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Menschheitsbewältigung



Die Science Fiction als Spiegel der Gesellschaft

April 2008

 

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(c) alle Bilder:

"Dr. Seltsam oder: Wie
ich lernte, die Bombe zu
lieben
" (Regie: Stanley
Kubrick, 1964; Copyright:
Columbia Tristar)

   Wollte jemand definieren, wo die Grenzen der Science Fiction liegen, er würde vermutlich genauso scheitern wie der jugendliche Held Atréju in Michael Endes Unendlicher Geschichte, der auf der Suche nach den Grenzen Fantasiens am Ende doch nur im Kreis reitet. Wagte man dennoch, eine solche Grenze zu ziehen, könnte man die Science Fiction mit Franz Rottensteiner am ehesten noch als den Versuch betrachten, "das Vertraute stellvertretend durch fremde Augen zu sehen und es durch Perspektivwechsel, wie unter einem Mikroskop, schärfer in den Blick zu bekommen".

Dass dabei auch geistige Ausnahmesituationen mitunter so fremdartig erscheinen, als wären die, die sie durchleben, auf einen fernen Planeten, in eine parallele Dimension oder eine andere Zeit versetzt worden, lässt sich an einem viel gelesenen, aber kaum je mit der Science Fiction in Verbindung gebrachten Roman verdeutlichen: an Marlen Haushofers Die Wand. Eine Frau urlaubt mit Freunden in einer Jagdhütte; ihre Begleiter, die einen Ausflug ins Tal unternommen haben, kehren nicht mehr zurück. Als die Protagonistin am nächsten Morgen erwacht, sieht sie sich von einer unsichtbaren Mauer umgeben. Ein seltsames Unglück hat offenbar alle Lebewesen um sie herum getötet, nur ein paar Tiere innerhalb der Mauer haben überlebt. Für die Eingeschlossene ist diese Wand real, der Leser aber sieht die Mauer eher als Symbol für ... – nun, hierüber gehen die Meinungen auseinander. Der utopische Roman, zu dem man Die Wand zählen kann, bildet jedenfalls die Ausgangsbasis für die sich später entwickelnde Science Fiction, und er reicht zurück bis ins Jahr 1519: Thomas Morus' Vision einer inzwischen sprichwörtlich gewordenen Insel – Utopia – zeigt eine ideale Gesellschaft, die sich dem humanistischen Bildungsideal verpflichtet fühlt und sich auch sonst in manchem Detail vom real existierenden frühneuzeitlichen Feudalismus unterscheidet: Privateigentum, Geld und – Morus war Satiriker! – Anwälte sind auf diesem Eiland völlig unbekannt.

   Rechnet man neben Haushofers Die Wand auch andere bekannte utopische Romane zur Science Fiction, etwa Hermann Hesses Glasperlenspiel, George Orwells 1984, Ray Bradburys Fahrenheit 451, Thomas M. Dischs Camp Concentration oder jüngere Werke wie BRO von Vladimir Sorokin (siehe Rezension von B. Figatowski), sollte man das "science" entweder nicht allzu wörtlich nehmen oder sich stattdessen mit dem Begriff der Soft Science Fiction anfreunden. Das Wort "soft" bezieht sich dabei auf den mehr geisteswissenschaftlichen Hintergrund der Erzählungen, mit philosophischen, psychologischen oder gesellschaftlichen Themen im Zentrum. Auch die verfeindeten Welten Urras und Anarres, die die sozialkritische US-Autorin Ursula Le Guin in Planet der Habenichtse entwirft, werden soft geschildert: aufeinander treffen zwei konkurrierende Gesellschaftsentwürfe, die viel mit irdischen Vorbildern à la Kommunismus und Kapitalismus gemein haben (Rezension von Johannes Kaufmann).

Nähert man sich der Science Fiction von der naturwissenschaftlich-technischen Seite, nimmt man also das "science" in der Science Fiction ernst, lassen sich darunter sowohl die klassischen Weltraum-Seifenopern wie Star Trek (Essay von Johannes Kaufmann) wie auch die sehr nahe an unserer Gegenwart spielende Wissenschaftsfiktion Contact des berühmten "Exobiologen" Carl Sagan subsummieren. Ebenso fallen darunter Science-Fiction-Serien wie die inzwischen zum Kult avancierte britische UFO-Reihe (Essay von Egyd Gstättner), Kinofilme wie die zum Brüllen komische, aber zugleich nachdenklich stimmende Weltuntergangssatire Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (siehe Bilder links und oben: Peter Sellers als Dr. Seltsam), oder verstörende Albtraumszenarien wie das 1999 gedrehte kanadische Movie CUBE, ein blutrünstiges Kammerspiel, das irgendwo zwischen dem Milgram-Experiment und Franz Kafkas Schloss angesiedelt ist.

   Gerade solche spezifisch naturwissenschaftlich-technischen Inhalte haben der Science Fiction in der Literaturwissenschaft lange die Anerkennung als eigenständiges Genre verwehrt, beklagt Ingrid Cella in ihrem Essay "Die Probleme der Germanistik mit der Science Fiction". Denn was geschieht mit Germanisten, wenn sie etwa die "werkimmanente Interpretationsmethode" auf Marskanäle, Zeitmaschinen oder Schwarze Löcher anwenden? Sie sind überfordert. Dass die Menschheit mit ihren eigenen technischen Schöpfungen nicht mehr zurechtkommt und im schlimmsten Fall durch sie vernichtet wird, reflektiert Martin Hainz in seinem Beitrag "Post science, post fiction".

Unbegrenzt sind freilich nicht nur die Themen der Science Fiction, sondern auch das Untalent vieler ihrer Autoren. Das macht Franz Rottensteiner in seinem Essay "Ein paar lose Gedanken zur Science Fiction" klar. Der langjährige Herausgeber von Suhrkamps Phantastischer Bibliothek benennt darin Phänomene, die die qualitativ bessere Science Fiction in zunehmendem Maße bedrohen. Etwa das Phänomen des sharecropping, bei dem Autorenteams – oft basierend auf den Romanwelten früherer Top-Seller – gemeinsam an utopischen Entwürfen stricken, die am Ende so utopisch gar nicht mehr sind. Auf diese Weise entstehen unzählige Fortsetzungen von bereits fertig erzählten, schwachen Geschichten, die den Ruf der Science Fiction (die bereits durch den Boom der Fantasy-Literatur gelitten hat) weiter schädigen. Zudem haben, laut Rottensteiner, viele Science-Fiction-Autoren vom ureigensten Thema der Science Fiction, der Naturwissenschaft und Technik, mittlerweile wenig Ahnung. Damit ist evident, worin ihm zufolge das Dilemma der heutigen Science Fiction liegt:

"Streng genommen ist es ja so, dass viele der Probleme, mit denen sich die SF beschäftigt, also etwa Entwürfe von Übermenschen, das Schicksal ganzer Zivilisationen, der Kontakt mit außerirdischen denkenden Wesen, die Schöpfung künstlicher Intelligenz, ganz außergewöhnlich behandelt werden müssten; bloßer Durchschnitt ist hier zu wenig. Streng genommen ist SF also etwas Außergewöhnliches, oder sie ist – anders als der Kriminalroman – gar nichts."

   Gute Science Fiction muss also nicht nur auf dem letzten Stand sein, was psychische, soziale, wissenschaftliche und technische Entwicklungen betrifft, sie muss diese Entwicklungen zugleich übersteigen, "transzendieren", um unser Dasein in außer-menschlicher, über-irdischer Perspektive zu reflektieren. Letztlich gibt es daher nur eine Grenze für die Science Fiction: unsere Vorstellungskraft.

Franz Wagner und Kristina Werndl
redakt.aurora [at] aon.at

   

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