Reginald Grünenberg: Das Undenkbare und das Unaussprechliche in der Politik
Es muss im März 2008 gewesen sein, als ich auf dem Flug von London nach Tokio, irgendwo über der menschenleeren, schneeverwüsteten Inneren Mongolei, diese Spekulation über das politische Tabu las. Die Autorin Juli Zeh kannte ich schon von ihrem Roman Spieltrieb, der so voll böser Intelligenz ist, dass ich Angst hatte, ein Dämon würde aus den Seiten springen und mein Gehirn fressen. Das spricht natürlich für das Buch, wie uns der junge Franz Kafka in einem Brief an einen Freund versichert:
„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord. Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”
Juli Zehs Essay- und Artikelsammlung Alles auf dem Rasen, die mich auf meiner Reise begleitete, war auch ihr politisches Coming-out und der Beginn ihrer Karriere als Intellektuelle. In der kurzen Parabel Supranationales Glänzen macht sie sich auf die Suche nach den letzten politischen Tabus. Die sind gar nicht so einfach zu finden, was ihre Ausgangsthese zunächst bestätigt. Denn eigentlich sollte es keine Tabus geben in einer modernen, parlamentarischen Demokratie. Alles kann zur Sprache gebracht werden, und es gibt scheinbar keinen Ort, an dem sich ein unaussprechlicher politischer Gedanke verstecken kann. Natürlich jammern Rechtspopulisten auf ihren Schnäppchenjagden nach billigem Opfercharisma ständig, dass sie von Denk- und Sprachverboten umzingelt und unterdrückt werden. Doch jedes Mal, wenn sie das tun, befinden sie sich schon im performativen Widerspruch: Sie beweisen mit dem, was sie sagen, dass ihr Gejammer grundlos und ihre Behauptung falsch ist. Doch dann findet Juli Zeh tatsächlich ein Tabu, und zwar ein riesengroßes Exemplar, das sich bei Tageslicht in aller Öffentlichkeit mitten unter uns versteckt. Es ist die Alternative zur Demokratie.
“Die Begründung für die Alternativlosigkeit der Demokratie kam nie über die Bemerkung hinaus, dass Demokratie die schlechteste unter allen Staatsformen sei – abgesehen von sämtlichen anderen. Trotz nachlassenden Interesses der Bürger an der Politik wagte niemand den Gedanken, dass die Demokratie sich überlebt habe, dass die Politikverdrossenheit kein vorübergehendes Phänomen, sondern ein Zeichen dafür sei, dass der Wille aufhörte, vom Volke auszugehen.”
An diese Sätze musste ich noch oft denken, weil ich mehrmals Gelegenheiten haben sollte, sie bestätigt zu finden. Dazu muss ich eine kleine Geschichte erzählen.
Das Bundespräsidialamt hatte im Herbst 2014 die Stelle eines Redenschreibers ausgeschrieben. Ich konnte Bundespräsident Gauck gut leiden und fand die Vorstellung verlockend, morgens mit dem Fahrrad durch den Berliner Tiergarten zu meinem Büro im baumumflorten ovalen Bau der Präsidialverwaltung zu fahren und unserem Staatsoberhaupt meine Worte und Gedanken in den Mund legen zu dürfen. Also bewarb ich mich und saß drei Monate später im Bewerbungsgespräch, um mich herum im Kreis die Personal- und Referatsleiter, ein Belegschaftsvertreter und die Gleichstellungsbeauftragte. Am Ende des Interviews kam dann endlich die ganz große Frage: Welchen Themenschwerpunkt würden Sie dem Bundespräsidenten für seine zweite Amtszeit vorschlagen? Ich bin froh, dass Sie das fragen, antwortete ich. Ganz klar: Er sollte sich dafür einsetzen, dass Deutschland eine neue Verfassung bekommt.
Was sich in den Gesichtern der Anwesenden abspielte, vor allem dem des Referatsleiters, lässt sich am besten mit einer Stelle aus Thomas Brussigs herrlichem Wenderoman Helden wie wir beschreiben. Der megaloman-dämliche Protagonist Klaus Uhltzscht, der darin berichtet, wie es kam, dass er 1989 die Berliner Mauer alleine und mit nichts anderem als mit seinem Schwanz einriss, erzählt einen Schwank aus seiner Jugend. Da hatte er es sich nämlich als Dreizehnjähriger zur Aufgabe gemacht, um nicht zu sagen: es zur Obsession erhoben, die Stasi in ihrer benachbarten Festung zu observieren.
„Bis mein Vater [der selbst bei der Stasi war] eines Tages die Fassadenprotokolle fand. Ich weiß nicht, wie sich seine Reaktion beschreiben lässt… Er wand sich in Hirnkrämpfen. Können Sie sich etwas darunter vorstellen? Er hielt mich ja immer für einen Trottel, aber diese treuherzigen Fassadenprotokolle bewiesen ihm, dass ich noch viel bescheuerter war, als er für möglich hielt.“
Diese Art von Fassungslosigkeit schwebte über der Runde, bis der Referatsleiter sich geräuspert hatte und das Unfassbare sogleich infrage stellte, damit der Riss sich ja nicht vergrößert, durch das es in die Welt kriecht und sie infiziert: Wie kommen Sie denn darauf, dass das Grundgesetz abgelöst werden soll? Vielleicht, sagte ich vorsichtig, um meine Freude über diese Steilvorlage zu verbergen, weil genau das als Versprechen und als Forderung formuliert steht in Art. 146 GG, dem letzten Artikel unseres Verfassungsprovisoriums? Absurdes, realitätsverweigerndes Kopfschütteln. Oder weil Deutschland seit der Wiedervereinigung kein einziges zivilgesellschaftliches Projekt gefunden hat, das Ost und West tatsächlich vereint hätte. Wer wäre dazu besser geeignet als ein Bundespräsident aus den Neuen Ländern? Offene Münder, aber noch zu viel zerebrale Schockstarre, um zu protestieren. Oder weil die meisten unserer großen politischen Probleme – die Herrschaft des Parteienstaats; der gebrochene Generationenvertrag; die Beamten als Staat im Staat; ein Föderalismus, der die Bundesländer in allem bestärkt, wo sie am meisten versagen; eine Status-Quo-Diktatur, weil alle an der Politik Beteiligten nichts ändern wollen, was ihre Einkünfte bedroht… soll ich fortfahren? – darin begründet sind, dass wir ein einst vernünftiges Grundgesetz laufend verschlimmbessert und unter hundertfünfzehn Bänden an Bundesverfassungsgerichtsurteilen begraben haben. Wissen Sie denn nicht, dass ich ein Buch über all das geschrieben habe? Es steht doch in meiner Bewerbung, dass ich der Autor von Das Ende der Bundesrepublik. Warum Deutschland eine neue Verfassung braucht! (2009) bin. Ich dachte, deshalb bin ich hier! Haben Sie sich denn auf dieses Gespräch nicht vorbereitet? Das vertiefte den Graben der Fassungs- und Sprachlosigkeit auf ein unheilbares Maß.
Das wäre vermutlich der Moment gewesen, um zu gehen. Immerhin war man höflich genug, mir noch eine Frage zu gewähren, wenn ich denn eine hätte. Tragen Sie immer Krawatten bei der Arbeit? Dabei blickte ich mit gespieltem Ekel auf meine eigene herab. Der Referatsleiter, das Alphatier der Runde, verstieg sich im Versuch, seine Verachtung zu sublimieren, zu der Behauptung, er sei mit Krawatte geboren worden. Ich dachte zuerst nur an das Foto von ihm in Shorts und T-Shirt, das ich tags zuvor im Internet gesehen hatte. Und dann, dass es die richtige Entscheidung war, kein Theater zu spielen und sich nicht zu verbiegen, um diesen politischen Troglodyten zu gefallen.
Dieser Besuch in der Stranger Things-Parallelwelt des Bundespräsidialamtes bestätigte jedenfalls Juli Zehs Überlegung, dass Alternativen zur existierenden Form der Demokratie in der politischen Tabuzone versteckt sind. Es war, wie schon angedeutet, auch nicht das erste Mal, dass ich diese Undenkbarkeit und das Unaussprechliche in der deutschen Politik erlebte. Die Gedenkfeiern im Jahr 2009 zum 60. Jubiläum des Grundgesetzes wären die perfekte Gelegenheit gewesen, um das uneingelöste Versprechen von Artikel 146 auf die Agenda zu setzen. Stattdessen wurde in der Politik und in allen Medien eine kultartige Verehrung und Beschwörung des Grundgesetzes als zivilisatorische Hochleistung und Perle der Menschen- und Bürgerrechte zelebriert. Selbstverständlich hat trotz monatelanger und flächendeckender Kampagne des Verlags, mit Ausnahme von Deutschlandradio Kultur keine einzige Redaktion eine Besprechung meines Buchs zu diesem Thema gebracht.
Es war daher fast schon ein Skandal, als der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering in der Generalaussprache zum Thema 60 Jahre Grundgesetz im Bundestag als einziger Politiker die Stimme erhob, um eine neue Verfassung zu fordern. Alle weiteren Redner, von der Linken bis zur CSU, reagierten empört und zeterten in der ganzen Nervosität existenzgefährdeter Vorteilsnehmer, dass nichts so wertvoll sei wie das überkommene Grundgesetz und dass man gefälligst die Finger davon lassen solle. Die Status-Quo-Diktatur lässt grüßen.
Nun ist die Errichtung einer neuen nationalen Verfassung tatsächlich ein revolutionärer Akt, denn in der Tradition der europäischen Rechtsphilosophie ist es ein fester Grundsatz, dass einer verfassungsgebenden Versammlung als ultimativem Vertreter des Souveräns keinerlei Vorschriften gemacht werden können. Sie muss sich auch die Geschäftsordnung selbst geben. Nur die Prozedur der Annahme oder Ablehnung kann vom Gesetzgeber geregelt werden, genau so wie es in Art. 146 GG mit einer bundesweiten Volksabstimmung getan wurde. Im Zuge einer solchen Verfassungsrevolution könnte nicht nur der deutsche Föderalismus, sondern auch die uns bekannten Formen der parteiengesteuerten parlamentarischen Demokratie grundlegend verändert werden. Selbst eine echte Alternative zur Demokratie als Ganzes könnte Einzug halten, etwa die Demarchie: politische Mandate – vielleicht sogar alle Führungspositionen in öffentlichen Ämtern – werden nicht mehr über Wahlen vergeben, sondern über Losverfahren. Die Konsequenzen wären schwindelerregend.
Doch das Tabu, darüber auch nur nachzudenken und es laut auszusprechen, ist mächtig, denn es hat zwei starke Wurzeln. Einerseits ist es die heimliche Schutzgottheit der politischen Kaste und des gesamten öffentlichen Dienstes, die beide viel zu verlieren haben, wenn ihre Privilegien mit einer Verfassungsrevolution untergehen; etwa wenn hunderte und tausende von Behörden überflüssig werden, Beamte keine politischen Mandate mehr haben dürfen, die Parteien nicht mehr vom Staat üppig alimentiert werden und ihre Mitglieder den Behördenapparat nicht mehr kolonisieren können. Selbst den Antidemokraten wie der AfD ist die Demokratie des Grundgesetzes heilig, denn was soll aus ihren mühsam erworbenen Kenntnissen und den eingeübten Machenschaften werden, mit denen sie die Demokratie als Steigbügelhalterin für ein autoritäres Regime des nationalen Volkswillens missbrauchen können? Wir reden hier von etwa sechs, wenn nicht sieben Millionen eigennützigen Tabuwächtern.
Die andere Wurzel des Tabus ist die schiere Angst, dass wir so eine Glanzleistung wie das Grundgesetz nie wieder zustande bringen. Der angesehene SPD-Politiker und Publizist Günther Gaus hatte kurz vor seinem Tod 2004 versichert, dass er schon lange kein Demokrat mehr gewesen sei. Er hatte den Eindruck, dass wir nicht mehr verstehen, was Demokratie überhaupt bedeutet; vor allem aber, dass wir nicht mehr der Stoff sind, aus dem man eine respektable Demokratie machen kann. Wir erschienen ihm versunken in zunehmend kaputten Verhältnissen, dabei selbstzufrieden, ignorant oder unfähig zu agieren, beherrscht von einer ungebildeten, mediengesteuerten und von staatlichen Transferleistungen aller Art profitierenden Mehrheit, die den Namen demokratischer Souverän nicht mehr verdient. Es ist die Herrschaft des Pöbels, die er heraufziehen sah. Was also würde passieren, wenn man diesem Plebs das Verfassungsruder in die Hand drückt?
Das von Juli Zeh identifizierte politische Tabu steht also auf einem breiten und festen Fundament. Viele Menschen leben und verdienen gut in seinem Schatten; noch mehr akzeptieren es aus Angst vor etwas Schlimmerem. Willkommen in der Status-Quo-Diktatur. In ihr sorgt das Tabu dafür, dass politischer Wandel nur noch gewaltsam möglich ist. Seine Wächter werden keine Alternativen zur existierenden Demokratie zulassen.
Dr. Reginald ‚Reggie‘ Grünenberg ist politischer Philosoph, Drehbuch-, Sachbuch- und Romanautor. Außerdem forscht er über künstliche Superintelligenz und ist Mitgründer und -veranstalter des ersten deutschen Filmfestivals für Science-Fiction
Sachbuch Das Ende der Bundesrepublik. Warum Deutschland eine neue Verfassung braucht!
Sachbuch Politische Subjektivität. Der lange Weg vom Untertan zum Bürger
TV-Dramaserie $even $isters
Nippon-Trilogie Die Entdeckung des Ostpols (historischer Japanroman)
Künstliche Superintelligenz
Berlin Sci-Fi Filmfest
Homepage