Geschrieben am 1. August 2020 von für Crimemag, CrimeMag August 2020

Hazel Rosenstrauch: Wärmste Empfehlung

Oft herzzerreißend

Über Ernst Lothar „Das Wunder des Überlebens“

Auch wer schon viele Texte über das Exil gelesen hat, stößt in diesem Buch auf mehrere Wunder. Ein wundersames Leben zwischen k.u.k. Monarchie, erstaunlichem Erfolg auch noch im Exil, die Nähe zu all den Literatur- und Theatergöttern, die ebenfalls fliehen mussten (sie kommen alle vor: Franz Werfel, Joseph Roth, Robert Musil, Stefan Zweig, Hermann Broch, Jakob Wassermann, Berthold Viertel, Raoul Auernheimer, Fritz Kreisler, Sigmund Freud, bei dem er sich Rat wegen seines Problems der Heimatliebe sucht und auch Otto Habsburg, berühmte Musiker und Schauspieler, deren Namen heute kaum mehr bekannt sind und die damals in Wien geliebt wurden – bis all jene, die falsche Ahnen hatten, gehasst wurden). Auf jeder zweiten Seite findet man eine hübsche Lebensweisheit, manche Zeugnisse aus jenem lang vergangenen Jahrhundert, in dem es Menschen mit innerem Kompass gab, die sich über moralische Zwickmühlen den Kopf zerbrachen. Er zitiert und würdigt (was keineswegs selbstverständlich ist) seine kluge (zweite) Frau, die ihn ohne Not begleitet und seine Entscheidungen mitgetragen hat, obwohl für sie eine Karriere in Wien nach 38 und in den USA nach 45 möglich gewesen wäre. (Schade, dass die zweite Person auf dem Titelblatt keine Frau ist.) 

Ernst Lothar, der erst Müller hieß, war Jurist, bevor er Theaterkritiker und Schriftsteller wurde. Mit 30 Jahren bereits pensionierter Hofrat wurde er erst Theaterkritiker, dann Direktor des Wiener Theaters in der Josefstadt, arbeitete mit Max Reinhardt, war Mitbegründer der Salzburger Festspiele und beinahe fünfzig, als er über die Schweiz in die USA entkam. Er und seine Frau Adrienne Gessner erhielten die amerikanische Staatsbürgerschaft, beide machen Karriere, sie als Schauspielerin, er als Autor. Den einstigen Juristen und leidenschaftlichen Österreicher zerreißt der Loyalitätskonflikt zwischen dem einstigen und neuen Heimatland. 

In amerikanischer Uniform wurde er nach dem Krieg für ein neues österreichisches Kulturleben zuständig: Officer im Dienst des Headquarters der United State Forces Austria. Ernst Lothar hat, wie im letzten Kapitel zusammengefasst, die politischen Umbrüche, die rasante technische Entwicklung, all die mentalen Verschiebungen zwischen Kaiserreich, Wiener Moderne, Nazizeit und Nachkriegszeit erlebt, seine Erzählung von der mährischen Herkunft bis zur Rückkehr in das zerstörte und noch immer antisemitische Österreich hält über 362 Seiten die Spannung zwischen Heimweh und der mutigen Auseinandersetzung mit dem Neuen durch. Zu den Wundern gehört das Überleben, denn er kennt viele, die an der Emigration gestorben sind – durch Selbstmord oder Herzschlag. Er wurde 84 Jahre alt, ein Wunder auch, weil beide Töchter früh gestorben sind. Zum Überleben gehören wundervolle Erfahrungen mit Amerika und Angehörigen amerikanischer Behörden, und wunderbar klar, nachdenklich, immer verstehen wollend sind seine Beobachtungen und Selbstbefragungen – nicht selten mit doppeltem Boden. 

Politisch korrekte Rezensenten können ihm vieles übel nehmen – seine Verteidigung Schuschniggs, seine Rehabilitierung Furtwänglers, das Pathos anlässlich des österreichischen Staatsvertrags oder auch seine Versöhnlichkeit gegenüber den hitlerfreundlichen Landsleuten. Er war versöhnungsbereit, als Bäume, Gärten, Luft und Landschaft sowie vertraute Gebäude ihn bei der Rückkehr liebevoll willkommen hießen. Amerikaner, die ihn geschützt und gerettet haben, nahmen ihm übel, dass er sich schließlich für die einstige Heimat entschied, vor der sie ihn gerettet hatten. 

Ein Schulbuch nicht nur über österreichische Geschichte, speziell Kulturgeschichte, sondern über österreichisch-emigrantische Mentalität, ein Stoff über die irrationale Liebe zu einem doch auch für ihn ekelhaften Land, und über erstaunlich versöhnliche Reaktionen auf die zahlreichen Intrigen seiner Landsleute. Das Buch steckt voller faszinierender Beobachtungen, es berichtet vom Umgang mit unlösbaren Konflikten, wobei Ängste, Zweifel, Sehnsüchte in eine oft herzzerreißende Sprache gegossen werden. Zahlreiche Passagen könnten sich für die Ausbildung  von Jüngern und Jüngerinnen (geht das, apropos politisch korrekt?) des Theaters eignen. 

Sicher, ihm ging es verhältnismäßig gut, trotz der sieben Jahre jenseits der geliebten Heimat, trotz vieler Verluste und Kränkungen. 

Natürlich klingt vieles heute pathetisch: seine Philippika für das Bleibende, Wahre, das Theater als geistige Rettung, seine Liebe zu Österreich, aber auch zu den USA. Der Loyalitätskonflikt stellt sich so in einer globalisierten Welt, in der man mal hier und mal da lebt, nicht mehr. Copyright 1960 und 2020! Ernst Lothar ist ein altmodischer Österreicher von der ausgestorbenen Art, aber viele seiner Weisheiten lassen sich in Lektionen über den Umgang mit Zerrissenheit übersetzen. Ins Neudeutsche transformiert handelt das Buch von Identitätsfragen in Zeiten ohne vertrauten Boden. 

Das Nachwort kann man sich sparen, abgesehen von einem peinlichen Fehler, der hoffentlich in der nächsten Auflage korrigiert wird (das Gespräch mit den Ärzten, die nicht so viel Glück hatten und auch gern zurückgegangen wären, fand in New York, nicht in Wien statt), nimmt Daniel Kehlmanns Psychologisierung („hysterische Liebe zur Heimat; genialisch-kindlich“) dem Buch genau jene vergnügliche Ambivalenz, die es so österreichisch und letztlich aktuell macht. Deshalb nicht „Pflichtlektüre“, wie der Bestsellerautor, der heutzutage problemlos zwischen New York und Wien pendeln kann, auf dem Umschlag zitiert wird, aber wärmste Empfehlung für alle, die gerne kluge, gute Bücher lesen. 

Hazel Rosenstrauch

  • Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020. 384 Seiten, 25 Euro.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

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