Geschrieben am 1. Juni 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2021

TW: Ian McGuire „Der Abstinent“

Kein Roman à la mode – etwas Eigenes

Manchester, 1867. Die „Troubles“ in Irland sind in Terror und Gegenterror verfangen, der Viktorianismus, eine ziemlich widerwärtige Epoche des UK, zeigt seine hässlichste imperiale und koloniale Fratze. Der irische Polizist James O’Connor ist aus Dublin nach Manchester, dem symbolträchtigen Ort des gleichnamigen Kapitalismus, versetzt worden. Nach dem Tod seiner Frau wurde er erst zum untragbaren Alkoholiker, dann zum „Abstinent“. Aus der heimischen Schusslinie genommen, soll er die nordenglische Polizei bei ihrem Kampf gegen die „Fenians“, die irischen Aufständischen unterstützen, die sich überall in den englischen Städten unter die irischen Communities gemischt haben.  Die Iren lehnen ihn ab, die Briten trauen ihm nicht.  Ian McGuires Roman „Der Abstinent“ beginnt mit einer historischen Episode – der Hinrichtung dreier Fenians, die bei dem Versuch, Gesinnungsgenossen aus einem Gefangenentransport zu befreien, einen englischen Polizisten ermordet hatten. Weil das Scheitern der Befreiung von den Iren als Resultat eines Verrats gewertet wird, schickt man aus New York den Bürgerkriegsveteran Stephen Doyle (der amerikanische Bürgerkrieg ist gerade mal zwei Jahre vorbei), als „Cleaner“ in Spitzelkreisen und als Vorbereiter eines aufsehenerregenden Attentats. Doyle zieht eine Blutspur durch Manchester, ein Opfer ist O’Connors Neffe, der eher zufällig zwischen die Fronten geraten ist. Aus dem Polizeidienst ausgeschieden und nicht mehr so ganz abstinent, verfolgt O’Connor Doyle bis in die USA, wo nach dem Krieg der reine Raubtierkapitalismus wütet. 

Und dann stellt sich die Alternative – Gnade und Vergebung, oder … 

Seit „Nordwasser“, dem grimmigen Walfängerdrama aus dem Geiste Herman Melvilles, kann man vermuten, was man von Ian McGuire nicht bekommt: Einen „historischen Kriminalroman“ à la mode, also mit einer Handlung, die in eine historische Kulisse einmontiert ist. Auch keinen „Duellroman“ im Gut gegen Böse-Modus. „Der Abstinent“ ist die Geschichte zweier seelisch schwer beschädigter Männer in einer gnadenlos brutalen Zeit. McGuires Manchester (und später Harrisburg, Pennsylvania – die Katastrophe wird es 1979 ereilen) starren vor Schmutz und Kälte, alles ist düster, verkommen. Es stinkt nach ungewaschenen Menschen, nach Armut, Fusel und Bier. Recht hat nur der Stärkere, auf beiden Seiten des Atlantiks. Die Religion sorgt für den bigottem Überbau, und wenn einmal tatsächlich christliche Tugenden praktiziert werden, wird nichts Gutes daraus erwachsen. O’Connor wird allmählich zum Schmerzensmann, in England Opfer einer menschenfeindlichen Politik, in Amerika gar zur Sklavenarbeit gezwungen, jeden noch so zaghaften Lebensglücks beraubt, und nur noch von seiner Obsession, Doyle zu stellen getrieben. Doyle, durch eine fruchtbare Kindheit gepeitscht, wird zum zynischen Killer mit starkem Überlebensreflex und sehr klarem Blick, was Realitäten betrifft, denen er nicht entkommen kann. Politische Überzeugungen bieten keinen Trost – Nationalismus und Terrorismus sind keine lebensfreundlichen Parameter; das kann man, wie McGuire in einem Interview vorschlägt, durchaus als Kommentar zur aktuellen Lage lesen.  Die Welt, according to Ian McGuire, ist kein schöner Ort, und als versöhnliches Moment bleibt ganz am Schluss religiöser Wahn, ein bizarre Vorstellung von Reinheit, von Engeln und besserer Ewigkeit. Was man als christliche Utopie verstehen könnte, ist angesichts der Umstände letztlich der reine Hohn. Oder aber eine ungebrochene, tief gläubige, religiöse Wende.

Das allerdings würde das Buch im letzten Satz auf den Kopf stellen, denn seine Erzählhaltung ist nirgends empathisch, sondern präzise, straight bis zum Anschlag. Der Blick des Erzählers scheut vor keinem widerlichen Detail zurück, lügt uns nirgends in die Tasche, beschönigt nichts und erzielt durch dieses beinahe protokollarische 1:1 eine magische Kraft, die Jan Schönherrs Übersetzung sehr gut transponiert. Der Erzählgestus, der Ton der Romans, die schockhaften Twists lassen kein Zweifel: das nimmt kein gutes Ende. Was aber auch heißt: Ein hoffnungslos pessimistischer Roman muss kein Roman Noir sein. Oder ein Roman Noir ist nicht notwendigerweise an ein Genre, an eine Erzählkonvention gebunden. So oder so, „Der Abstinent“ ist ein nachhaltig beeindruckendes Buch.

Ian McGuire: Der Abstinent. (The Abstainer, 2020). Deutsch von Jan Schönherr.dtv Verlag, München 2021. 334 Seiten, Hardcover, 23 Euro.

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