Posts mit dem Label guckkasten werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label guckkasten werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

10.12.17

Die Strümpfe bei Hofe



Nick ertappte sich selbst dabei, wie er im Regen saß, und das Schauspiel der fallenden Tropfen beobachtete. Nichts hätte ihn heute abend zurück in seine Kammer gebracht, denn er wollte nicht etwas hören, was nicht gleichzeitig zu beobachten war. Wärst du unsichtbar, mein lieber Regen, ja, auch dann müsste ich mir eine Gestalt für dich ausdenken. Vermutlich würde ich Fingerknöchel nehmen, ich wüßte ja nicht, daß du Wasser bist.

Infernalisches Prasseln. Das Prasseln von Geisterfingern auf den armseligen Behausungen und ... auf dem etwas weniger armseligen Dachstuhl des Schloßes. Was die wohl den ganzen Tag dort treiben? Aufhübschen, abhübschen, hinaus zur Jagd, zurück zur Tafel!

›Lustschloß‹ - dieses Wort gefiel Nick außerordentlich, aber: ob die jetzt auch im Regen hockten? Zeitlos schienen die Herrschaften nie zu sein, alles wirkte geplant und gewichtig, selbst wenn eine der Damen den Strumpf verlor. Das geschah auf merkwürdige Weise. Das Textil löste sich noch im Schuh bereits vom Fuß, krabbelte aus den geschnürten Stiefeln ins Freie, und ließ sich einfach fallen. Meistens verendete der Strumpf im Gehuf der galoppierenden Pferde, so manches Mal aber stürzte sich ein Jüngling gleich hintendrein und brachte das Kunststück fertig, vor dem freiheitlich denkenden Strumpf im Matsch zu landen. Das nützte weder Fuß noch Reiter, aber es gefiel dem Strumpf, denn jetzt durfte er sicher sein, daß er mit Stroh ausgestopft dort aufgehangen wurde, wo die wirklich wichtigen Strümpfe hingen. Das war eine etwas seltsame Galanterie, die womöglich gar nicht so oft vorkam. Aber wenn man, wie Nick, überall Geheimnis und Rätselraunen erblickt, und sei es in einer lächerlichen Pfütze, dann wird die Frage, warum so ein gut umsorgter Strumpf sich selbst entleiben sollte, zur Nebensache; die Hauptfrage blieb: Was ist hier eigentlich los? Hier ist die Welt, und da bin ich - ständig ist alles in Bewegung!

19.11.17

Das Haus der letzten Dinge



Dorn und ich – wir entdeckten das Kerzenlicht nach Mitternacht im oberen Eckfenster, und in einem kurzen Moment die flüchtige Gestalt hinter der schmierigen Scheibe. Das unheimliche Ambiente gemahnte uns zur Vorsicht, denn uns war klar, daß wir zum ersten Mal in unserem Leben einer Geistererscheinung gewahr wurden. Das ruppige und wildwuchernde Gelände durch eine der morschen Zaunlatten zu betreten, wagte wir nicht, denn auch wenn das Gespenst da oben nicht am Fenster schwebte, wäre das Gebäude immer noch als baufällig zu bezeichnen. Als wir da standen und sannen, was zu tun sei, geschah es, daß sich das Fenster öffnete und das im trüben Weiß illuminierte Wesen einen Nachttopf ausleerte. Die Geisterscheiße schwebte nahezu wie eine Feder zu Boden, hob also die Naturgesetze nicht auf, sondern bestätigte, daß auch die Bewohner einer Zwischenwelt sich an gewisse Regeln unseres Planeten zu halten haben.


10.11.17

Die wütende Stimme



Der Mann am Nebentisch fiel ihm auf. Er paßte überhaupt nicht in das Bild, das er von diesem Restaurant hatte. Verrückte sollten hier keinen Zutritt bekommen. Aber Verrückte bekamen Zutritt. Der Beweis saß an diesem Tisch, eine große Schüssel Austern vor sich, sie er so laut schlürfte, daß sich auch andere Blicke auf ihn setzten. Ein austernschlürfendes Schwein. Was soll's. Was geht es dich überhaupt an? Die Stimme in seinem Inneren wurde lauter, rabiater: Was geht es dich eigentlich an! Seit wann sind wir unter sie Spießer gegangen?! Ein feiner Mensch mit einem noch feineren Urteil bist du, was?! Etwas Besseres! Etwas ganz Besonderes! Laut sagte er: »Moment mal!«

Und auch ihn taxierten jetzt die Blicke der Gäste, denn: Mit wem redet der da eigentlich? Das Schwein mit den Austern? Okay. Man gewöhnt sich an das Geräusch. Ein ordinärer Mensch, zugegeben - aber vielleicht hat er ja ein Problem mit seinem Rachen. Da sollte man nicht zu schnell mit einem Urteil sein. Aber der da ... der hört Stimmen. Sieht man ihm an, unabhängig von seinem kleinen Ausrutscher eben. Die Stimme in Jarolin jedoch steigerte sich bis zum nackten Zorn. Sie beschimpfte ihn jetzt in einer Lautstärke, daß er die Austern nicht mehr schlotzend in dieser tintenfischartigen Höhle verschwinden hörte. Sie brüllte ihn an, daß er ein Versager sei, schon immer gewesen; ein armseliger Wicht, ein Gnomus, ein Einzeller, ein Wirbeltier! Aber damit begnügte sich die Stimme nicht, war jetzt in Rage, zerriß sein Hemd und schlug auf ihn ein, erwischte ihn hart am Unterkiefer. Jarolin glaubte für einen Augenblick, ohnmächtig zu werden, bevor der nächste Schlag ihm die Nase zertrümmerte. Das Blut spritzte in Zeitlupe, dicke Rotzklumpen klatschten auf den Boden.

Erst nachdem Jarolin mit eingeschlagenem Schädel dalag, stand der Austernschlürfer auf, beugte sich mit einem Taschenmesser zu ihm hinunter und schnitt ihm die Leber heraus. Wäre die Kamera geblieben, würden wir Zeuge eines weiteren Festmahls.


03.10.17

Eine alte Dame geht aus



Sprecher: Michael Perkampus / Claudia Maulwurf

Manchmal stellte sie das Radio an. Es kam ihr dann so vor, als wäre jemand bei ihr im Raum und spräche sie an. Antworten müßte sie ja nicht, aber sie tat es trotzdem. Oft sagte sie: "Ihnen auch!" Oder: "Das haben Sie wieder einmal fein ausgedrückt!" Sie ging in der ganzen Wohnung umher und betrachtete die Wände, die Figuren auf manchen Regalen, die Teller in der Vitrine. Manchmal gab es im Radio ein Lied, das sie kannte. Das akustische Fenster, das sie davon überzeugte, daß es eine Welt außerhalb ihrer Küche gab. Lange war sie nicht mehr raus gekommen, woher sollte sie also wissen, ob die Straße vor ihrer Haustüre überhaupt noch existierte? Vielleicht war da schon längst eine Autobahn entstanden. Sie hätte televisionieren können, damit kannte sie sich allerdings nicht besonders gut aus; sie wußte nicht, wie man zuschaut, und deshalb gab es für sie nie ein Bild, dem sie hätte folgen können.
Das Radio war die Lebhaftigkeit in Person, darin war die ganze Welt vertreten, sogar das ›Weiße Rauschen‹, das sie sich manchmal ebenfalls einstellte. Und heute - heute wollte sie wieder einmal ausgehen. Dafür hatte sie ihr einziges bestes Kleid im Bügelofen bügeln lassen. Manchmal aber wollte sie Stille. Es kam ihr dann so vor, als sei sie die letzte Überlebende eines großen Irrtums. Dann sagte sie in die Stille hinein: »Ich habe es schließlich gewußt!« Oder: »Es ist schon merkwürdig!« In der Stille hörte sie den Boden an manchen Stellen knarzen. Ab und zu, wenn ihr danach war, küßte sie eine der Wände, anstatt sie nur anzusehen, die Figuren in manchen Regalen. Jetzt aber nahm sie ihr Kleid, zog es an - und auch ihre einzigen besten Schuhe vergaß sie nicht, bevor sie sich ins Bett legte. Im Radio lief ein altes Lied.


02.10.17

Schellack



Sprecher: Michael Perkampus / Claudia Maulwurf / Fafnir Fiedler

»Auch ich möchte wissen, wer Sie sind« sagte sie. Ich ließ sie stehen und ging nach nebenan. Kurz darauf kam sie herein, erschüttert ob meines Verschwindens, aber ich zuckte mit den Schultern, als ich sie so schüchtern stehen sah, das Licht aus dem Nebenraum über ihre Schultern geworfen. Dieses Licht beleuchtete nichts und nahm ihr für einen Augenblick die Ziselierung aus dem Gesicht. »Was tun wir nun? Was fangen wir an?«
»Wir hören uns ein paar Aufnahmen an - Tonband, oder besser: das gute alte Schellack!«
»Die Läuse?« Ihre Augen traten ins Dunkel.
»Ja. Gibt es nicht mehr. Die Platten sind schwer, schmerzen aber wundervoll, wenn man sie auflegt.«
»Sie tun so, als würde ausgerechnet ich Ihnen zuhören.«
»Ich weiß.« Ich fühlte mich ertappt, doch dem durfte man keine Träne nachweinen. Sie stand noch immer im Türfutter. »Schließen Sie doch die Tür, wenn Sie noch etwas bleiben wollen!«
Sie schloß und schloß. "Dann ist die Tür aber für immer geschlossen!"
»Sorgen Sie sich nicht, wir nehmen das Fenster! Allein, dass wir beide diese Atmosphäre teilen - das sehe ich doch richtig? - läßt eine geschlossene Tür alt aussehen.«
»Warum sind Sie vor mir geflüchtet?«
»Sie wollten etwas anderes fragen! Zwingen Sie sich nicht, zu lügen - sagen Sie lieber etwas falsches!«
»Sie meinen, daß ich Sie liebe?«
»Das wäre nicht das erste Mal.«
»Und ich käme auch noch damit zurecht.« Sie lachte kurz auf und setzte sich aufs Bett. Was sie trug, trug sie nur zum Spaß. Es war nicht ihr Stil. Den verbarg sie unter ihrem Mieder. Ich ging zum Grammophon und legte Donegan Lonnie Skiffle unter die Nadel. Rauch stieg auf und sorgte für den Vanillegeruch.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir das Licht einschalten? Ich kann Sie gar nicht sehen« sagte sie.
»Sie wagen sehr viel - tanzen Sie mit mir!«
Sie erhob sich raschelnd und lief im Zimmer hin und her, um mich zu finden. Ich blieb still und wartete, bis sie nach all den Gegenständen, die sie umwarf, endlich gegen mich rempelte. Ich griff schnell zu und walkte ihre Arschbacken, preßte ihren Unterleib an meinen. Ihr Atem veränderte sich. Sie beherrschte das Morsen.
Lang, kurz - kurz, kurz - lang, lang - lang, kurz, kurz - lang, kurz, lang - kurz - kurz, kurz, kurz, kurz: nimm mich!
»Sie atmen vorzüglich« flüsterte ich. »Sie kultivieren Ihren eigenen Slang!« Erst jetzt bemerkte ich, daß sie ihre Zunge verschluckt haben mußte, denn es befand sich keine in ihrem Mund. Sie begann, lasch zu werden, brach unter meinen knetenden Händen zusammen. Es mußte jetzt schnell gehen. Ich sprang zur Tür, riß sie auf und rief: »Ein Notfall!«
Skiffle, der auch auf dem Plattenteller lag, war der erste, der reagierte. Mit wenigen Blicken hatte er sich im Zimmer umgesehen und die Situation erkannt, kniete nun vor ihrem blauen Gesicht und schüttelte den Kopf. Nach und nach strömten auch die anderen herein.
»Sie ist tot« sagte Skiffle mit seinem Kratzen und Rauschen in der Stimme.
»Sie sollten sich auf CD pressen lassen« riet ich ihm.
»Da haben Sie recht. Das werde ich.«


29.09.17

Cocktail



Sprecher: Fafnir Fiedler / Michael Perkampus

»Es tut mir leid, es Ihnen auf diesem Wege mitteilen zu müssen ...« sagte der Butler, und stand da, wie ein Stock eben dasteht »aber Ihre Frau läßt ausrichten, ich solle Ihnen eine in die Fresse hauen und sie ließe sich scheiden. Da ich zu ersterem nicht erzogen bin, muß ich leider Fehl gehen, und kann Ihnen nur die zweite Botschaft sachgetreu übermitteln.«
Da standen sie, gaben an, und tranken Cocktails, die sie noch nie in ihrem Leben getrunken hatten. Eine Gesellschaft voller Pärchen, die sich scheiden ließen. Wenn man es treiben wollte, ging man nach oben; dort war alles mit blödem Plüsch ausgarniert, aber die Betten quietschten nicht. Handschellen gab es für zwanzig Mäuse zum ausleihen.
»Danke, Bernie. Das ist nett!« Ich schob ihm einen Geldschein in die hohle Hand. »Das haben Sie gut gemacht!«
Ohne das Geschehen mit den eigenen Augen zu begleiten, verschwand der Schein in einer der unzähligen Taschen, die alle beschriftet waren. Ich konnte nicht lesen, was darauf stand, und hätte mich vorbeugen müssen, um es dennoch zu tun.
»Sir! Außerdem wartet jemand auf Sie, ebenfalls eine Miß. Diese aber will nun, daß ich Sie zu ihr führe. Sie läßt ausrichten, sie sei nackt, und darüberhinaus überglücklich, daß Sie das mit Ihrer Scheidung nun endlich regeln wollen. Sie sagt, Sie sollen sich beeilen, sie friere entsetzlich.« »Danke, Bernie. Das ist nett!« Ich schob ihm den nächsten Geldschein in die hohle Hand. Das mechanische Getriebe begann erneut leise zu schnurren, und das Geld verschwand, jedoch in einer anderen Tasche.
»Was steht da eigentlich auf Ihren Taschen?« Ich hatte lange genug gewartet, und wollte mich noch immer nicht vorbeugen.


23.09.17

Schwerkraft zum halben Preis



Nebenan, beinahe in der Hinterstube, so aber doch noch im Wintergarten, verkaufte Frau Emsrente Schwerkraft zum halben Preis. Es ist da in den letzten Jahren gehörig etwas ins Wanken geraten, und da man zu keinem Zeitpunkt wußte, was Schwerkraft überhaupt ist, wußte freilich auch niemand, wie man ihr Fehlen kompensieren sollte. Aber Frau Emsrente hatte einen Schwerkraftmixer, eigentlich ein zylindrisches Haushaltsgerät, das von außenliegenden Solarringen umschlossen wurde, und auf dessen Innenseite eine mit Sauerstoff gefüllte Biosphäre angelegt war. Man kaufte Frau Emsrentes Schwerkraft, wenn man etwas im Umland spazierengehen wollte.


21.09.17

Olga und der Ring



Olga öffnete die Tür und fand einen Ring. 'Natürlich', wird jetzt jeder sagen, 'natürlich fand sie einen Ring. Das ist ein Märchen, und da findet irgendjemand, der dann vielleicht auch noch die Hauptfigur ist (oder mit ihr in direktem Kontakt steht), ihr Gegenspieler sein mag, immer einen Ring oder ein anderes Artefakt.' Trotzdem hatte es etwas Besonderes mit diesem Ring auf sich: Er war nämlich gewöhnlich.


13.09.17

Modellbau



aufgenommen in der klangschmiede süd februar 2011

text und regie: michael perkampus
aufnahmeleitung und mastering: fafnir fiedler
erschienen in der edition taberna kritika

sprecher: michael perkampus, stephanie petrussek, 
fafnir fiedler, claudia maulwurf

»Das sieht alles so roh und verletzlich aus …«
»Nunja, es ist ja auch frisch geschlachtet.« Ogreiner grinst sein fleischiges Mundwerk zur Kundin hin. Im Hintergrund die Poster mit den Hellebarden, eins mit dem Porträt des alten Perdix, Sägemotoren zu seinen Füßen. Im Öl schwimmen Rinderhüften, Haut, Horn. Auf einem großen abgeschabten Holztisch Schlachtschussapparate, eine Wanne voll Blut, auf der einige blau perlende Blasen wippen, zumindest sieht das so aus. Die Knochen … »wenn Sie die nicht zerhacken, können wir sie wieder zusammenbasteln. Die Kinder hätten ihre Freude daran, wollten schon immer ein Skelett. Klar, die Kuh ist ziemlich groß (oh ja), die paßt nicht in ein Kinderzimmer … Wissen Sie, wir haben ja beide Bankert in nur einem Zimmer unterbringen können (verstehe), andererseits wäre es doch mal was anderes …«
»Ich kann Ihnen aber auch ein Kalb von den Knochen schälen, wenn Sie das …«
Sie schürzt die Lippen, ihr Atem will raus. »Ich hätte da aber eine Bitte. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Na sagen Sie schon!« Kauft seit Jahren ihr Fleisch in der Werkstatt, da will man nicht Nein sagen: Rinder, Lämmer, Hühner, die ganze Arche Noah; den Tranchierkurs besucht sie auch, auf dem Auto ein Aufkleber: ›Wir fressen Vieh‹.
T-Shirts, Taschen im Haut-Look, sogar die Marmelade im Schweinsdarm, Brot in der Pelle, Fleischreste im Hundetrog … »kochen wir immer ab, ich sag's Ihnen, roh würde der uns doch glatt selber anfallen, der Heini.« Heini der Molossoide. »Könnten Sie die Knochen nummerieren?«
Wie er also da kniet und die Knochen, auf dem Boden rutschend, die Zunge zwischen den Zähnen wie ein weggetretenes Kind, nummeriert, kommt Ameli rein und fragt, was er da treibe. »Ich nummeriere die Knochen eines Kalbes. Frau Ludwig hat mich drum gebeten.«
Ameli hat sowieso das Gefühl, daß er zu viel für die Kunden übrig habe … »aber sag mal, ist das nicht überhaupt eine gute Idee, das Schlachtvieh als Modellbausatz anzubieten? Besser als hier im blutigen Sibber rumzurobben.«
»Scheiße, das Gelenk ist hinüber!« Ogreiner wirft es in die Ecke. »Gib mir mal das andere.« Er deutet wurstig auf den Tisch.
»Das Schweinsding?«
»Ja.«