Wollte jemand definieren,
wo die Grenzen der Science Fiction liegen, er würde vermutlich genauso
scheitern wie der jugendliche Held Atréju in Michael Endes Unendlicher
Geschichte, der auf der Suche nach den Grenzen Fantasiens am Ende doch
nur im Kreis reitet. Wagte man dennoch, eine solche Grenze zu ziehen, könnte
man die Science Fiction mit Franz Rottensteiner am ehesten noch als den Versuch
betrachten, "das Vertraute stellvertretend durch
fremde Augen zu sehen und es durch Perspektivwechsel, wie unter einem
Mikroskop, schärfer in den Blick zu bekommen".
Dass dabei auch geistige
Ausnahmesituationen mitunter so fremdartig erscheinen, als wären die, die
sie durchleben, auf einen fernen Planeten, in eine parallele Dimension oder
eine andere Zeit versetzt worden, lässt sich an einem viel gelesenen, aber
kaum je mit der Science Fiction in Verbindung gebrachten Roman
verdeutlichen: an Marlen Haushofers Die Wand. Eine Frau urlaubt mit
Freunden in einer Jagdhütte; ihre Begleiter, die einen Ausflug ins Tal
unternommen haben, kehren nicht mehr zurück. Als die Protagonistin am
nächsten Morgen erwacht, sieht sie sich von einer unsichtbaren Mauer
umgeben. Ein seltsames Unglück hat offenbar alle Lebewesen um sie herum
getötet, nur ein paar Tiere innerhalb der Mauer haben überlebt. Für die
Eingeschlossene ist diese Wand real, der Leser aber sieht die Mauer eher als
Symbol für ... – nun, hierüber gehen die Meinungen auseinander. Der
utopische Roman, zu dem man Die Wand zählen kann, bildet jedenfalls die
Ausgangsbasis für die sich später entwickelnde Science Fiction, und er reicht
zurück bis ins Jahr 1519: Thomas Morus' Vision
einer inzwischen sprichwörtlich gewordenen Insel – Utopia – zeigt
eine ideale Gesellschaft, die sich dem humanistischen Bildungsideal
verpflichtet fühlt und sich auch sonst in manchem Detail vom real
existierenden frühneuzeitlichen Feudalismus unterscheidet: Privateigentum,
Geld und – Morus war Satiriker! – Anwälte sind auf diesem Eiland völlig
unbekannt.
Rechnet man neben
Haushofers Die Wand auch andere bekannte utopische Romane zur
Science Fiction, etwa Hermann Hesses Glasperlenspiel, George Orwells
1984, Ray Bradburys Fahrenheit 451, Thomas M. Dischs Camp
Concentration oder jüngere Werke wie BRO von Vladimir
Sorokin (siehe Rezension von B. Figatowski), sollte man das
"science" entweder nicht allzu wörtlich nehmen
oder sich stattdessen mit dem Begriff der Soft Science Fiction
anfreunden. Das Wort "soft" bezieht sich dabei auf
den mehr geisteswissenschaftlichen Hintergrund der Erzählungen, mit
philosophischen, psychologischen oder gesellschaftlichen Themen im Zentrum.
Auch die verfeindeten Welten Urras und Anarres, die die sozialkritische
US-Autorin Ursula Le Guin in Planet der Habenichtse entwirft, werden
soft geschildert: aufeinander treffen zwei konkurrierende
Gesellschaftsentwürfe, die viel mit irdischen Vorbildern à la Kommunismus
und Kapitalismus gemein haben (Rezension von Johannes Kaufmann).
Nähert man sich der
Science Fiction von der naturwissenschaftlich-technischen Seite, nimmt man
also das "science" in der Science Fiction ernst,
lassen sich darunter sowohl die klassischen Weltraum-Seifenopern wie Star
Trek (Essay von Johannes Kaufmann) wie auch die sehr nahe an unserer
Gegenwart spielende Wissenschaftsfiktion Contact des berühmten
"Exobiologen" Carl Sagan subsummieren. Ebenso
fallen darunter Science-Fiction-Serien wie die inzwischen zum Kult
avancierte britische UFO-Reihe (Essay von Egyd Gstättner), Kinofilme
wie die zum Brüllen komische, aber zugleich nachdenklich stimmende
Weltuntergangssatire Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu
lieben (siehe Bilder links und oben: Peter Sellers als Dr. Seltsam), oder
verstörende Albtraumszenarien wie das 1999 gedrehte kanadische Movie CUBE,
ein blutrünstiges Kammerspiel, das irgendwo zwischen dem
Milgram-Experiment und Franz Kafkas Schloss angesiedelt ist.
Gerade solche spezifisch
naturwissenschaftlich-technischen Inhalte haben der Science Fiction in der
Literaturwissenschaft lange die Anerkennung als eigenständiges Genre
verwehrt, beklagt Ingrid Cella in ihrem Essay "Die
Probleme der Germanistik mit der Science Fiction". Denn was geschieht mit
Germanisten, wenn sie etwa die "werkimmanente
Interpretationsmethode" auf Marskanäle, Zeitmaschinen oder Schwarze Löcher
anwenden? Sie sind überfordert. Dass die Menschheit mit ihren eigenen
technischen Schöpfungen nicht mehr zurechtkommt und im schlimmsten Fall
durch sie vernichtet wird, reflektiert Martin Hainz in seinem Beitrag
"Post science, post fiction".
Unbegrenzt sind freilich
nicht nur die Themen der Science Fiction, sondern auch das Untalent vieler
ihrer Autoren. Das macht Franz Rottensteiner in seinem Essay
"Ein paar lose Gedanken zur Science Fiction" klar.
Der langjährige Herausgeber von Suhrkamps Phantastischer Bibliothek
benennt darin Phänomene, die die qualitativ bessere Science Fiction in
zunehmendem Maße bedrohen. Etwa das Phänomen des sharecropping, bei
dem Autorenteams – oft basierend auf den Romanwelten früherer Top-Seller –
gemeinsam an utopischen Entwürfen stricken, die am Ende so utopisch gar
nicht mehr sind. Auf diese Weise entstehen unzählige Fortsetzungen von
bereits fertig erzählten, schwachen Geschichten, die den Ruf der Science
Fiction (die bereits durch den Boom der Fantasy-Literatur gelitten hat)
weiter schädigen. Zudem haben, laut Rottensteiner, viele
Science-Fiction-Autoren vom ureigensten Thema der Science Fiction, der
Naturwissenschaft und Technik, mittlerweile wenig Ahnung. Damit ist evident,
worin ihm zufolge das Dilemma der heutigen Science Fiction liegt:
"Streng genommen ist es ja
so, dass viele der Probleme, mit denen sich die SF beschäftigt, also
etwa Entwürfe von Übermenschen, das Schicksal ganzer Zivilisationen, der
Kontakt mit außerirdischen denkenden Wesen, die Schöpfung künstlicher
Intelligenz, ganz außergewöhnlich behandelt werden müssten; bloßer
Durchschnitt ist hier zu wenig. Streng genommen ist SF also etwas
Außergewöhnliches, oder sie ist – anders als der Kriminalroman – gar
nichts."
Gute Science Fiction muss
also nicht nur auf dem letzten Stand sein, was psychische, soziale,
wissenschaftliche und technische Entwicklungen betrifft, sie muss diese
Entwicklungen zugleich übersteigen, "transzendieren",
um unser Dasein in außer-menschlicher, über-irdischer Perspektive zu
reflektieren. Letztlich gibt es daher nur eine Grenze für die Science
Fiction: unsere Vorstellungskraft.
Franz
Wagner und Kristina Werndl
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