AUSGABE 10
ZIRKUMZISION II
Recht und Religion
Neues zur Beschneidungsdebatte (angeregt durch einen klugen Artikel von Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung):
Eine radikale Auslegung der Kindesrechte (körperliche Unversehrtheit, Kindeswohl, Religionsfreiheit, Menschenwürde, Entfaltung der Persönlichkeit, Selbstbestimmungsrecht etc.) könnte am Ende zu der Einsicht führen, daß diese Rechte nur von staatlichen Institutionen verwaltet werden dürfen.
Keines der genannten Rechte kann von Kindern definitiv wahrgenommen werden. Es sind Eltern, die über die Wahrung dieser Rechte Vollmacht haben, etwa im Sinne eines treuhänderisch geführten Kontos. Das ist ein brauchbarer Gedanke, doch können Konten, um im Bild zu bleiben, gut oder schlecht geführt werden, und darüber gibt es keinerlei Kontrolle, es sei denn im Falle offenkundiger schwerer Verfehlungen, die strafgesetzrelevant sind, aber die Frage, welche Eltern überhaupt ausreichend Kompetenz besitzen, um ihre Kinder Schritt für Schritt zu selbständigen Wahrern ihrer Rechte machen zu können, und vor allem, wie man diese Kompetenz sichern könnte, wird, und darf wahrscheinlich, nicht einmal gestellt werden.
Ein Kind, das ständig nur auf sein Selbstbestimmungsrecht verwiesen und damit allein gelassen wird, muß neurotisch reagieren, ein Kind, das an der Wahrnehmung seiner Rechte systematisch gehindert ist, wird ebenfalls neurotisch reagieren, jedes auf seine Weise. Zwischen diesen beiden Polen schwanken Erziehungssysteme.
Welche Eltern sind tatsächlich grundgesetzmündig? Fallen sie nicht allzu oft aufgrund einer Zugehörigkeit zu wie auch immer geprägten Gruppen, Schichten oder Klassen in den Status einer Stammesgesellschaft zurück, und zwar auf eine soziologisch schwer zu bestimmende, gleichsam unsichtbare Weise?
Aus dieser Sicht könnte es sinnvoll sein, wenn der Staat als Treuhänder der kindlichen Rechte, mit anderen Worten als Alleinerzieher sich selbst einsetzen würde. Eltern könnte ein kontrolliertes Sorgerecht bis etwa zum achten Lebensjahr zugesprochen werden, danach müßten sie in Hinblick auf ihre Erziehungskompetenz entmündigt werden, und viele von ihnen würde das sicher nicht wenig entlasten. Die Elternschaft als solche wäre dann zwar prinzipiell entwertet oder reduziert, ihre enorme und übertriebene, nahezu religiöse Wertschätzung wäre jedoch entschärft. Fragen nach der Zughörigkeit zu verschiedenen kulturell definierten Gruppen oder Religionsgemeinschaften würden sich nicht mehr stellen, und viele Juristen wären arbeitslos.
Aber die dorische Welt ist nicht mehr die unsere. Jeder Grundsatzmeinung steht, und zwar meistens feindlich, eine andere Grundsatzmeinung gegenüber, die beide vielleicht Denktraditionen hinter sich wissen, doch keine apriorische Gültigkeit, dennoch dünkt jedes sich, allein aufgrund der Freiheit sich zu äußern, absolut.
Im Falle der Beschneidungsfrage überrascht jetzt die Einigkeit der politischen Vertreter des gesamten Parteienspektrums doch sehr, und man kann nur vermuten, der Grund ist: keiner von ihnen möchte sich den Schuh der Xenophobie und des Rassismus anziehen, der heute schneller verteilt wird als der Nazischuh, und daher werden anscheinend Konzessionen vieler Art akzeptiert, so juristisch fragwürdig sie bei näherer Betrachtung auch seien.
Einer Meinung zu sein, bedeutet noch lange nicht die Wahrheit solcher Meinungen, und jahrtausendealte Traditionen können jahrtausendelang falsch gewesen sein, ja verbrecherisch. Das geltende Recht ist das gegenwärtige, und sofern es Traditionen berücksichtigt, muß es das begründen.
Bei der Beschneidung eines unmündigen Knaben findet eine Körperverletzung statt, und das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird gebrochen, daran läßt sich auf keinen Fall deuteln. Die oben genannten Politiker verschiedener Couleur haben sich mittlerweile, wie es scheint, schon darauf geeinigt, als Rechtfertigungsgrund eines besonderen Beschneidungsrechtes abgesehen von der religiösen Motivation die vermutete oder behauptete Harmlosigkeit des Eingriffs zu betonen.
Kein Eingriff ist aber harmlos genug, um nicht als Körperverletzung betrachtet zu werden, und was, wenn der Eingriff gar nicht so harmlos ist, wie geglaubt wird? Vielleicht haben die Kritiker der Beschneidung ja doch recht, wenn sie auf eine lebenslange Beeinträchtigung des Sexuallebens hinweisen, verbunden mit psychischen Störungen verschiedener Art, die ohne Beschneidung vermeidbar wären. Nicht wenige Ärzte und Psychologen warnen schon seit längerem vor den Folgen einer männlichen Beschneidung ohne manifeste medizinische Indikation.
Ein besonders schwachbrüstiges Argument ist die von manchen strapazierte Analogie zu den rechtlichen Regelungen der Schönheitsmedizin. Dort stellt eine zumindest teilweise mündige und entscheidungsfähige Person für sich selbst eine Indikation, die sie dem Arzt als Legitimation anbietet und zur Verfügung stellt. Auch das ist fragwürdig, versteht sich, aber die Lage eines Säuglings in der messerbewehrten Hand des Rabbi ist eine ganz andere.
Menschliche Fehlhandlungen werden nicht richtiger oder gerechtfertigt, nur weil sie jahrtausendealte Praxis sind. Religionen können sich reformieren, Kulturen können ihre Gewohnheiten ändern von Zeit zu Zeit, ohne ihren Bestand zu gefährden. So etwas geschah immer, es gibt Entwicklungen, doch manche Religionen und Kulturen verschwanden von der Bildfläche der Geschichte, und genau das fürchten die Religionen heute in der säkularen Welt.
Eine rechtliche Sonderregelung zu finden, wird keine leichte Aufgabe sein, soviel ist sicher, und wir freuen uns schon jetzt auf die Urteilsbegründungen.
Benito Salvarsani
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