03.10.17
Eine alte Dame geht aus
Sprecher: Michael Perkampus / Claudia Maulwurf
Manchmal stellte sie das Radio an. Es kam ihr dann so vor, als wäre jemand bei ihr im Raum und spräche sie an. Antworten müßte sie ja nicht, aber sie tat es trotzdem. Oft sagte sie: "Ihnen auch!" Oder: "Das haben Sie wieder einmal fein ausgedrückt!" Sie ging in der ganzen Wohnung umher und betrachtete die Wände, die Figuren auf manchen Regalen, die Teller in der Vitrine. Manchmal gab es im Radio ein Lied, das sie kannte. Das akustische Fenster, das sie davon überzeugte, daß es eine Welt außerhalb ihrer Küche gab. Lange war sie nicht mehr raus gekommen, woher sollte sie also wissen, ob die Straße vor ihrer Haustüre überhaupt noch existierte? Vielleicht war da schon längst eine Autobahn entstanden. Sie hätte televisionieren können, damit kannte sie sich allerdings nicht besonders gut aus; sie wußte nicht, wie man zuschaut, und deshalb gab es für sie nie ein Bild, dem sie hätte folgen können.
Das Radio war die Lebhaftigkeit in Person, darin war die ganze Welt vertreten, sogar das ›Weiße Rauschen‹, das sie sich manchmal ebenfalls einstellte. Und heute - heute wollte sie wieder einmal ausgehen. Dafür hatte sie ihr einziges bestes Kleid im Bügelofen bügeln lassen. Manchmal aber wollte sie Stille. Es kam ihr dann so vor, als sei sie die letzte Überlebende eines großen Irrtums. Dann sagte sie in die Stille hinein: »Ich habe es schließlich gewußt!« Oder: »Es ist schon merkwürdig!« In der Stille hörte sie den Boden an manchen Stellen knarzen. Ab und zu, wenn ihr danach war, küßte sie eine der Wände, anstatt sie nur anzusehen, die Figuren in manchen Regalen. Jetzt aber nahm sie ihr Kleid, zog es an - und auch ihre einzigen besten Schuhe vergaß sie nicht, bevor sie sich ins Bett legte. Im Radio lief ein altes Lied.
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