Geschrieben am 1. März 2021 von für Crimemag, CrimeMag März 2021

Meisen und Depressionen: Kolumne von Iris Boss (10)

„Guck mal, ich bin gut zu Vögeln!“, sage ich zum Glück nicht. So viel Selbstachtung, diesen traurigsten aller traurigen Kalauer auf meinen Lippen ersterben zu lassen, ist mir immerhin noch geblieben. Obwohl… – Wahrscheinlich wäre der tollste Mann der Welt zur Zeit selbst für dieses ungelenke Zeichen des guten Willens, sowas wie humorvoll zu sein, dankbar. 

„Guck mal, ich habe Meisenknödel gekauft!“, sage ich stattdessen zu dem Mann, der im Gegensatz zu mir einen produktiven, sinnerfüllten Tag als nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft hinter sich hat. „Toll!“, sagt er und blickt anerkennend auf die Fettkugel im grünen Netz, die ich mit einer Schnur an unserem Terrassengeländer direkt vor meinem Schreibtisch befestigt habe. Wenn ich nämlich ganz ehrlich bin, stimmt das mit dem „gut zu Vögeln“ nicht mal: Die Vögel kommen ganz gut ohne mich klar. Es geht eher darum, dass ich mir eine Verbesserung meiner Gemütslage erhoffe, wenn sich putzige kleine Rotkehlchen, Blaumeisen und Grünfinken an meiner großzügigen Gabe erfreuen. Vielleicht kommen da ja sogar Vogelarten angeflogen, die ich noch gar nicht kenne, und die könnte ich dann mit dem Vogelbestimmungsbuch, das irgendwo im Regal rumsteht, bestimmen und käme dann als gestählte Vogel-Expertin aus dem Lockdown. Vielleicht werden die kleinen Racker ja auch ganz zutraulich, wenn sie merken, dass ich ihre Wohltäterin bin. Dann würde ich meine Haare endlich mal wieder offen tragen, statt zum praktischen Dutt gewurstelt, ein elfengleiches Kleid anziehen und, so ähnlich wie in einem Disney-Film, mit ausgebreiteten, alsbald vogelbesetzten Armen auf die Terrasse treten und mit meinen gefiederten Freunden ein lebensfrohes Liedchen trällern. 

Vorerst hält sich der Run, beziehungsweise der Fly auf meine milde Gabe allerdings in Grenzen. Besser gesagt: kein einziger Vogel weit und breit! Zumindest nicht an meinem Knödel. Bei den Nachbarn, die nicht nur mehrere Knödel aufgehängt, sondern auch noch ein Vogelhäuschen auf ihrer Terrasse aufgestellt haben, herrscht ein munteres Picken und Tirilieren. 

Am ersten Tag schiebe ich das noch darauf, dass die Vögelchen erst noch entdecken müssen, dass es eine neue Futterstelle gibt. Am zweiten Tag versuche ich mich beim Arbeiten am Schreibtisch noch weniger zu bewegen, als ich das ohnehin schon tue, um die Tiere nicht durch meine Anwesenheit hinter der Fensterscheibe vom Anflug auf meinen Knödel abzuhalten. 

Am dritten Tag erwäge ich, heimlich auf die Nachbarterrasse zu steigen, um das Konkurrenzangebot in Augenschein zu nehmen. Für das 6er Pack Meisenknödel habe ich zwar mehr ausgegeben als für meine Ernährung der letzten Tage, aber im Regal lagen neben der 08/15 Version eben auch dreimal so teure Dinge wie „Birdy´s Wild-Berrie-Dream“ oder „Amaranth-Cranberry-Power-Balls“. Vielleicht war es ja naiv, das als dreiste Geldmacherei zu verlachen. Vielleicht haben die Pankower Hipster die einst stolzen Wildtiere ja zu verweichlichten, verwöhnten Hipster-Vögeln umerzogen. Ja, wahrscheinlich würden sie den Vögelchen kleine Flughelme und Reflektoren für die Flügel verpassen, wenn sie es könnten!

Der vierte Tag beginnt mit Tränen – nicht wegen des immer noch völlig unberührten Meisenknödels, sondern weil ich zu nichts anderem fähig bin, als vor meinem aufgeklappten Laptop zu sitzen und auf den Bildschirm zu starren, der ebenso leer bleibt wie meine von den Vögeln gemiedene Terrasse und, wie es mir jetzt scheint, mein ganzes verdammtes Leben. Nichts geht mehr, keine Kreativität, nirgends! Und da es die Kreativität ist, von der ich lebe, packt mich zu meiner Erschöpfung auch noch die Existenzangst. Ob man Meisenknödel essen könnte, wenn es hart auf hart käme? Vielleicht in Scheibchen geschnitten und gebraten? – Bevor ich diesen Gedanken weiter vertiefen kann, entscheide ich mich, wenigstens einen einzigen Punkt auf der langen To-Do-Liste abzuhaken und einen guten Freund zurückzurufen. 

Es tut gut, einen Menschen am Ohr statt keine Vögel auf der Terrasse zu haben. Ihm geht es gerade ähnlich wie mir: Wir sind uns einig darüber, dass wir „Mittelalten“ es im Moment am allerschwersten haben: „Immer dieses Gerede über die armen Kinder und Jugendlichen, die ach so sehr unter dem Lockdown leiden!“, sagt er. „Die ganzen letzten Jahre haben sich alle um mich herum darüber beklagt, dass sie ihre Kids nicht vom Sofa runterkriegen, sie nicht dazu bewegen können, raus zu gehen, ihre Freunde in echt zu treffen, statt nur virtuell beim Zocken. Und jetzt auf einmal scheint das unstillbare Bedürfnis nach einer 60er Jahre Jugend ausgebrochen zu sein.“ „Ja, genau!“, stimme ich begeistert in unseren Selbstmitleids-Chor ein. „Und die Boomer haben die Zeit ihres Lebens: Knapp vor Rollator noch einmal Rebell sein, die Maske schneidig unter der Nase tragen und Politiker, Virologen und Bill Gates die Schuld für ihr gescheitertes Leben geben – herrlich!“

Wir kommen immer mehr in Fahrt, sind jetzt bei den über 80-Jährigen: Wir malen uns aus, wie es wäre, wenn schon bald nur Geimpfte Konzerte, Festivals, Clubs und Kneipen besuchen dürften, wie die Alten die Städte, aus denen sie mehr und mehr verdrängt wurden, zurückeroberten, das Nachtleben, die Musik, die Drogen auf sie zugeschnitten würden. Einen Film müsste man darüber machen, ein Drehbuch schreiben wenigstens… 

Aber an diesem Punkt kommen wir wieder auf den Boden der Tatsachen und damit darauf, dass Midlifecrisis und Corona die wirklich aller, aller fieseste Kombination ist: Hatten wir es doch in der letzten Zeit ziemlich gut hingekriegt, uns mit völliger Überarbeitung, immer höheren Erwartungen an uns selbst und/oder der Aufzucht von Kindern von der Tatsache abzulenken, dass es für uns, wenn man nicht an irgendwelche Everything-is-possible-Life-Coach-Heinze, sondern an Biologie und Schwerkraft glaubt, sowohl karriere- , als auch gesundheits- und schönheitstechnisch von spätestens nun an nur noch steil bergab gehen kann und definitiv und unwiderruflich tödlich enden wird. Dass die Wahrscheinlichkeit, „dann irgendwann“ den großen Durchbruch zu schaffen, die große Rolle zu spielen, den mindestens einen Bestseller zu schreiben so verschwindend klein ist, dass wir es eigentlich auch einfach lassen könnten, mussten wir vor lauter Machen nicht merken.

 „Weißt du“, sage ich, „wenn ich mir meine Zukunft überhaupt irgendwie vorgestellt habe, dann so, dass ich mit um die 60 an einem netten Herzinfarkt sterbe – natürlich nicht in 20, sondern in gefühlten 200 Jahren. Von mir aus gerne während ich irgendeine Hochleistungssportart ausführe, die ich in den nächsten Jahren irgendwann beginnen würde, und von der ich dann eine Leiche mit straffem Gesäß und trainierten Oberamen abgeben würde. Und unbedingt noch bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, dass ich mir von 40 Jahren Gemache und Getue nicht einmal eine unterbezahlte Pflegekraft werde leisten können, die dereinst meine Windeln wechselt. Damit hätte ich leben und dann eben auch sterben können. Aber jetzt sind wir von mitten drin plötzlich auf Ende gebeamt worden, führen unfreiwilligerweise ein Rentnerleben und fangen plötzlich an, über das Leben zu reflektieren. Und gleichzeitig sollen wir uns auf irgendwas vorbereiten, von dem wir nicht wissen, was es sein wird, nur dass es definitiv welche geben wird, die besser darauf vorbereitet sein werden als wir!“ 

– Während des Telefonats habe ich den unbevogelten Meisenknödel nicht aus den Augen gelassen und plötzlich erscheint er mir als Sinnbild für mein ganzes Leben: „Ich weiß echt nicht, wie ich noch Kraft aufbringen soll, irgendwas zu wuppen, wenn ich es noch nicht einmal schaffe, einen Meisenknödel an die Meise zu bringen!“ – Die Stille am anderen Ende der Leitung verrät mir, dass selbst mein schwarz-mal-qualifiziertester Kumpel peinlich berührt ist von so viel Selbstmitleid. Schnell versucht er dann auch, das Gespräch zurück auf eine normale Temperatur zu bringen: „Ja, für so´ne Powerfrau wie dich ist das Ganze bestimmt besonders schwer!“, sagt er. Ich weiß, er will nett sein, meint es gut. Aber der Kontrast zwischen einer „Powerfrau“ und der Luschenfrau, die ich gerade bin, tut so weh, dass ich am liebsten losheulen möchte. Da ich mir diese Blöße aber nicht auch noch geben will, suche ich lieber Streit:

„Powerfrau!? Was ist das denn für ein bescheuerter Ausdruck? Soll das so ein Synonym für „fast so gut wie ein Mann“ sein? Gibt es auch Powermänner? Oder sind grundsätzlich alle Männer Powermänner und das muss gar nicht extra gesagt werden?“ Bevor er irgendwas antworten kann, fühle ich es schon: Zaaaack, ins eigene Knie geschossen! Jetzt bin ich nicht nur eine Luschenfrau, sondern fühle mich auf einen Schlag 30 Jahre älter, und aus der spiegelnden Fensterscheibe blickt mir das gehässige Gesicht von Alice Schwarzer entgegen.

Ich bringe gerade noch eine halbgare Entschuldigung zustande: „Alles ein bisschen viel…“ und „Ich melde mich…“ Dann ist wieder Stille, und ich sitze immer noch am Schreibtisch, starre immer noch auf den verfluchten Knödel, bringe immer noch keine Arbeit aus mir raus. 

Im Radio habe ich einen Bericht über eine Ausstellung von Kunst aus einem türkischen Frauenknast gehört. Die Gefangenen haben Pinsel aus ihren Haaren und aus Taubenfedern hergestellt und Bilder mit ihrem Menstruationsblut gemalt. Panflöten aus Einwegrasierern haben die gefertigt und ganze Symphonien damit komponiert. Und ich…? Ich bin nicht im Gefängnis, sondern im allerschönsten Zuhause der Welt und mir fällt zu Einwegrasierern gerade nur „Pulsadern aufschlitzen“ und zu Taubenfedern „Alle abknallen, die Mistviecher!“ ein. Mit festem Blick auf den Meisenknödel steigert sich mein Unverständnis für die Vögel immer mehr zu Hass. So sitze ich noch immer da, als der tollste Mann der Welt nach Hause kommt:

 „Alles gut?“ 
„Nein!“
 „Was’n los?“ 
„Diese blöden Scheiss-Meisen!“
„Das sind keine blöden Scheiss-Meisen!“
„Doch, sind sie! Und übrigens wurde in wissenschaftlichen Studien ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Angewohnheit viel zu fluchen und einer überdurchschnittlich hohen Intelligenz festgestellt.“
„Naja, „blöde Scheiss-Meisen“ ist jetzt nicht unbedingt fluchen…“
„Dann sind es eben verfickte, blöde Scheiss-Kack-Kotz-arschgefickte-Mutterficker-Meisen! Intelligent genug, verfickte Scheisse nochmal?“
„Na, auf jeden Fall wären die streikenden Meisen doch ein Thema für die Kolumne, oder nicht?“

In dem Moment fliegt tatsächlich ein Vogel, sogar eine ganz klassische Meise, direkt auf meinen Knödel zu und beginnt unbekümmert an ihm rumzupicken… Ich hasse diese Vögel!

Iris Boss ist Diplomschauspielerin (U.d.K. Berlin) und eine erfahrene Sprecherin. 2021 gründete sie ihr eigenes Studio „CURRY-HAHN-RECORDS“ in Berlin. Neben dem Einsatz als Sprecherin in Fremdstudios bietet sie Sprachaufnahmen, Schnitt, Bearbeitung in professioneller Qualität direkt aus dem Home-Studio an. CURRY-HAHN-RECORDS im Netz.

Mit vielen neuen Hörproben direkt aus dem Home-Studio. Vieles ist gerade in Arbeit und kommt in nächster Zeit dazu.

Iris Boss bei uns.

Iris Boss ist eine passionierte Spaziergängerin. Unterwegs gefunden:


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