Geschrieben am 16. Mai 2015 von für Bücher, Crimemag

Reading ahead (8): Richard Price: The Whites

Price The WhitesKäpt’n Ahab als Cop

– CrimeMag gibt heute wieder einmal unentschiedenen Programm-Machern einen Hinweis für lau. Alf Mayer hat den neuen Roman von Richard Price „The Whites“ schon einmal im Original gelesen und begutachtet.

Der Polizeiroman ist lebendiger, robuster und anspruchsvoller denn je. Richard Price, einer der renommiertesten Autoren der USA, erfährt das gerade zur eigenen Verwunderung am eigenen Werk – mit dem unter dem Pseudonym Harry Brandt erschienenen Roman „The Whites“. Eigentlich wollte er der Kohle wegen schnell eine Cop Novel schreiben, hatte dafür vier Monate eingeplant, glaubte, das Genre und seine paar Regeln lässig bedienen zu können. „Der jetzt auch“, dachte ich, als der Verlag Henry Holt für das Frühjahr 2012 eine „crime novel“ von Price unter anderem Namen ankündigte und hatte eigentlich wenig Lust auf die Lektüre. Sieben Jahre seit „Lush Life“ waren mir dann aber doch eine zu lange Zeit und ich überwand mich, wurde mit einem Roman der frühen Intensität von Joseph Wambaugh (hier und hier auf CM) überrascht. Statt der veranschlagten vier Monate brauchte und nahm Richard Price sich dann doch vier Jahre für „The Whites“, wühlte sich in Charaktere, Beziehungen und Stadtwelten, ärgert sich nun jedes Mal, wenn in einer Besprechung auf „Harry Brandt“ und nicht auf ihn rekurriert wird. Zum Teufel mit den Pseudonymen und dem „down writing“.

Auch die amerikanische Kritik hat zu rudern, dass es sich zwar hier um ein Buch mit kriminalistischem Hintergrund, aber eben doch auch um ein ernsthaftes literarisches Werk handle. Dennis Lehane meinte dazu: „Whether you call it a crime novel or a mystery novel or a giraffe with polka dots is largely irrelevant – The Whites is, simply put, a great American novel.“

price lush lifejpgSozialgefüge statt Bauchnabelperspektive

Leicht ausgesehen hatte das Genre immer bei Ed McBain, der den Polizeiroman nicht erfunden, aber herumliegende Fäden aufgenommen und ihn wie kein anderer geprägt hat, auch einem Joseph Wambaugh den Weg bereitete, von Nicholas Freeling, Janwillem van de Wetering, Sjöwall-Wahlöö, James Ellroy oder Michael Connelly zu schweigen. McBain begann 1956 mit seinen dann insgesamt 55 Romanen vom 87. Polizeirevier, erreichte sehr früh schon eine Virtuosität und scheinbare Leichtigkeit, experimentierte bis zuletzt mit großem Vergnügen – von wegen Formel für den Polizeiroman. Mit seiner fiktiven, an New York angelehnten „Big Bad City“ Isola und einem ganzen Team anstelle des einen „Großen Polizisten“ setzte er Maßstäbe zeitgenössischer, urbaner und realitätstüchtiger Literatur, die der Wirklichkeit des sozialen Gefüges und nicht nur dem Bauchnabel einzelner auf der Spur zu bleiben sucht.

Von Joseph Wambaugh, selbst schon ein Polizeiveteran, als er zu schreiben begann, stammt der Satz, dass die besten Polizeiromane nicht nur davon handeln, wie die Polizisten an einem Fall arbeiten, sondern dass sie auch davon handeln, wie der Fall an den Polizisten arbeitet. Für Richard Price und „The Whites“ trifft das zu, mit ganzer Wucht. Price, der Autor von jetzt neun Romanen, darunter „Clockers“ und „Lush Life“, Drehbuchautor mehrere Episoden von „The Wire“, von „Sea of Love“ (1989, mit Al Pacino), Adapteur anderer Romane, so von „Kind 44“ (Tom Rob Smith), wurde einmal gefragt, warum er sein literarisches Talent auf crime fiction und auf Drehbücher verwende, in denen Kriminelle vorkämen. Er antwortete damals: „Wenn du lange genug um einen Mord herumkreist, lernst du eine ganze Stadt kennen.“

Joseph Wambaugh

Joseph Wambaugh

Wenn der Fall zur Malaria wird

„The Whites“ kreist um ein Handvoll New Yorker Hardcore-Polizisten, die sich einmal „Die Wildgänse“ nannten – durchaus mit Bezug zum dem Film und als Aufräumer im urbanen Dschungel. Vier von ihnen sind nun pensioniert, haben mehr oder weniger neue Leben angefangen. Nur Billy Graves, die Hauptfigur, ist noch dabei, arbeitet die Nachtschicht und sieht mit 42 so fertig aus, dass er schon mit Seniorenrabatt ins Kino kam. Seine Frau Carmen ist Erstaufnahmeschwester im Knife-and-Gun-Club des St. Ann’s Hospitals, in der Notaufnahme eines nicht ganz feinen Viertels. Ihr Haus ist zugemüllt, Kinderspielzeug von zwei Sprösslingen, Bastel- und Handarbeiten, Maiskolbenkunstwerke. Billys Territorium sind einige Bücherregale voller Kriminalromane, hauptsächlich von Ex-Cops (Price verneigt sich hier vor Wambaugh, Bob Leuci, Robert Daley, Edward Conlon uva.).

Mit erheblicher Dynamik bricht die Vergangenheit wieder auf. Jemand schlachtet „die Weißen“ ab, jene Fälle nicht erwischter und durchs Netz gegangener Killer, die jeder Cop hat und die ihn verfolgen wie Käpt’n Ahab den weißen Wal oder umgekehrt. Das Ungenügen der eigenen Arbeit, die von Gesetz und Ressourcen, von juristischem Slapstick und menschlichem Drama gesetzten Grenzen, die über Jahre gewucherte Schuldgefühle – all das, wie ein Fall an dem Polizisten arbeitet, was ihn befällt wie Malaria –, ist Thema in „The Whites“.

Zitat: „No one asked for these crimes to set up house in their lives, no one asked for these murderers to constantly and arbitrarily lay siege to their psyches like bouts of malaria.”

price clockersVon Fort Apache zu Fort Surrender

Bei Billy Graves kommt die Schuld dazu, vor vielen Jahren versehentlich ein Kind erschossen zu haben. Jeder im Buch hat seine Sünden zu tragen, seinen Seelenfrieden zu suchen, mit der herzbrechenden Härte fertigzuwerden, die es braucht, sich selbst und/ oder anderen zu verzeihen.
Ein ganzes Cop-Universum.
Eine ganze Welt.
Ein Richard-Price-Roman eben.
Rasiermesserscharf. Unvorhersehbar. Chaotisch. Introspektisch. Dialogisch. Aufwühlend. Vielstimmig. Und dunkel.

Keine ganz einfache Lektüre. Es gibt großartige literarische Passagen, ein Verhör, vor dem sich Cop-Dialogmeister McBain verneigen würde. Aber dies ist kein Buch zum schnellen Zwischendurchlesen, dieser Roman fordert mit seiner Dichte und Ambiguität, seinem Tempo und seinen Salti vom Leser Tribut. Klare und saubere Lösungen gibt es nicht, Ambivalenz und Vielschichtigkeit führen in manchen Irrgarten, geprüft wird hier auch das eigene Gewissen. Gerechtigkeit wird einmal als „die Erlangung von Gnade“ beschrieben, „das näheste Ding zu Frieden auf der Welt“. Diese Passage steht in einem Diskurs über Selbstjustiz und Rache. Auch in der Stadt, thematisiert Price wieder und wieder, braucht die Moral einen Kompass. Nur, wo ist Norden?

Irgendwann kommt die Rede auf „Fort Apache – The Bronx“, einen Film von 1981, der auf zwei Büchern ehemaliger Cops beruhte. Price macht daraus einen Witz, ob das anstehende Remake denn in 3 D sei. In den späten 1970er Jahren stand die New Yorker South Bronx für das Versagen der Ordnungskräfte. Hundert Jahre später noch ein Bild aus dem Wilden Westen für eine innerstädtische Polizeiwache zu bemühen, eine Paraderolle übrigens für Paul Newman im Film, verwies auf den Zustand der Stadt. Der städtischen Zivilisation. Die hat sich – auch das zeigt Price erbarmungslos -, nicht wirklich verbessert. Nur dass der Name, man lebe ja nun in zynischen Zeiten, längst in „Fort Surrender“ geändert sei, ins Ergeben vor den Zuständen.

Price writing as Brandtjpg

Mit David Simon und George P. Pelecanos am Times Square

Richard Price hat schon immer über Polizisten und Kriminelle geschrieben, seit er 1974 mit 24 Jahren „The Wanderers“ veröffentlichte – eine Aktualisierung von „Saat der Gewalt“ sozusagen, mit dem Evan Hunter/ Ed McBain 1954 über Nacht berühmt geworden war. Dennoch wurde Price insgesamt wenig als Kriminalautor wahrgenommen. Bei seinem neunten Roman holt ihn das nun ein. Jetzt, mit 65, ist er in einer hyperaktiven Phase. Der Kabelkanal HBO, vom dem „Boardwalk Empire“ stammt, ist in der Produktion von „Crime“, einer von ihm geschriebenen achtteiligen Mini-Serie, in der John Turturro als New Yorker Rechtsanwalt Krankenwagen hinterherjagt, um an Jobs zu kommen. Price hat mehrere Adaptionen für Krimiserien in Arbeit, dazu eine weitere Serie ebenfalls für HBO, zusammen mit David Simon (von „The Wire“ und „Homicide“) und George Pelecanos, über den New Yorker Times Square in den 1970ern. Nicht zu vergessen die Adaption von „The Whites“ für Sony und Scott Rudin.
Sein nächster Roman, meinte er in einem Interview, könnte möglicherweise „der ultimative Polizeiroman werden“.

PS: Das Pseudonym für „The Whites“ entstand als Hommage an seinen langjährigen Literaturagenten Carl Brandt (dazu hier), der ihn mit 25 ins Boot holte. Harry erschien ihm ein „Retro-Vorname“, grob und stumpf, eben etwas für ein Pseudonym. Jetzt steht auf den Büchern: „The Whites. Richard Price Writing As Harry Brandt“ und Price sagt über solche Tarnnamen: „Es ist wie ein Kaninchen aus einem gläsernen Zylinder zu ziehen.“ Unnötig, mit anderen Worten.

Alf Mayer

Richard Price writing as Harry Brandt: The Whites. Henry Holt, New York 2015. 336 Seiten.
Foto: Wambaugh (1) by Mark Coggins from San Francisco – Joseph WambaughUploaded by tripsspace. Licensed under CC BY 2.0 via Wikimedia Commons.

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