älter zu werden. Ich kann nicht noch mal von vorn anfangen. Ich will nicht alles verlieren.“
Helena war um die fünfzig und auf keinen Fall eine alte Frau. Aber ich wusste, was sie meinte. Sie und Henry führten ein gemeinsames Leben mit sich überschneidenden Freundeskreisen, Kollegien und Familien. Wenn Henry sich von ihr trennte, würde sie nicht nur einen Ehemann verlieren – was an sich schon schlimm genug wäre –, sondern das Leben, das sie sich jahrelang aufgebaut hatte. Mir erschien es recht beschränkt – ich fürchtete, selbst eines Tages so zu leben wie sie –, aber es gehörte ihr und war genau das, was sie wollte; und sie war meine Patentante, Klientin und Freundin.
„Keine Sorge“, sagte ich. „Dein Patensohn ist Privatdetektiv. Ich werde das Problem für dich lösen.“
Sie bemühte sich, erleichtert auszusehen. Ich wünschte mir, sie hätte mehr Vertrauen in mich, aber das würde noch kommen.
Wir unterhielten uns ein bisschen über ihren Alltag und suchten nach den offensichtlichen Hinweisen. Es gab keine. Helena und Henry gehörten einer internationalen Gemeinschaft aus Akademikern, Autoren und Mitarbeitern von Non-profit- Organisationen an, die in Berkeley, Stanford und Umgebung wohnten. Sie selbst lebten in Half Moon Bay und hatten für den nächsten Sonntag zu einer kleinen Party eingeladen: Ein Kollege hatte den Thimbleton Award gewonnen, eine bedeutende Auszeichnung für Übersetzer.

Wir sprachen noch ein wenig, aber nichts stach heraus. Zum ersten Mal war ich gezwungen, meinen detektivischen Blick, wie Claire es nannte, auf mein eigenes Leben zu richten, und was ich sah, war nicht gerade angenehm. Helena war für mich immer so etwas wie ein Mutterersatz gewesen, weil meine leibliche Mutter, obwohl sie gelegentlich sehr nett und charmant sein konnte, eher distanziert und vollkommen verrückt war. Nun betrachtete ich Helena zum ersten Mal als ganz normale Frau, und in der Konsequenz erschien sie geschrumpft. Die mütterlichen und magischen Eigenschaften, die ich ihr zugeschrieben hatte, verblassten, und zum Vorschein kam eine gewöhnliche Frau, die Fehler machte und sich dafür schämte. Ein alternder Mensch mit einem schwachen Körper, der sich ebenso nach Aufregung sehnte wie nach Geborgenheit. Was man bei der Detektivarbeit als Erstes aufdeckt, ist ein zutiefst menschliches Paradoxon: Aufregung versus Geborgenheit. Bekanntes versus Unbekanntes. Spaß versus Sicherheit. Alles nur Variationen ein und desselben Themas.

Als Kind hatte ich Helena immer für einen Menschen gehalten, dem derlei banale Probleme fern sind. Jetzt, als erwachsener Mann, bewunderte ich sie um so mehr dafür.
Nach dem Essen standen wir draußen an der Shattuck Avenue. Ich umarmte sie fest. Ich bin einen halben Kopf größer als sie.
„Hab dich lieb“, sagte ich. „Wir bringen das in Ordnung.“
Helena sagte nichts und drückte mich zurück. Ich spürte, wie sehr sie mir glauben wollte.

Am Sonntag fuhr ich zu der Party bei Helena und Henry. Die beiden wohnten in einer ruhigen Seitenstraße im kleinen Half Moon Bay. Bis in die Sechzigerjahre hatten nur Farmer dort gelebt, später kamen dann die Hippie-Farmer dazu. Inzwischen findet man in Half Moon Bay eine merkwürdige Mischung aus IT-Leuten, Universitätsangestellten, Farmern und Hippies.
Helena und Henry bewohnten ein weißes Häuschen aus den 1930ern. Es war dermaßen gepflegt und gut in Schuss, dass es fast erstarrt wirkte: Akkurat gestutzte Hecken und kleine lila Blumen, deren Namen ich nicht kenne (Claire wäre enttäuscht) und die in jedem Vorgarten der Bay zu finden sind.
Ich parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor einem fremden Haus. Im Garten stand ein Mädchen und schaute zu Henry und Helena hinüber. Das fremde Haus war neu, keine fünf Jahre alt, und potthässlich. Es war locker zehn Millionen Dollar wert. In der Einfahrt standen zwei neue BMW. Ich gestand mir nur ungern ein, dass ich bezüglich der Einwohner des Ortes einige Vorurteile hegte, aber so war es nun mal. Mein erster Gedanke war: IT-Leute, zu viel Geld, Einzelkind, Arschlocheltern.

„Hallo“, sagte ich zu dem Mädchen. Die Kleine war weiß, elf oder zwölf Jahre alt und trug Jeans, Turnschuhe und T-Shirt. Sie wirkte unglaublich unreif, auf eine unangenehme Weise. Sie war kein bisschen niedlich.
Sie funkelte mich böse an.
„Warum feiern die eine Party?“, fragte sie.
„Ein Freund von Helena und Henry hat einen Preis gewonnen“, sagte ich. „Willst du mitkommen?“
„Ich bin nicht eingeladen“, sagte sie.
„Sicher würden sie sich über deinen Besuch freuen“, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, wie man mit Kindern redet. Meistens behandelte ich sie wie Erwachsene, mit unterschiedlichem Ergebnis.
Diesmal hatte es offenbar nicht geklappt. Das Mädchen kehrte mir den Rücken zu und betrachtete sein hässliches Elternhaus.

Das Haus von Helena und Henry war geschmackvoll und gemütlich eingerichtet – neutrale Farben, gute Möbel, und Kühlschrank, Hausbar und Gästezimmer waren stets gut gefüllt. Ich hatte schon oft dort übernachtet. Die Party war bereits in vollem Gange: Etwa dreißig Gäste tranken, knabberten kleine Quiches und Spießchen und taten so, als feierten sie den Preisträger. Mir kam diese Welt der Gelehrten und Intellektuellen unglaublich blutarm und leblos vor in ihrer Angst vor dem Neuen, ihrem Misstrauen vor der praktischen Erfahrung, ihrem Wunsch, sich alles Wissen gefahrlos aus den Seiten eines Buches anzueignen, statt sich dem mit Dreck, Blut und Sex besudelten Leben auszusetzen.

Die Party plätscherte so nett und langweilig dahin, dass ich mir kurz einbildete, erkältet zu sein; aber dann fiel mir wieder ein, dass sich Langeweile genau so anfühlt. Für mich gab es hier nichts zu sehen. Ich stellte ein paar diskrete Fragen, was aber zu nichts führte. Falls einer der Gäste es auf Helena abgesehen hatte, trug er eine perfekte Maske. Ich erfand eine Ausrede und verabschiedete mich.
Henry brachte mich zum Auto. Er war Spanier, sprach sechs Sprachen und hatte ein Priesterseminar besucht, bevor er auf die Idee gekommen war, eine Flüchtlingshilfe-Organisation zu gründen. Ironischerweise hatte die Organisation ihn reich gemacht. Er wurde pausenlos mit Spendengeldern und Partnerverträgen überhäuft. Er verteilte das Geld, so schnell er konnte, doch es kam zu schnell nach.
„Brauchst du irgendwas?“, fragte er draußen auf der Straße. Die Frage stellte er mir immer. Er wollte mir Geld anbieten, ohne unhöflich zu sein.
„Nein, ich brauche nichts“, sagte ich, „aber danke.“
„Wie läuft das Detektivgeschäft?“, fragte er und zündete sich eine Zigarette an. Schlechte europäische Angewohnheit. Plötzlich war ich mir nicht einmal sicher, dass es ihm besonders viel ausmachen würde, von Helena und ihrer Freundin zu erfahren. Wahrscheinlich würde er verstehen, dass ein kleiner Ausrutscher nicht bedeutete, dass seine Frau ihn weniger liebte. Aber Helena wollte nicht, dass er davon erfuhr, und sie war meine Auftraggeberin.
„Ganz gut“, sagte ich. „Mir gefällt’s. Ich glaube, ich bleibe dabei.“
Henry legte mir eine Hand an den Rücken. „Schön“, sagte er. „Sehr schön. Guter Junge.“
Ich war dreiunddreißig, aber er meinte es nett, und ich nahm es genau so auf. Er umarmte mich, erinnerte mich daran, ihn anzurufen, falls ich doch etwas brauchen sollte, und kehrte ins Haus zurück.
Das kleine Mädchen von gegenüber war hineingegangen. Es stand jetzt hinter einer bodentiefen Panoramascheibe und starrte mit bösem Gesicht zur Party hinüber. Von innen sah ihr Haus aus wie ein Hilton-Hotel. Ich war erleichtert, ins verdreckte, lebendige Oakland zurückzukommen.
Mein nächster Schritt bestand darin, Helenas Affäre kennenzulernen. Sie hieß Roslyn und war, wie Helena bereits gesagt hatte, Mathematikprofessorin in Stanford. Ich ging während der offiziellen Sprechzeiten zu ihrem Büro, klopfte an und steckte den Kopf zur Tür hinein. Sie sah mich verwirrt an, ich sagte: „Ich bin wegen Helena hier.“
Sie runzelte die Stirn und bat mich herein. Ich setzte mich. Roslyn war über vierzig und japanisch-amerikanischer Abstammung. Ich hatte recherchiert und wusste, dass sie aus Minnesota stammte und eine Koryphäe auf ihrem Gebiet war, auch wenn ich das Gebiet selbst nicht ganz überblicken konnte. Es hatte etwas mit Mathematik und Philosophie zu tun. Roslyn hatte langes, glänzendes, graumeliertes Haar und ein hübsches Gesicht. Sie trug avantgardistische Kleidung, die ich nicht verstand, und kein Make-up außer knallrotem, sehr sorgfältig aufgetragenem Lippenstift.
Ich erzählte ihr, was Helena gerade durchmachte. Sie runzelte abermals die Stirn.
„Wie schrecklich“, sagte sie. „Hoffentlich weiß sie, dass ich nichts damit zu tun habe. Wir hatten eine wunderschöne Zeit. Sie ist eine liebe Freundin. Ich würde ihr niemals schaden wollen.“
Sie sagte die Wahrheit. Wir unterhielten uns noch eine Weile, aber sie hatte nichts Entscheidendes mehr zu berichten. Um Helena schien sie sich aufrichtig Sorgen zu machen. Wir unterhielten uns so freundlich und höflich, als wäre Helena mit im Raum. Ich mochte Roslyn. Sie wirkte sehr gefühlvoll und hatte etwas Verträumtes.
„Ich vermisse sie“, sagte sie, als ich auf dem Weg hinaus war. „Wir waren Freundinnen. Wir müssen nicht … wir brauchen das ja nicht zu wiederholen, wenn sie nicht will. Aber ich vermisse sie und Henry.“
„Ich werde es ihr ausrichten“, sagte ich. Roslyn umarmte mich spontan, ich erwiderte die Umarmung.
„Bringen Sie das in Ordnung, ihr zuliebe“, sagte sie. „Das werde ich“, sagte ich.

Aber so einfach ging das nicht. Den Rest des tages hörte ich mich in Standfort um, stellte Fragen, behielt Helenas Büro im Auge und versuchte herauszufinden, wer Einblick in ihr Leben hatte. Keine Überraschungen, keine schockierende Entdeckung. Helena hatte keine Feinde und, abgesehen von der Affäre, keine großen Geheimnisse.
Drei Wochen vergingen. Langsam wurde ich nervös. Helena wurde noch nervöser. Sie erzählte mir, neuerdings habe sie nächtliche Panikattacken. Als wir uns im Quince trafen, um beim Abendessen über den Fortgang der Ermittlungen zu sprechen, wirkte sie gealtert und zerbrechlich. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, war sie um die richtigen Worte verlegen.
„Du hast nichts?“, fragte sie mit hochgezogenen Schultern und angespanntem Kiefer. „Wie kann das sein?“
„So was braucht Zeit“, sagte ich und merkte sofort, wie furchtbar diese Antwort war. Ich konnte praktisch zuschauen, wie ihr Vertrauen in mich schwand. Und noch etwas schwand, und das war viel schlimmer: Helenas sanfte Mischung aus Frohsinn und Achtsamkeit, die ich – das merkte ich jetzt erst – viel zu wenig wertgeschätzt hatte.
Ich fühlte mich schrecklich.
Ein paar Tage später traf ich mich mit Claire in ihrem burmesischen Lieblingsrestaurant. Wir aßen Seewolf mit Okraschoten und besprachen den Fall. Ich erzählte ihr alles.
„Hör auf, ein guter Freund zu sein“, sagte Claire. „Oder ein guter Patensohn. Oder überhaupt gut. Ich weiß, wir reden hier von deiner Familie, es ist dir sehr wichtig, ihnen zu beweisen, dass du ein guter Detektiv bist. Aber sie brauchen das gar nicht zu wissen. Es reicht, wenn du es weißt.“
Sie hatte recht. Ich war zu sehr auf eine Lösung erpicht, aus den falschen Gründen. So würde ich nicht weiterkommen. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich die Lösung direkt vor der Nase hatte und sie nur noch nicht sehen konnte.
„Stell alles infrage“, sagte Claire. „Glaube nichts. Folge den Hinweisen.“

Mit diesem Rat im Hinterkopf machte ich mich wieder an die Arbeit. Helena hatte gleich nach der Sonntagsparty einen weiteren Brief bekommen. DU HAST EINEN FEHLER GEMACHT, stand da. In Bezug auf was? Seit wann? Ich verstand nichts mehr.
Selbstverständlich hatte ich die Briefe auf Fingerabdrücke untersucht. Leider herrschte auf beiden das absolute Chaos: Erwachsene, Kinder, nie alle Finger einer Hand, manchmal nicht einmal ein ganzer Abdruck, und keiner davon war irgendwo gespeichert. Aufgegeben wurden die Briefe in der näheren Umgebung. Nichts davon überraschte mich.

Ich arbeitete nun seit fast vier Wochen an dem Fall. Es war drei Uhr morgens, ich saß in meiner winzigen Einzimmerwohnung in Oakland und verschaffte mir gerade einen Überblick über die gesammelten Indizien. Ich hatte zwei Briefe samt den Umschlägen, und die Fingerabdrücke. Mehr nicht.
Ich fühlte mich immer noch schrecklich. Ich zweifelte nicht nur an meiner Fähigkeit, diesen konkreten Fall zu lösen, sondern an meiner grundsätzlichen Eignung.
Was, wenn ich den Durchbruch als Detektiv niemals schaffte? Wenn ich nicht gut genug war? Was, wenn mein Leben bloß aus Cocktailpartys, passiv-aggressiven Rangeleien um Dozentenstellen und dem Versuch bestand, mir meinen Neid auf die Erfolge anderer Leute nicht anmerken zu lassen? Mein Leben lang hatte ich der akademischen Welt gemischte Gefühle entgegengebracht – was, wenn es für mich keine Alternative gab? Wenn es mir nicht beschieden war, ein anderes, interessanteres Leben zu führen?
Ich stand auf und tigerte durchs Zimmer. Je mehr Raum ich meinen Selbstzweifeln zugestand, desto größer wurden sie, und irgendwann konnte ich gar nicht mehr über den Fall nachdenken. Ich steigerte mich in eine Hysterie hinein, die vollkommen untypisch für mich war. Ich war – und bin immer noch – ein sehr emotionaler Mensch. Aber immer wieder im Leben war ich in Situationen geraten, in denen ich meine Gefühle unter Verschluss halten musste.

Aber jetzt hatte ich keinen Grund mehr, mich zusammenzureißen. Die wilden, ungezähmten Emotionen waren bedrohlich und schmerzhaft. Wie war ich auf den Gedanken gekommen, ich könnte Detektiv sein? Wie hatte ich Helena so etwas antun können? Sie hatte mir vertraut, und ich hatte sie enttäuscht. In meiner konfusen Angst sah ich voraus, wie Helenas schlimmste Befürchtungen sich bestätigten und Henry alles herausfand. Helena würde mir nie vergeben, und beide würden mich für immer aus ihrem Leben ausschließen. Ich sah mich gegenüber von ihrem Haus im Auto sitzen, so wie vor vier Sonntagen; drinnen fand eine Party statt, aber diesmal war ich nicht eingeladen.
Und dann geschah es.

Ich hatte davon gehört und viel darüber gelesen, aber am eigenen Leib erlebt hatte ich es nie. Es war anders und intensiver und viel besser, als ich gedacht hätte. Es war so befriedigend wie ein Orgasmus, nur ohne klebrige Körperflüssigkeiten oder andere Menschen. Es war, als würde der passende Schlüssel ins Schloss gleiten und der Zylinder klicken. Es war, als würde die Sonne ausgerechnet an dem Tag, an dem man ein Picknick geplant hat, endlich wieder durch die Wolken brechen.
„Wow“, sagte ich in das leere Zimmer hinein. „Holla. Oh, Mann. Wow.“
Ich hatte den Fall gelöst.

Es war drei Uhr nachts. Kurz überlegte ich, bis zum Morgen zu warten, aber dann dachte ich: Claire würde es sofort tun.
Also tat ich es sofort. Es war wenige Tage vor Weihnachten. Ich fuhr nach Half Moon Bay und parkte das Auto an derselben Stelle wie beim letzten Mal, vor dem Zehn-Millionen-Dollar-Haus. Im Zehn-Millionen-Dollar-Haus war alles dunkel und still.
Es war kurz vor fünf. Aufgeregt beobachtete ich Helenas Haus. Um 5:55 Uhr ging das Licht an.
Ich schrieb Helena eine SMS. Sie kam heraus, in einem Flanellpyjama und einem karierten Morgenmantel und mit verwirrtem Gesichtsausdruck.
Ich öffnete die Beifahrertür, sie stieg ein.
„Was ist passiert?“, fragte sie.
„Ich habe den Fall gelöst“, sagte ich. „Glaube ich zumindest.“
Ihr Gesicht entspannte sich. Auf einmal wirkte sie zehn Jahre jünger.
„Aber“, sagte ich, „habe ich dir jemals den Unterschied zwischen einem Verbrechen und einem Rätsel erklärt?“
„Nein, ich glaube nicht“, sagte Helena und sah wieder besorgt aus. „Wo ist der Unterschied?“
„Die Briefe, die du bekommen hast, stellen eine Straftat dar“, sagte ich. „In diesem Fall Nötigung. Wir können herausfinden, wer sie abgeschickt hat – ich glaube, ich weiß, wer es war – und die Person zur Rechenschaft ziehen. Bleibt das Rätsel. Und das ist …“
Ich bemühte mich, ihr den Unterschied zu erklären. Ich hatte nie versucht, ihn in eigene Worte zu fassen.
„Das Rätsel ist das Loch im Gewebe des Lebens“, sagte ich.
Helena sah mich an. Anscheinend leuchtete es ihr nicht ein. Meine pädagogischen Fähigkeiten waren beschämend.
„Das Rätsel“, sagte ich und zitierte einen Satz von Claire, der immer gut ankam, „ist ein kleines Stückchen Welt, das verdreht wurde, und wir müssen es geradebiegen.“
Helena starrte mich an. Nun standen wir beide in einem schlechten Licht da. Ich war drauf und dran, sie zu verlieren. Ich versuchte es ein letztes Mal.
„Das Rätsel“, sagte ich, „ist eine Situation oder ein Umstand oder ein Mangel oder ein Gefühl oder ein Stück Realität, das niemand in Augenschein nehmen will. Und genau an der Stelle, wo niemand hinsehen wollte, ergab sich die Gelegenheit zu einem Verbrechen.“
Oh“, sagte Helena. „Okay.“
Sie hatte verstanden.

In dem Moment öffnete sich die Tür des Zehn-Millionen-Dollar-Hauses, und das kleine Mädchen kam heraus. Sie war wieder allein. Wieder blickte sie finster drein. Sie trug einen schweren Rucksack. Zwei BMW in der Einfahrt, und sie fuhr mit dem Bus zur Schule.
Ich öffnete die Fahrertür, stieg aus dem Auto und ging auf das Mädchen zu.
„Hey“, sagte ich.
Das Mädchen entdeckte Helena auf dem Beifahrersitz und warf ihr einen gemeinen Blick zu.
„Wie heißt du?“, fragte ich.
„Warum wollen Sie das wissen?“, fragte sie zurück.
„Weil du einer meiner besten Freundinnen das Leben schwer gemacht hast“, sagte ich. „Aber damit ist jetzt Schluss.“
Das Mädchen sah erschrocken aus. Noch bevor ich reagieren konnte, rannte sie los. Die Sonne ging gerade auf, doch es war immer noch neblig und dunkel. Ich rannte hinterher. Keiner von uns beiden war besonders sportlich. An der Ecke hatte ich sie eingeholt. Ich packte sie beim Sweatshirtkragen, und sie riss den Mund auf, um zu schreien, aber ich sagte: „Nein. Lass es einfach.“
Sie ließ es und fing stattdessen zu weinen an. Zuerst schniefte sie nur ganz leise, dann brach sie übergangslos in ein heftiges Schluchzen und Keuchen aus. Tränen und Schleim tropften ihr vom Kinn.
„Sie hat alles“, heulte das Mädchen zwischen zwei Schluchzern auf. „Sie hatte alles, und sie wollte es nicht mal.“ Ich kniete nieder, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein, und nahm ihre Hand. Sie fühlte sich hart und verkrampft an.
„Was ist alles?“, fragte ich. „Was hatte Helena denn?“
„Sie hat Henry“, weinte sie. „Sie hat Henry und Sie und all diese Leute, die ständig zu Besuch kommen. Sie hat alles, aber es bedeutet ihr nichts. Es ist ihr egal. Sie hat zugelassen, dass diese Frau kommt und alles kaputtmacht. Sie hat alles, aber sie macht es kaputt. Und jetzt muss sie dafür bezahlen. Manche Leute haben gar nichts! Ich wette, das wussten Sie nicht, denn Sie sind genauso dumm wie sie. Aber manche Leute haben nichts!“
Da wurde mir klar, dass sie Helena monatelang, vielleicht sogar jahrelang beobachtet hatte, vom Vorgarten aus. Sie fing wieder zu schluchzen an, merkwürdige Laute kamen aus ihr heraus wie aus einem Tier. Jetzt erst fiel mir auf, dass uns niemand gefolgt war.
„Scheiß auf sie“, sagte das Mädchen, „ich hasse sie. Ich hasse sie so sehr.“
Helena kam näher, im Flanellpyjama.
Sie sah das Mädchen an, dann mich.
„Was um alles in der Welt tut ihr da?“, fragte sie.
„Tante Helena“, sagte ich, „darf ich dir die Täterin vorstellen?“
Das Mädchen lief davon. Helena und ich schauten ihr nach.
Helena runzelte bekümmert die Stirn, sie wirkte sehr traurig. Das Verbrechen war aufgeklärt. Beim Rätsel war ich mir nicht so sicher.

Drei Tage später war Heiligabend. Helena und Henry feierten wie jedes Jahr. Mein Vater war auf einem Symposium in Schweden, meine Mutter bei Verwandten in Paris. Ich fuhr bei Sonnenuntergang von Oakland nach Half Moon Bay. Weihnachten mit Akademikern ist immer so eine Sache. Um die Feiertage herum werden sie leicht depressiv. Und falls nicht, wollen sie besonders witzig sein und stellen die politische Korrektheit von Weihnachtsliedern und Fleischkonsum infrage. Es ist mühsam.

Aber dieses Jahr war plötzlich alles anders. Zunächst einmal stand da ein riesiger, kitschiger, aufblasbarer Weihnachtsmann vor dem Haus. Von den üblichen, geschmackvollen weißen Lichterketten auf der Veranda war nichts zu sehen. Außerdem hörte ich Musik, aber diesmal keine Weihnachtsklassik und auch keinen Jazz, sondern etwas Fröhliches von Stevie Wonder. Claire hatte einmal behauptet, alle Menschen liebten Stevie Wonder. Im Laufe der Jahre habe ich gemerkt, dass sie damit recht hatte.
Und die größte Überraschung sollte erst noch kommen: Als ich das Haus betrat, sah ich Roslyn zwischen den üblichen zwanzig bis dreißig Gästen sitzen. Sie trug ein anderes schwarzes avantgardistisches Outfit als beim letzten Mal, ihr Lippenstift war leicht verschmiert. Sie lächelte mich beschwipst an.
„Claude!“, sagte sie und umarmte mich, als wären wir alte Freunde. Ich erwiderte die Umarmung.
„Kommen Sie“, sagte sie, „trinken Sie etwas mit mir.“ Wir bahnten uns einen Weg in die Küche, wo sie mir einen Eggnog mixte.
„Danke“, sagte sie und umarmte mich wieder. „Danke, dass Sie mir meine Freundin zurückgegeben haben.“
Roslyn verschwand zwischen den Gästen. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Ich hatte Henrys und Helenas Weihnachtsfeier schon Dutzende Male besucht, aber diesmal fühlte es sich völlig anders an. Die früheren Feste waren blutleer gewesen, dieses war immerhin schwach durchblutet – ich spürte Leben, Sex, Liebe, Gefühle.

Helena und Henry standen am anderen Ende des Wohnzimmers und unterhielten sich mit den Porters, zwei langweiligen Physikdozenten aus Berkeley, die ich schon ewig kannte. Henry und Helena strahlten so zufrieden, als hätten sie – es war ein bisschen seltsam, sie sich so vorzustellen – vor Kurzem Sex gehabt.
Zwischen ihnen stand das Mädchen von gegenüber. Die kleine Erpresserin. Helena und Henry hielten sie an den Händen. Das Mädchen trug eine billige rote Weihnachtsmütze. Helena und Henry schauten alle paar Sekunden zu ihr hinunter, lächelten sie an, drückten ihre Hand.
Das Mädchen sah völlig verändert aus. Sie lachte und zappelte herum wie ein normales Mädchen.
Ich wusste nicht, was passiert war, aber irgendwie war ich nicht mal überrascht.
Ich konnte nicht lange bleiben. Ich musste weiter zu einer anderen Party – ein paar Freunde von der Uni feierten in Oakland. Und am nächsten Morgen, dem Ersten Weihnachtstag, wollten Claire und ich einen Hot-Dog-Stand in Santa Rosa observieren. Wir ermittelten im Fall des Weißesten Zahnes. Danach würden wir zum Geheimnisvollen Ort fahren. Jedes Jahr lud eine Geheimnisvolle Wohltäterin zu einem großen Weihnachtsessen am Geheimnisvollen Ort ein, einer kleinen Touristenfalle mit angeschlossenem Campingplatz in der Nähe von Santa Rosa, wo sich finanziell, spirituell oder anderweitig gescheiterte Menschen eine Auszeit nehmen konnten. Ich war der Meinung, dass niemand Claire den Unsinn von der Geheimnisvollen Wohltäterin abkaufte, aber ihr schien es zu gefallen.

Nicht die schlechteste Art, Weihnachten zu feiern.
Die Welt brauchte mehr solcher Orte. Orte, die einen auffangen, wenn man fällt. An dem Abend formulierte ich etwas aus, was ich immer gewusst, aber nie in Worte gefasst hatte: Im Notfall würde Helena mich auffangen. Auf meine Eltern war kein Verlass, der Rest meiner Blutsverwandtschaft lebte über den Globus verstreut und war ebenso unzuverlässig. Aber ich wusste – auch wenn niemand es je ausgesprochen hatte –, dass ich bei Helena immer ein Zuhause haben würde, egal wo. Mir wurde es jetzt erst klar, während dieser lärmenden, hitzigen Weihnachtsfeier: Dass aus mir doch noch etwas geworden war, hatte ich allein Helena zu verdanken.
Ich ging zu ihr und Henry und dem Mädchen hinüber, um mich zu verabschieden. Roslyn stand bei ihnen. Sie umarmte mich abermals. Ich durchschaute die Dreiecksbeziehung nicht ganz – wer was wusste, wer mit wem schlief –, aber sie waren glücklich und wirkten so froh und erleichtert wie Menschen, deren Rätsel gelöst wurde. Ein bisschen mitgenommen und zerzaust, wie frisch geschlüpfte Küken.

Henry fragte, ob ich irgendetwas brauche, woraufhin Helena und ich lachten. Ich war trotzdem sehr dankbar. Vielleicht würde ich eines Tages Ja sagen.
Ich wollte gerade los, als die Porters mich entdeckten und minutenlang aufhielten. Neben uns standen Helena und das Mädchen am Buffet, sie füllte ihm den Teller. Ich konnte mir für ein Kind und seine Zukunft nichts Besseres vorstellen, als Helena zur Freundin zu haben.
Helena beugte sich hinunter und flüsterte dem Mädchen ins Ohr. Ich konnte es hören.
Sieh mal“, sagte sie, „sieh mal, was für ein Glück wir haben.“
Ich ließ den Blick so wie sie über die Party schweifen. Natürlich waren die Gäste nicht perfekt. Kein Mensch ist perfekt. Allein durch Fehler kommt Leben zustande.
Ich verließ das Haus und stieg ins Auto.

Mein Handy klingelte, noch bevor ich auf dem Highway war.
Claire rief an. Sicher wollte sie mir zur Lösung meines ersten Falles gratulieren. Ich ging nicht ran. Ich wusste, sie würde Verständnis dafür haben, dass ich den Moment für mich allein haben wollte. Ich wusste auch, sie wusste, dass es mir die Welt bedeutete, dass sie ihn mit mir teilen wollte.
Ich war mir immer noch nicht sicher, ob Claire das Beste oder Schlechteste war, das mir je passiert ist. Ich wusste nur, diesen Moment wollte ich gegen nichts auf Erden und im Himmel tauschen.
Jemand war gefallen, und ich hatte ihn aufgefangen. Es war das beste Gefühl der Welt.
Mir fiel ein, dass ich meinem Fall noch gar keinen Namen gegeben hatte. Ich würde Claire später um Vorschläge bitten. Fürs Erste war ich zufrieden damit, ihn gelöst zu haben. Ich fuhr auf den Highway auf und zurück nach Hause. Obwohl sich in dem Moment, ehrlich gesagt, die ganze Welt anfühlte wie mein Zuhause. Ich wusste, ich wollte nie wieder etwas anderes tun.
ENDE

Gran, Das Ende der Lügen(c) Sara Gran & Heyne Verlag, 2018 – Übersetzung von Eva Bonné

Sara Gran: Das Ende der Lügen (The Infinite Blacktop, 2018). Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné. Heyne Hardcore, München 2019. Erscheinungstermin: 25. Februar 2019. 352 Seite, 16 Euro.

März 2019 Sara Gran auf Lesereise in Deutschland:
25. März 2019: Münchner Krimifestival
26. März 2019: Stuttgarter Kriminächte
27. März 2019/28. März2019: Berlin und Hamburg

Sara Gran schreibt Romane, Drehbücher und gelegentlich auch Essays. Sie lebt im kalifornischen Los Angeles. Bislang hat sie fünf Romane veröffentlicht, darunter mit »Die Stadt der Toten« und »Das Ende der Welt« zwei Romane um die Ermittlerin Claire DeWitt, die – von inneren Dämonen gepeinigt und den Rauschmitteln nicht abgeneigt, dafür aber mit fast schon überirdischem Spürsinn und Kampfgeist – ihre Fälle mit Bravour löst. Auf Anhieb wurde das erste Claire-DeWitt-Buch, »Die Stadt der Toten«, mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet.

Katja Bohnet bei CrimeMag über „Come Closer“.
Thomas Wörtche bei CrimeMag über „Die Stadt der Toten“. Über „Dope„. Über „Das Ende der Welt„.

Tags : ,