
Es wird alles immer schlimmer
Es beginnt wie ein Horrorschocker mit toten Kindern am Strand und endet wie eine Psychologievorlesung mit verblüfften Studenten. Dazwischen liegen in dem vielschichtigem Thriller „Der Erlkönig“ des französischen Schriftstellers Jérôme Loubry zähe Erkenntnisgänge nach dem Prinzip der russischen Matrjoschka-Puppen: Kaum hat man sich mit einer Lösung des blutigen Rätsels zufrieden gegeben, taucht am Horizont des Wissens die nächste auf.
1986: Auf einer abgeschiedenen Insel vor der normannischen Küste gerät die junge Journalistin Sandrine in eine Spukgeschichte: kauziges Personal, streunende Katzen, in der Jukebox der einzigen Kneipe nur ein altes Chanson, ein verwunschenes Waldstück, ein deutscher Bunker mit verschlossenen Türen, der nach dem Krieg als Ferienlager für Kinder genutzt wurde, und irgendwo soll der Erlkönig lauern. Über allem liegt der Mehltau vergangener Tage und das farblose Tuch der Trauer, denn schon kurz nach der Eröffnung des Ferienheims gab es damals ein schreckliches Fährunglück, bei dem alle Kinder ertranken. Seither leben auf der Insel nur noch die alten Heimmitarbeiter. Schnitt
Eine junge Frau – Sandrine – wird blutüberströmt in die Klinik eingeliefert und erzählt die Geschichte ihres fünfzehnjährigen Martyriums im Keller eines Bauern, den sie soeben erschlagen hat. Inspektor Damien Bouchard nimmt die Arbeit auf. Er lebt mit seinem eigenen Trauma, dem spurlosen Verschwinden seiner kleinen Tochter vor drei Jahren. Auf dem abgelegenen Bauernhof findet er ertränkte Katzen, einen Folterkeller und viel, viel Blut. Aber irgendetwas an Sandrines Geschichte stimmt nicht ganz. Und was hat es mit der Insel auf sich? Schnitt

Goethes Gedicht vom Erlkönig ist neben dem Changieren der Farben, dem Stillstand der Zeit, dem Streunen der Katzen nur eine von vielen effektvollen Ingredienzen zur Anreicherung dieses großangelegten Täuschungsmanövers. Der Originaltitel „Les Refuges“ (Die Refugien) zeigt jedoch von Anfang an in eine ganz andere Richtung: Bunker, Keller, Zimmer, Wald – alle Räumlichkeiten sind gleichermaßen Zufluchtsorte und Schreckenskammern. Die Psychologin der Klinik benutzt diesen Begriff jedoch plötzlich für den Fluchtort von Sandrines Phantasie. Muss Bouchard ganz woanders hindenken? Schnitt, denn die wenigen Andeutungen zum Inhalt dieses reichhaltigen Thrillers müssen reichen; mehr würde wahrlich das Lesevergnügen ruinieren. Nur eines: Es wird alles immer schlimmer.
Günther Grosser
Jérôme Loubry: Der Erlkönig (Les Refuges, 2019). Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Ullstein Verlag, Berlin 2021. 400 Seiten, 10,99 Euro.