10.11.17

Die wütende Stimme



Der Mann am Nebentisch fiel ihm auf. Er paßte überhaupt nicht in das Bild, das er von diesem Restaurant hatte. Verrückte sollten hier keinen Zutritt bekommen. Aber Verrückte bekamen Zutritt. Der Beweis saß an diesem Tisch, eine große Schüssel Austern vor sich, sie er so laut schlürfte, daß sich auch andere Blicke auf ihn setzten. Ein austernschlürfendes Schwein. Was soll's. Was geht es dich überhaupt an? Die Stimme in seinem Inneren wurde lauter, rabiater: Was geht es dich eigentlich an! Seit wann sind wir unter sie Spießer gegangen?! Ein feiner Mensch mit einem noch feineren Urteil bist du, was?! Etwas Besseres! Etwas ganz Besonderes! Laut sagte er: »Moment mal!«

Und auch ihn taxierten jetzt die Blicke der Gäste, denn: Mit wem redet der da eigentlich? Das Schwein mit den Austern? Okay. Man gewöhnt sich an das Geräusch. Ein ordinärer Mensch, zugegeben - aber vielleicht hat er ja ein Problem mit seinem Rachen. Da sollte man nicht zu schnell mit einem Urteil sein. Aber der da ... der hört Stimmen. Sieht man ihm an, unabhängig von seinem kleinen Ausrutscher eben. Die Stimme in Jarolin jedoch steigerte sich bis zum nackten Zorn. Sie beschimpfte ihn jetzt in einer Lautstärke, daß er die Austern nicht mehr schlotzend in dieser tintenfischartigen Höhle verschwinden hörte. Sie brüllte ihn an, daß er ein Versager sei, schon immer gewesen; ein armseliger Wicht, ein Gnomus, ein Einzeller, ein Wirbeltier! Aber damit begnügte sich die Stimme nicht, war jetzt in Rage, zerriß sein Hemd und schlug auf ihn ein, erwischte ihn hart am Unterkiefer. Jarolin glaubte für einen Augenblick, ohnmächtig zu werden, bevor der nächste Schlag ihm die Nase zertrümmerte. Das Blut spritzte in Zeitlupe, dicke Rotzklumpen klatschten auf den Boden.

Erst nachdem Jarolin mit eingeschlagenem Schädel dalag, stand der Austernschlürfer auf, beugte sich mit einem Taschenmesser zu ihm hinunter und schnitt ihm die Leber heraus. Wäre die Kamera geblieben, würden wir Zeuge eines weiteren Festmahls.


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