Geschrieben am 1. Juni 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2021

Friede, Freude, Totentänze – Kolumne von Iris Boss (13)

Gerne und oft Friedhofsluft

Mein überschaubarer Heimatort war, aus welchen Gründen auch immer, Standort des größten Friedhofs der Schweiz. Ich weiß es nicht genau, aber ich bin ziemlich sicher, dass die Zahl der Toten auf dem Gemeindegebiet die der Lebenden bei weitem überstieg. Auf jeden Fall nahm der Friedhof eine größere Fläche ein als die gesamte Innenstadt – von uns nur „das Dorf“ genannt. Trotz dieser räumlichen Präsenz hatte der Ort für mich als Kind nie eine Rolle gespielt. Eine Grünfläche mit Grabsteinen, umgeben von einer hohen Mauer – der Friedhof eben… Erst mit Eintritt in die Pubertät begann er für mich eine Faszination zu entwickeln. Das hatte auch mit den drei oder vier „Grufties“ zu tun, die auf meine Schule gingen. Sie gehörten mit ihren langen schwarzen Ledermänteln, schwarzem Kajal, weiß gepuderten Gesichtern und den Schwaden von Patchouli, die auch noch in den Fluren hingen, wenn ihre Verursacher längst in einem der Klassenräume verschwunden waren, zum Exotischsten, was mir in meinem kurzen Leben bisher begegnet war. Ob es sich bei den Gerüchten, die über sie die Runde machten, um Mobbing, Selbstinszenierung oder eine Mischung aus beidem handelte, ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen: Von satanistischen Ritualen auf dem Friedhof wurde gemunkelt, von schwarzen Messen mit Blutopfern, Bibelverbrennungen, Grabschändungen und „irgendwelchem Sex-Zeug“ und unsere Phantasie von heimlich geguckten Filmen wie „Der Exorzist“ oder „Rosemary’s Baby“ und MTV-Clips beflügelt. 

Ich weiß nicht mehr, ob dies der Grund für unsere selbstauferlegte Mutprobe war. Jedenfalls beschlossen meine beste Freundin Svenja und ich eines Abends in den Sommerferien, uns nachts auf dem Friedhof einschließen zu lassen. Von dem, was dann geschehen sollte, hatten wir keinen Plan. Unseren Eltern hatten wir – ganz originell – erzählt, wir würden bei der jeweils anderen übernachten, und im Gepäck hatten wir nur einen Gedichtband von Celan und einen von Rilke – ganz schön harter Stoff für zwei Vierzehnjährige – und, nicht minder hart, eine Flasche Pflümli, die wir aus der gut sortierten Hausbar meiner Eltern entwendet hatten. Unsere Recherchen hatten ergeben, dass die großen Tore des Friedhofs bei Sonnenuntergang verschlossen wurden und so versteckten wir uns in der Dämmerung im hintersten Winkel des Geländes hinter ein paar Fliederbüschen. Es war immer noch sehr warm an diesem Abend im Hochsommer und die Gedichte, die wir uns vorlasen, um uns die Zeit zu verkürzen, trockneten den Mund zusätzlich aus. So fingen wir schon bald an, unsere Lippen und Kehlen mit der einzigen Flüssigkeit, die uns zur Verfügung stand zu befeuchten. Ich kann mich noch genau an Svenjas Stimme erinnern, die sie einige Oktaven tiefer machte, als sie mir „Die Todesfuge“ vorlas. Wir verstanden zwar kein Wort davon, aber es war alles sehr bedeutend und je dunkler es um uns herum wurde, auch immer grusliger.

Svenjas Eltern kamen aus Finnland. Und auch wenn ich damit ein Klischee bediene: Sie war einiges trinkfester als ich. Nur die Gefahr, vor meiner besten Freundin das Gesicht zu verlieren, ließ mich meine Abscheu vor dem scharfen Getränk überwinden und immer wieder ein kleines Schlückchen aus der Flasche trinken, denn dass diese als Durstlöscher nichts taugte, war mir ziemlich schnell klar. Inzwischen war es dunkel und wir wussten nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Wir fingen an, uns Gruselgeschichten von Anhalterinnen mit haarigen Händen und mörderischen Puppen zu erzählen. Seltsamerweise wurde Svenja im Gegensatz zu mir nicht immer ängstlicher, sondern mit jedem Schluck aus der Flasche aufgedrehter. Irgendwann fing sie an, „It’s my Life“ von Dr. Alban zu singen, wankte auf eine große Buche zu und ließ sich nicht davon abbringen, auf den Baum zu klettern. Weit kam sie allerdings nicht, denn schon gute zwei Meter über dem Boden schlug ihre Stimmung schlagartig um. Zitternd und heulend umklammerte sie den Baum. Es dauerte gefühlte Stunden, sie durch gutes Zureden und hingestreckte Hände wieder auf die Erde zu bekommen. Und dann ging alles sehr schnell. An den Baum gelehnt im Gras sitzend und immer noch heulend trank sie die Flasche, die sie schon davor mehr oder weniger alleine zur Hälfte geleert hatte, mit ein paar großen Schlucken aus, und ich konnte nur zusehen, wie meine Freundin erst ganz still wurde, sich dann im Gras kniend übergab und schließlich zusammengekrümmt und nicht mehr ansprechbar liegen blieb.

An den Weg zum Haus, in dem Svenja mit ihrer Mutter wohnte, kann ich mich nicht mehr erinnern.  Dafür umso besser an meine panische Angst und die schlagartige Nüchternheit. Auch wie ich es geschafft hatte, den Friedhof zu verlassen und vor allem, wie wir es schafften, die halb bewusstlose Svenja auf die andere Seite der Mauer zu befördern, weiß ich nicht mehr. Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als meine Freundin vollständig bekleidet in der mütterlichen Badewanne kauert und mit eiskaltem Wasser ins Leben zurückgebraust wird. Für Svenja endete der Abend im Krankenhaus, wo ihr der Magen ausgepumpt wurde. Für mich mit einem peinlichen Geständnis zu Hause und ganz bestimmt mehreren Wochen Hausarrest. 

Ich erzähle diesen Schwank aus meiner Jugend deshalb, weil er mir immer mal wieder in den Sinn kommt, wenn ich über einen Friedhof streife. Denn meiner traumatischen ersten Erfahrung zum Trotz habe ich eine große Friedhofsliebe entwickelt. Den Friedhof meines Heimatortes habe ich zwar nie wieder betreten, aber dafür kenne ich so ziemlich jeden Friedhof Berlins. Und wenn ich mich an einem neuen Ort befinde – egal ob aus beruflichen oder privaten Gründen, steuere ich neben dem höchsten zu besteigenden Kirchturm jedes Mal den Friedhof an. Ich drehe dort meine Runden während ich Text lerne oder Kraft und Stille zwischen zwei Proben tanke. Dabei trage ich zwar bestimmt hin und wieder Schwarz, aber weder Patchouli noch ein Pentagramm-Tattoo. Den Begriff „morbider Charme“ habe ich noch nie verstanden – egal, ob es sich um Häuser, ganze Städte oder um Gesichter handelt, denen man ihr Alter ansieht – was mich daran fasziniert, mich anzieht, was ich daran schön finde, hat nichts mit einer Sehnsucht nach dem Tod und ganz viel mit der Liebe zum Leben zu tun. So ist das auch mit Friedhöfen: Gerade die Allgegenwärtigkeit des Todes ist es, die ich als wohltuend und inspirierend empfinde.

So sehr es eine Binse ist, dass der Tod in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr hat, so sehr schreitet diese Entwicklung in meinen Augen voran. Und diese Verdrängung ist alles andere als lebensbejahend. Das hat sich durch den Umgang mit Corona besonders deutlich gezeigt: Auch in diesem Bereich wäre die Pandemie eine hervorragende Lehrmeisterin gewesen, die jedoch leider weitestgehend unerhört blieb. Sowohl die Leugnung und Verharmlosung als auch die an Hysterie grenzende Angst vor dem Virus sind für mich nur durch eine nicht stattfindende Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit zu erklären. Und auch einen Donald Trump oder Attila Hildmann, kann ich mir ausgestattet mit einem Bewusstsein über ihre Vergänglichkeit schlecht vorstellen. Paradoxerweise führt dieses nämlich (zumindest bei mir) nicht zur Einstellung „Nach mir die Sintflut“, sondern im Gegenteil zu einer Wertschätzung nicht nur dem eigenen, sondern allem Leben gegenüber. Es macht freundlicher, gelassener und gleichzeitig fokussiert und motiviert. Der Tod ist nicht das Ziel, aber das einzige, was in unserem Leben wirklich sicher ist und damit eine gute Orientierungshilfe. Doch auch wenn ich – zumindest phasenweise – ziemlich reflektiert mit diesem Thema umgehe, weiß ich nicht, ob es mir in diesem kurzen Leben gelingt, mich damit zu versöhnen. Der eigene Tod ist, wenn man nicht erleuchtet, sondern eben eine Normalsterbliche ist, die höchste Form der Ego-Kränkung und der Verlust eines geliebten Menschen ein Schmerz, der mit keinem anderen zu vergleichen ist. Aber ich glaube, es geht gar nicht so sehr darum, in dieser Disziplin die Meisterschaft zu erlangen. Es geht darum, es immer wieder zu versuchen, zu versuchen, dieser Zumutung nicht dauernd, aber immer mal wieder mit Mut gegenüberzutreten, bis man merkt, dass der Tod – als eingeladener Gast – die Party des Lebens durchaus bereichern kann.

Doch abgesehen von diesen spirituell-philosophischen Aspekten gibt es auch ganz profane Gründe, Friedhöfe zu lieben: In einer Großstadt sind sie schlicht oft die einzigen nicht völlig überlaufenen, zugemüllten und tot-gestädteplanten grünen Oasen. Wunderschöne Alleen, so viele unterschiedliche Bäume, Büsche, Blumen… Füchse, Rehe, Eichhörnchen und wenn überhaupt Menschen, dann nur friedliche. Ja, auch in Sachen Menschlichkeit ist der Friedhof ein beinahe paradiesischer Ort. Ich weiß nicht, ob es Gesetze gibt, die festlegen, was auf einem Grabstein stehen darf und was nicht. Auf jeden Fall habe ich auf all den vielen Friedhöfen noch kein einziges Mal: „Na endlich!“, „Wurde ja auch Zeit!“ oder „Du hast uns von langem Leiden erlöst“ gelesen. Stattdessen steht da: „Du bleibst immer in unseren Herzen“ „In Liebe und Dankbarkeit“ oder „Geliebt und unvergessen“.

 – Geliebt und nicht vergessen werden… Wahrscheinlich kann so ziemlich alles, was wir zu Lebzeiten tun auf diese zwei Wünsche zurückgeführt werden: Wir ziehen dafür seltsame Klamotten an, machen Karrieren, lassen uns Fett aus dem Bauch saugen und in die Lippen spritzen, kriegen Kinder oder schreiben Bücher… Und immer ist diese Liebe noch nicht genug, die Angst, in Vergessenheit zu geraten zu groß. Tja, und dann steht es auf einem Stein und man hat nichts mehr davon… Es kann natürlich sein, dass die zu den betreffenden Steinen gehörenden Menschen dies auch zu Lebzeiten regelmäßig gehört haben, aber das wage ich zu bezweifeln. Fast könnte man denken: Nur ein toter Mitmensch ist ein guter Mitmensch. Die „Body-Fields“ sind in gewisser Weise der krasse Gegenentwurf zu Facebook.

Doch kein Paradies ohne Makel: Literarisch gesehen sind Friedhöfe eine eher bescheidene Angelegenheit: „Du warst so gut, du starbst zu früh, wer dich gekannt vergisst dich nie“ – schwer nachzuvollziehen, wie jemand Geld ausgeben kann, um diese oder ähnliche Worte in Stein meisseln zu lassen. Und auch der physische Tod muss uns nicht unbedingt vom Diktat des Daueroptimismus‘ und der Dankbarkeit befreien, wie die Zeilen: „Schöne Stunden: Weine nicht, dass sie vergangen, lächle, dass sie gewesen!“ beweisen. „Familie Stapel, vereint“ hingegen mag inhaltlich richtig sein, könnte aber zu recht unangenehmen bildlichen Assoziationen führen. Vor allem Inschriften neueren Datums legen durch ihre eher preiswert wirkende Optik sowie Rechtschreibfehler den Gedanken nahe: „Wenn du deinen Grabstein bei Wish bestellst…“.

Alle Fotos © Iris Boss

Und dann ist da noch der Gräber-Gap: Auf Friedhöfen  ist bestens dokumentiert, welche Rolle Frauen in den letzten 200 Jahren in unserer Gesellschaft gespielt haben. Meine Feldforschung hat eindeutig ergeben, dass es mehr und größere Steine für Männer als für Frauen gibt! Wenn es sich um Steine für Ehepaare handelt, steht die Frau immer an zweiter Stelle – ok, das kann auch daran liegen, dass sie ihre Männer meist überlebt haben, aber trotzdem… Was mich jedoch wirklich irritiert und ein (weiteres) schlagkräftiges Argument für Kinderfreiheit ist, sind Inschriften wie: „Thomas Kunz & MUTTER“, „Dr. Heinz Meier und Mutti“, „Hier ruht ein liebend Mutterherz“ – wohlgemerkt nicht aus dem 19. Jahrhundert, sondern auch neueren Datums! Und ich naives Ding dachte, nur Filmproduktionen hätten für Frauen jenseits der 30 keine andere Rolle als „Die Mutter“ vorgesehen…

Aber wie auch immer: Ich bin unglaublich dankbar für diese Orte und hoffe, dass es sie noch eine Weile geben wird – Die lebenden Toten mit ihren „exklusiven Eigentumswohnungen“ haben nämlich schon begonnen, heftig an den Rändern der Friedhöfe rumzuknabbern. Ich selbst möchte trotzdem nie auf einem liegen – dann würde ich ja zum Blumenbeet, auf dem jemand Unkraut jäten müsste – aber solange ich noch atme, atme ich weiterhin gerne und regelmäßig Friedhofsluft.

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