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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 10


GIBT ES ETHISCHE VERNUNFT?

Medizin und Religion


Die moderne Medizin überschüttet, ja bombardiert die Welt in rascher Folge mit neuen Fragen nach einer moralischen Vertretbarkeit ärztlicher Handlungen. Endlose Debatten folgen, manchmal werden pragmatische Lösungen erdacht, manchmal nicht. Rastlosigkeit gebiert Ratlosigkeit. Das Thema Abtreibung wurde mühsam und unbefriedigend geregelt, mit der Präimplatationsdiagnostik wird es ähnlich werden, Sterbehilfe ist umkämpft (gibt es das gute Sterben?), Transplantation darf nicht hinterfragt werden (was ist Fortschritt?), Drogenfreigabe ist tabu. Dann gibt es noch dies: Darf eine im Koma liegende, im vierten Monat Schwangere künstlich am Leben erhalten werden, bis das Kind aus dem eigentlich schon toten Köper entbunden werden kann? Dürfen wir alles tun, was wir können, oder: Sind wir dessen mächtig, dessen wir technisch fähig sind?

Wie finden wir Antworten auf unsere Fragen? Wie rechtfertigen wir Gebote oder Verbote? Was sollen wir tun, und wie können wir entscheiden, das Richtige zu tun?
Die Liste der Fragen und Probleme wird immer länger. Die Medizin und die mit ihr liierte Forschung liefern die Probleme gleichsam bewußtlos frei Haus. Dabei sind der Impuls und die Motivation ihres Handelns die immer gleichen: Helfen und Heilen, bedingungsloser Einsatz für den kranken und leidenden Menschen, ein Totschlagargument, das von vornherein jeder Kritik den Mund verbieten will.

Das moralisch Fragwürdige wird oft erst im Verlauf eines Geschehens oder im Nachhinein sichtbar. Weil die Verursacher der Probleme und die ihnen anvertrauten Menschen (Patienten) als Einzelne in einer großen allgemeinen Verunsicherung massiv überfordert sind, müssen berufsmäßige Problemlöser an ihre Seite treten, die auf die Seite des Pro wie auch des Contra und der Räume dazwischen sich schlagen sollen, dies sind an erster Stelle Philosophen, manchmal Soziologen, auf verschiedenen Ebenen Juristen, und auf Umwegen, wie es scheint, Theologen. Für jedes beliebige Unglück gibt es einschlägige Experten. Expertenwahn hat sich anderen Wahnformen der Welt des vernünftigen Handelns unentbehrlich gemacht. Für medizinische Fragen ist inzwischen eine Disziplin zuständig, die wir Medizinethik nennen, und nicht wenige kluge Leute haben sich auf diesem Gebiet einen Namen gemacht, spezialisierte Philosophen sind jetzt öffentliche konsiliarische Begleiter einer institutionalisierten Hilflosigkeit geworden.

Die Diskurse sind kompliziert und rational im Sinne einer säkularen Vernunft, oft utilitaristisch ausgerichtet, aber es gibt auch andere Denktraditionen, die sich zu Wort melden. Gewöhnlich finden Güterabwägungen statt, und eine mögliche Lösung wird aus der Bilanzsumme der Positiva und Negativa errechnet.
Das klingt vernünftig, besonnen und hilfreich, doch spüre ich sehr deutlich mindestens zwei Aporien:
1) Die Bilanzsumme der Positiva und Negativa führt nicht zwingend zur Entscheidung. Auch wenn alles dafür spricht, lebensrettende Maßnahmen für einen unheilbar kranken Sterbenden auszusetzen, wird oft genau das Gegenteil entschieden. Das Motiv für die Entscheidung wurde von rationalen Erwägungen nicht beeinflußt, es stammt aus anderen tieferen Schichten, die wir als das Irrationale verstehen können.
2) Auch die klügste und differenzierteste, logischste ethische Argumentation läßt sich durch geringe Verschiebungen der Gewichte und Standpunkte in ihr Gegenteil wenden, anders ausgedrückt, alle Argumente, die für eine Sache sprechen, könnten auch gegen sie sprechen, mit anderen Worten, ethische Erwägungen tragen immer die Möglichkeit des Widerspruchs in sich, dadurch sind sie schwach und beliebig und unverbindlich.
Die Abtreibung eines Foeten mit nachgewiesener Trisomie 21 kann aus verschiedenen ernstzunehmenden Gründen ethisch gerechtfertigt werden, aus den gleichen Gründen kann sie ethisch abgelehnt werden, wenn die Gründe aus der Sicht eines anderen Lebensmodells anders gewichtet werden.

Ich behaupte daher, daß eine rationale Philosophie in der säkularen Welt ethische Fragen zwar stellen und erörtern, aber niemals lösen kann, weil sie sich von ihren irrationalen Ursprüngen abgeschnitten hat. Eine Folge der Säkularisierung ist Unverbindlichkeit in bestimmten Fragen. Da jedoch der Glaube an etwas Verbindliches, nennen wir es Gott, dennoch weiterlebt, in einem oft schwer faßbaren Untergrund, der unter anderem durch Sozialisierungen entstanden sein könnte, bilden sich Ideologien mit pseudoreligiösem Charakter. Sogar Verfassungen können eine pseudoreligiöse Note haben. Der beliebige Einzelne einer säkularen Gesellschaft ist mit seinen Fragen alleingelassen, auch wenn die Zahl der sich anbietenden Helfer und Ratgeber wächst.

Anzunehmen ist, daß in einer säkularen liberalistischen Gesellschaft verbindliche Begründungen für ein Verhalten nicht möglich sind, zumindest bleibt ihre Gültigkeit fragwürdig, weil die Begründungen einer reinen Vernunftmoral schwach sind. Daß sie einst aus Religion ins Denken der Aufklärung übersetzt wurden, scheint vergessen. Die kulturelle Verlustwelt der Moderne mag das nicht mehr wahrhaben, sie begnügt sich mit unverbindlicher Beliebigkeit und begegnet der Religion, wenn sie ihr überhaupt begegnet, bestenfalls mit Ironie, als hätte sie Angst vor sich selber, nämlich vor einer geleugneten, säkular gebändigten, doch nicht mehr gelebten Empfänglichkeit für religiöse Gehalte. Diese aus der Verlusterfahrung der modernen säkularen Welt stammende Beliebigkeitsethik kann außer pragmatisch orientiertem Räsonieren keine verpflichtenden Aussagen zu Fragen wie etwa der Sterbehilfe oder der Abtreibung leisten.

Vielleicht tut man der säkularen Ethik einen Gefallen, wenn man sie nicht mehr mit dem Anspruch einer philosophischen Disziplin überfordert, sondern sie in Form eines öffentliches Gremiums zum Austarieren gesellschaftlich tragbarer Kompromißstrategien einsetzt, die auf tiefere Wahrheitsansprüche verzichten.
In diesem Sinne agieren bereits jetzt allerorten Ethikkommissionen, um auf dem Weg der Bürokratisierung die wahren Probleme aus dem Bewußtsein zu spülen. Mit anderen Worten: Die Ärztekammer tut alles, um die Gewissen ihrer Mitglieder rein zu halten.

Um die Frage vorläufig zu beantworten: Ja, es gibt eine ethische Vernunft, doch ohne religiösen Hintergrund bleibt sie Makulatur.

Pater Ralph de Fricassée






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