Ich hatte einmal einen Schulweg.
Und der ging so: Aus der Haustür, durch die Gartenpforte, links zu den Garagen. Rauf aufs Rad, Abfahrt runter rechts auf die alte Kopfsteinpflasterstraße.
Links und rechts Bauernhöfe und Hausweiden, Baumschule, Tischlerei und ein Kastanienhain, unter dessen Blätterdach ein ausgebranntes Tanzlokal Jahre lang darauf gewartet hatte, durch ein vielstöckiges Punkthaus ersetzt zu werden.
Am Ende der Straße links, an Mehrfamilienhäusern vorbei, bis die Hausweiden und auch die Wohnbebauung endeten. Weiter über eine beschrankte Bauernstraße und danach an einem kleinen Industriekomplex vorbei rechts in die Straße „Achter de Weiden“, wo der Parkplatz des Schulzentrums in ein Brachland hineinwuchs, hinter dem man dem Dorfbach ein festes Bett bereitet hatte.
An der ersten Schranke traf man sich morgens mit Schulfreunden, dahinter trennten sich mittags die Wege wieder. Zwischen beiden Schranken kaum hundert Meter, doch Raum für endlose Gespräche. Auf einer Weide auch ein kleines Gebäude, eher ein Unterstand aus Beton und altem Holz, Stahlträgern, Blechdach und sehr viel Rost. Darin konnte sich das Vieh bei Unwettern zurückziehen, und wenn kein Vieh da war, bot die Weide Raum für Dorffeste, die, mit den Hits der 60er Jahre befeuert und von Hamburger Flaschenbier inspiriert, bisweilen in Schlägereien endeten.
Irgendwann endeten die Dorffeste ganz, irgendwann auch die Schulzeit. Für die einen früher, für die anderen später. Irgendwann erwartete einen morgens niemand mehr an der Schranke, und man kehrte mittags allein zurück. Irgendwann ging auch man selbst auf anderen Wegen in anderen Orten. Da kamen dann Verkehrs- und Stadtplaner, und bald hatte ein neues Viertel die Weiden östlich des Wegs verschluckt. Eine Schnellstraße hatte ihn durchschnitten, und es gab einige Dutzend Meter westlich davon eine teils dreispurige Zufahrt, die aber niemals daran angeschlossen worden war. Und es gab eine Brücke über die Schnellstraße, auf der jene „Zufahrt“ nun mit der zum baumgesäumten Fußweg degradierten Bauernstraße zusammenlief.
Die Weide war klein geworden, ein spitzes Dreieck zur Brücke hin reichte gerade noch für ein paar Jungbullen und später auch für ein Hüpfburgenparadies, dem jeden Abend die Luft ausging. Jenes Gebäude aber war noch da, zehn, fünfzehn weitere Jahre lang, windschief und bröckelnd, rostend, ein trotziger Schandfleck und doch kein schlechter Ort, um den Sonnenuntergang im Westen zu verfolgen. Seit ein paar Tagen aber liegen nicht einmal mehr seine Trümmer am Rande einer großen Baugrube, und was einst Wiese war, ist abgeräumt.
Der Weg selbst ist eigentlich gar nicht verschwunden, doch wo einst Kühe weideten, wohnen jetzt Senioren. In Ställen haben Schwedenmöbel und eine Druckerei Einzug gehalten. Statt Pferden gibt es einen Laden für Reiterbedarf, auch einen Bäcker und eine Aldi-Filiale. Selbst jene einst beschrankte Bauernstraße ist noch da, als Fußweg eben, der seine letzte grüne Seite nun an einen neuen Wohnkomplex hat abtreten müssen. Dafür hat er durch die Auffahrt zur Brücke etwas hinzugewonnen, was er in den Jahrzehnten zuvor nie hatte – Höhe. Vom Scheitelpunkt hat man eine Aussicht, die mein Schulweg nie bieten konnte: Weit hin nach Westen, wo die Schnellstraße in der Landschaft verschwindet. Weit nach Osten, wo die Landschaft unter der Stadt verschwunden ist. Geht man zurück, dann sieht man, was nicht mehr lange zu sehen sein wird: Direkt neben dem Bauzaun stehen die Reste des alten Weidezauns, schiefer noch als jenes schon verschwundene Gebäude, krumme Pfähle, rostiger Draht, ausgedient nach all den Jahren.
Ulrich Baron, geboren 1959 in Hamburg, Literaturwissenschaftler und Historiker, war Redakteur in Bonn und Berlin, lebt in einer kleinen Stadt am Rande einer großen, schreibt über Bücher und Menschen, Kriege und Seereisen und hat eine Neigung zu Dingen, die bald niemand mehr zu brauchen scheint. Die Fotos in diesem Beitrag stammen ebenfalls von ihm.