Geschrieben am 15. Oktober 2016 von für Bücher, Crimemag

Sachbuch: Pascal Menoret: Joyriding in Riyad

41z66kxoral-_sx331_bo1204203200_Saudi-Joyriding: Protest gegen das reaktionäre Scheich-System?

Der französische Anthropologe und Arabist Pascal Menoret verbrachte vier Jahre mit Feldstudien in Riyad, wo er auf das Joyrider-Phänomen gestoßen war, das viele Fragen offenließ: War dieses gefährliche High-Speed-Herumdriften auf den Straßen nur ein stumpfsinniger Zeitvertreib? Oder nur beliebt in der Drogen- und Schwulen-Szene? Oder eine Protestbewegung gegen ein Oligarchen-System, das den Kontakt zur unterprivilegierten Jugend verloren hat ? In seiner spannenden Studie legt Menoret wie beim Zwiebelschälen immer neue Schichten bloß. Peter Münder hat sie aufgeschält.

Beim Betrachten der Youtube-Videos von saudiarabischen Joyridern reibt man sich verblüfft die Augen: Sind diese johlenden, aus den Autofenstern hängenden und wild gestikulierenden Typen in ihren wehenden Kaftans vielleicht auf einem aus dem Ruder gelaufenen Drogentrip? Sie brennen mit ihren schlingernden japanischen Familienkutschen- meistens sind es geklaute Hyundais, Lexus oder Toyota Camry-Modelle – unentwegt ihre „Doughnut“–Kreise in den Asphalt, zeigen wie besessen auf den Tacho, der sich bei 230 km/h eingependelt hat und flippen einfach nur aus.

Diese Szenen spielen sich in den Suburbs von Riyad ab, auf Schnellstraßen und Highways, auf denen sich staunende Groupies einfinden, um ihre tollkühnen Rodeo-Helden in den kreiselnden Kisten zu bewundern. Unfälle mit Verletzten und Toten werden von den Fahrern dabei in Kauf genommen – kein Wunder, dass der Gouverneur von Riyad schon den 1980er Jahren gegen die Joyrider vorging. Genutzt hat es nichts. Ist diese Szenerie überhaupt für Feldstudien von Anthropologen oder Soziologen geeignet? Handelt es sich nicht nur  um das Auskosten eines extrem gefährlichen Nervenkitzels  ausgegrenzter Dumpfbacken, die ihren Frust abreagieren? Und wie will der ausländische Feldforscher überhaupt die „Motivation“ dieser Typen eruieren, wenn Geheimpolizei, Religionspolizei und alle anderen möglichen Staatsorgane den fremden ungläubigen Neugierigen verfolgen, der perfekt Arabisch spricht und sich bestens in der Geschichte Saudi-Arabiens auskennt?

Menoret wurde jedenfalls rund um die Uhr beschattet, weil man ihn für einen Spion einer westlichen Regierung hielt, viele Kontaktpersonen brachen nach Interventionen der Saudi-Bürokraten sofort die Beziehungen zu ihm ab. Das offensive Vorgehen offizieller Instanzen gegen die Joyrider ist aber offenbar ziemlich wirkungslos und provoziert neue, immer kreativere Ablenkungsmanöver der Fahrer, um die Polizei in die Irre zu führen. Inzwischen wurde auch eine spezielle Anti-Joyrider-Einheit gegründet, in der sich Soziologen und Kriminologen den Kopf über jugendliches Freizeitverhalten, Langeweile und Protestbewegungen zerbrechen sowie Forschungsarbeiten über den  gesellschaftlichen Stellenwert des Automobils verfassen.

Aber das Joyrider-Phänomen (arabisch „Tafhit“) blüht und gedeiht, während Frauen immer noch das Autofahren verboten ist, obwohl in diesen turbulenten Umbruchphasen fast alles umstritten ist und Reformen auf vielen Sektoren in Angriff genommen werden, die dann  von fundamentalistischen Wahabiten im Keim erstickt werden.

Spezialisiert auf Hegel, Saudi-TV-Serien, Stadtplanung und Jugendrebellion

Angesichts all dieser Fragen war Pascal Menoret ziemlich ratlos, als er den Wahnwitz der Drifter zum ersten Mal selbst im Straßenverkehr von Riyad erlebte und von diesem bizarren Phänomen fasziniert war. Er saß hinterm Steuer seines Autos an einer Kreuzung und wartete auf die Grünphase der Ampel, als ihn ein mörderisches Kreischen und Krachen erschreckte, das hinter ihm mit rasender Geschwindigkeit herandonnerte und sich wie ein alles pulverisierender Zyklon anhörte. Er fuhr einige Meter zur Seite, wo er sich für besser geschützt hielt – und dann krachte es auch schon überall: Es war ein Drifter, der in mehrere Autos gekracht war und eine Spur der Verwüstung hinterließ. Wäre Menoret nicht rechtzeitig zur Seite gefahren, hätte ihn der Drifter direkt gerammt. Als er merkte, dass dieses Kamikaze-Drifting kein Einzelfall war, sondern in entsprechenden Kreisen als Show mit Groupies und Assistenten der Star-Fahrer organisiert war, begann er sein Interesse an den Joyridern zum Forschungsprojekt auszuweiten.

Dem immensen Erkenntnisinteresse des Anthropologen kam dieses komplexe Thema, bei dem Jugendarbeitslosigkeit (30 Prozent), der Frust von Ausgegrenzten („tufshan“), totale Fehlentscheidungen der Städteplaner und die Rebellion gegen autoritäre  Strukturen sich zu einem brisanten Protestpotential vermischten, sehr entgegen. Menoret hatte an der Sorbonne promoviert, er hatte dann Arabisch und deutsche Philosophie (besonders Hegel) studiert, ein Post-Doc-Studium in Princeton absolviert und arbeitete von 2010 – 2011 und von 2013 – 2014 in Harvard an diversen wissenschaftlichen Studien. Ab 2011 war er am Abu Dhabi-Ableger der New York University (NYUAD) tätig.  Seine Magister-Arbeit hatte er übrigens über die Saudi-TV-Serie „Tash Ma Tash“ verfasst.

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Seine Hoffnung, mit intensivem Eintauchen in die Drifter-Szene und mit ausführlichen Interviews gründliche Einsichten in diese Gruppierungen und deren Motivation zu bekommen, konnte er allerdings ziemlich schnell begraben. Ein kontaktfreudiger junger Beduine wollte ihn in seinem Dorf beherbergen, doch dann bedrohte die radikal-islamistische Verwandtschaft den Franzosen, der sofort flüchten musste. Bei den konspirativ organisierten Drifter-Sessions fühlten sich Menorets Kontaktleute sofort „verbrannt“, wenn die Polizei die Fahrer verhaftete und der bei allen suspekte, besonders neugierige  Franzose präsent war.

Besonders grotesk war für ihn jedoch die Konfrontation mit den Hütern des Gesetzes: Denn oft waren es die Joyrider, die Jagd auf die Streifenwagen machten,  Eier auf die Scheiben der Polizeiwagen knallten und die Uniformierten verhöhnten. Andererseits gab es auch Phasen, in denen bekannte Fahrer sofort verhaftet wurden. Der Riss zwischen den extrem autoritären Wahabiten und den moderaten Reformern ist in fast allen gesellschaftlichen Bereichen jedenfalls unübersehbar und kann in diesem wankelmütigen Kurs gegen die Drifter, Drogenkonsumenten und die wenigen jungen Frauen aus dem subkulturellen Spektrum leicht ausgemacht werden.

Der von Menoret präsentierte Mix aus historischem Rückblick (Riad um 1970 hatte 300 000 Einwohner, jetzt sind es fünf Millionen, um 1970 gab es 60 000 Autos in Saudi-Arabien, jetzt 3,9 Millionen), Stadtplanungs-Analyse (die nur auf  die Konzentration renditeträchtiger Immobilien in übelster Trump-Manier fixiert war) und der Vermittlung von subkulturellem Protest-Flair inklusive Joyrider-Balladen und schwülstiger Verherrlichung des heroischen Drifters „Bubu“ („Drifting is my job, Skidding is my field, Cops are my treat, Camry plays, Police puke“) ist beeindruckend und faszinierend.

Menoret geht allen Aspekten auf den Grund, die ihm relevant erscheinen. Er beleuchtet die Widersprüche einer hyper-kapitalistischen Plutokraten-Kaste, die minderbemittelte Gruppierungen wie etwa die Beduinen aus gesellschaftlichen Prozessen ausgeblendet hat.  Auch wenn manche  Verhaltensmuster der Joyrider wie spätpubertäre, gefährliche und  imbezile Delikte anmuten, muss man dem munter und weltoffen in der Tradition von Claude Levi-Strauss operierenden Menoret konzedieren, dass seine direkt vor Ort gesammelten Eindrücke der Joyrider-Szenen als rollende Protestaktionen gegen ein profitgieriges Scheich-System ohne jeden basisorientierten Realitätsbezug plausibel sind.

Menorets Fazit, bei den Joyridern gehe es vor allem darum, sich den von geldgierigen Immobilienhaien geraubten Lebensraum zurückzuerobern, ist zwar nachvollziehbar. Aber viele Szenen (Gruppendynamik, Kult um die Fahrer, Adrenalinschub durch Unfälle, Drogenkonsum und erotisch besetzte Auto-Kultur) könnten auch aus JG Ballards  bizarrer Auto-Ballade „Crash“ stammen, in der rasende Autos, ein stimulierender Crash und rauschhafter Sex eine überwältigende Symbiose eingehen. Nicht nur beim Driften im Lexus bei 230 Sachen …

Peter Münder

Pascal Menoret: Joyriding in Riyad. Oil, Urbanism and Road Revolt. Cambridge Middle East Studies, Cambridge University Press, New York 2014. 250 Seiten.
Vgl. auch: Pascal Menoret: The Saudi Enigma: A History. Zed Books, London 2005

Mit dieser Rezension knüpft Peter Münder an eine sozialkritische Tradition, wenn man so will, von Besprechungen soziologischer Studien und Analyen an: Sudhir Venkatesh: Gang Leader for a Day; Katherine Boo: Behind the beuatiful Forevers und Alice Goffman: On the Run. Hier auf CULTurMAG zu finden.

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