Geschrieben am 1. Juni 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2021

Markus Pohlmeyer: Poetischer Werkstattbericht zu den „Corona“-Zyklen

Corona I

März 2020: Ich fing an, Corona-Gedichte während eines Krankenhausaufenthaltes zu schreiben. Der erste Tag dort war noch ‚normal‘. 24 Stunden später fühlte ich mich wie in einem postapokalyptischen Science Fiction. Masken, leere Gänge, eine unsichtbare Bedrohung. Im Fernsehen Bilder aus Italien. Als ich nach Flensburg zurückkam, gab es meine alte Welt nicht mehr.

Wenn ich heute zurückschaue – gut 1 Jahr und 200 Gedichte später:

II

… ist der Versuch, eine poetische Antwort auf die Frage einer Kollegin zu finden, was für mich denn Einsamkeit bedeute. Einsamkeit sollte in den nächsten Monaten zu der Herausforderung schlechthin für mich werden. Und wie sollte ich denn nun (mit meiner Schwerbehinderung) den Alltag organisieren? Die nächste große Herausforderung: Online-Lehre. (Was ich bis heute nur als Notlösung und nicht als den zukünftigen, goldenen Weg von (Aus)Bildung betrachten kann.)

III

… begann, als ich wieder beim Friseur saß. Blick in den Spiegel: Mit Maske, die nassen Haare in ein Handtuch gewickelt. Total vermummt. Hinter dem Spiegel weitere Spiegel. Absurd und Multiversum?

IV

Ein sehr einsamer Sommer voller wehmütiger Erinnerungen, z.B. daran wie es früher so wunderbar einfach war, in Europa reisen zu dürfen. Dänemark, Lissabon, Bologna, Florenz, Riga, Basel …

V

Herbst. Immer häufiger wandern Alltäglichkeiten in meine Gedichte ein. Mein kleiner, übervoller und doch so monotoner Alltag. Die Wohnung wird zu meinem Coronavermeidungskrisenapokalypseuniversum, Uni-Büro und Kino. In meinem winzigen Bad die beste Akustik, um Flöte zu spielen. Straße runter zur Apotheke, Straße wieder rauf. Ab und zu auf dem Alten Friedhof; betrachte mich mittlerweile als mobiles Inventar davon.

VI

Variationen von Bach und Beethoven gehört: austesten wollen, was (mein) poetisches Schreiben so kann. Gliederung wie ein griechisches Drama mit Satyrspiel.

VII

Erinnerungen an Freunde und Freundinnen. Wehmut. Und mein Lieferservice betritt die literarische Bühne. Für mich praktischerweise total wichtig, aber nicht ganz unumstritten in den Feedbacks. War aber mein Plädoyer für eine Irgendwie-Bewältigung des Alltags und dafür, dass in Gedichte alles, aber auch wirklich alles einen Ort haben könne.

VIII

Die Tagespolitik drängt mein Schreiben immer mehr ins Satirische. (Es entstehen Paralleltexte zu den CrimeMag-Veröffentlichungen, wo ich so richtig die Sau rauslasse. Dichtungsmäßig. Vieles habe ich wieder vernichtet. Vielleicht veröffentliche ich den Rest einmal, wenn ich mit dem nächsten Raumschiff zum Saturn aufbrechen kann.)

IX

Nichts gestalten, alles verwalten: Zirkuläre Verantwortungsdelegationen auf allen Ebenen. Ich resigniere an Formalia und Institutionen. Nur noch das Formalisierte (neben dem Medialisierten) scheint Realitätsgehalt zu haben. Also, die Welt mag untergehen, aber wenn es dafür kein Formular gibt mit Häkchen, Kreuzchen und …, wären wir also gerettet? Logo, klar, und wenn im Internet steht, das Grönlandeis schmelze nicht, dann schmilzt es auch nicht, logo. (Bittere Ironie – oder?)

Und mein Gang zur Mülltonne gestaltet sich langsam wie der Weg über eine Mars-Landschaft.

X

Da war vieles nur bitter und hart, das ich auto(r)therapeutisch (selbst)ironisch brechen musste, um es auszuhalten.

XI

… ist stark performativ-poetologisch. Für das Thema Grundrechte (ein Thema, das einen Freund und mich immer wieder umtrieb und umtreibt, aus Sorge darum …) kann ich noch keine adäquate dichterische Gestalt finden, so dass ich wieder Blocksatz-Prosa wähle.

XII

Ich dachte in letzter Zeit viel über nur drei Wörter aus einer Elegie von Tibull (I, 5) nach: mihivitam … fingebam: Wie das übersetzen? Mit dem iterativen Aspekt des lateinischen Imperfekts? Ich stellte mir vor, erdichtete mir, fingierte für mich immer wieder ein Leben? War das nicht ein Leitmotiv der Corona-Zeit? Das Leben davor, ein Leben danach und dies Leben mittendrin, welches uns aus Notwendigkeit so vieler Begegnungen und Möglichkeiten beraubte, dass manchmal nur – ja, was? Nur Träumen blieb? Fiktionen, Imaginationen, Gedichte: als Möglichkeitsräume von nicht stattfindenden Begegnungen, versäumten Gelegenheiten, eines Lebens, das hätte anders gelebt werden können oder anders gelebt werden würde usw.

Epilog

Was waren diese Gedichte? Eine poetische Auto(r)-Biographie in Zeiten von Corona? (Diese Zeiten sind noch nicht vorbei …) Natürlich wäre das lyrische Ich nicht identisch mit dem realen Autor. Hm. Wenn ich nur wüsste, was das sei, dies lyrische Ich? Und naiv-dekonstruktiv: Wer hat denn die Gedichte geschrieben, wenn nicht ich? Gut, wenn sie veröffentlicht worden sind, dann werden sie ihr Eigenleben führen. Das ist auch gut so. Adieu.

Vorher gab es alle paar Jahre ein Poesiebändchen, das vielleicht Freunde und Freundinnen von mir gelesen haben. Aber nun: jeden Monat Gedichte schreiben, sie publizieren. Zuerst ungewohnt. Mittlerweile sind 200 Gedichte entstanden, einige mit nur wenigen Zeilen, andere seitenlang. Aber im Grunde handelt es sich nur um ein Gedicht. Aber das Schwierigste an Variationen, sich wiederholen zu dürfen, ja, zu müssen, ohne sich zu wiederholen. Ach!

Meine poetische Tür ging früher vor allem nur nach Innen auf, jetzt öffnete sie sich auch in die andere Richtung. Themen wie Natur und Kosmos sind geblieben. Aber nun traten neue Gäste ein: Gespräche mit Freunden und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen, mit verschiedenen Eltern und Großeltern, meinen Studenten. (Wir alle hatten plötzlich ein gemeinsames Thema.) Und auch mit den Toten – den in inneren Monologen erinnerten – wie auch mit einem Freunde, der in dieser Zeit an Corona verstarb. Stimmen, die irgendwie verändert, transformiert, aus dem einsamen lyrischen Ich langsam einen Chor formten. Lange Diskussionen über verweigerte oder ersehnte Impfungen, gefährdete Grundrechte, gestörte Gerechtigkeit, über Politik am Rande der Paralyse und sinkende Solidarität, über Wie-war-eigentlich-schon-vorher-unsere-Gesellschaft-kaputt … Corona hätte bei aller Tragik eine Chance sein können, vielleicht ist es das noch. Und könnte eine Chance werden, Naturwissenschaft, Wissenschaft überhaupt, Schule und Universität, aber auch Kunst und Kultur anders schätzen zu lernen. Und vielleicht die zu würdigen, wirklich zu würdigen, die Unglaubliches, Großartiges leisten mussten und wollten – unter vielen Einschränkungen und persönlichen Opfern: vom medizinischen Personal bis hin zu den Familien.

Ein großes Dankeschön für die Möglichkeit dieser Veröffentlichungen und für die frechen, ironischen, manchmal schön traurigen und manchmal traurig schönen Bebilderungen meiner Gedichte: mein besonderer Dank gilt hier

Anne Kuhlmeyer,

Alf Mayer

und Thomas Wörtche.