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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 10


HIER BIN ICH MENSCH HIER KAUF ICH EIN

Das Braunschweiger Schloß und die Wahrheit.


Neulich, als ich einmal (aus München kommend) zufällig durch meine ehemalige Vaterstadt Braunschweig spazierte, schob ich all die lästigen Kontroversen über Abrisse und Wiederaufbauten historischer Gebäude, die seit dem letzten Weltkrieg erschöpfend und wenig erhellend an mir vorübergezogen sind, beiseite. Ich versagte mir für einmal die üblichen spöttischen Reflexe, und da erlebte ich, als ich aus dem Damm heraustretend an der Ecke Bohlweg stehenblieb, eine Überraschung. Ich erblickte die Fassade eines spätklassizistischen Schlosses in vollkommener Pracht als Zentrum einer Stadt, die seit 1945 kein Zentrum mehr gehabt hatte.

Was bedeutete das? War eine Reise in die Vergangenheit doch möglich geworden? Der Anblick dieser Fassade, die wie ein schwerer Dominantseptakkord über den Platz dröhnte, schien so etwas zu versprechen, denn jener Mittelpunkt, den ein Schloß in einer Stadt zu seiner Zeit einnahm, war nicht einfach eine geometrische Bestimmung. Mittelpunkt hieß Kristallisationspunkt eines Gemeinwesens, dessen Mitglieder oder Angehörige Untertanen einer feudalen Macht waren, aber diese Macht war nicht nur Macht oder Herrschaft, sie war (oder verstand sich so) Schöpfer und Bewahrer einer gesellschaftlichen Ordnung, des Rechts, des Handels, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Künste, eine Schutzmacht gegen Feinde von innen und außen, formgebende Macht auch, in jeder Hinsicht umfassend Kopf, Herz und Hand eines als ideal zu denkenden absolutistischen Staates, nämlich des Herzogtums Braunschweig, dessen Geschichte jahrhundertelang vom Machtkampf zwischen einer lange überlegenen selbstbewußten freien Bürgerschaft und den lange schwachen feudalen Landesherren, den welfischen Geschlechtern, gezeichnet war, ein Machtkampf, der dann noch länger schwelte, doch der Neubau des Residenzschlosses (1833 bis 1841 durch Carl Theodor Ottmer) schien vorübergehend und, wie wir heute sicher wissen, zum endgültig letzten Mal noch einmal die Macht des Feudalismus, auch wenn er nicht mehr zeitgemäß war und sich selbst schon überlebt hatte, in identitätsstiftender Weise zu bekunden.

Aber die historische Reminiszenz, die mir sekundenschnell den etwas anderen verklärenden Blick auf das Schloß erlaubt hatte, half der Gegenwart nicht auf die Sprünge. Zeitreisen finden leider doch nicht statt. Die großmächtige Fassade ragte dort wie ein erratischer Solitär und konnte ihr Versprechen, wieder Mittelpunkt zu sein, nicht halten, denn zu grausam deklassierte ihre in sich ruhende Harmonie, ihre ästhetische Vollkommenheit alles und jeden, der in ihre Nähe kam, und die gesamte Umgebung mit dazu, seien es die infantilen Ricci-Häuser, die man für zwei Sekunden lustig finden mag, die grobschlächtigen Kaufhausmonster, die seit Jahrzehnten atemberaubend gräßliche Gebäudefront des Bohlwegs, die knallbunte Égalité des wimmelnden Freizeitmenschen und vieles mehr.

Nach dem Verlust der Mitte erlischt offenbar gesetzmäßig der Wille zur Gestaltung. Die architektonische Verarmung einer einmal architektonisch besonders reichen Stadt nach der ersten Zerstörung des Weltkrieges und der zweiten Zerstörung der 50-er und 60-er Jahre im Rahmen eines sogenannten Wiederaufbaus unter Beteiligung der sogenannten Braunschweiger Architekturschule (überall ist besser als hier) hatte den Ort schon lange unbewohnbar gemacht. Nach Ladenschluß findet hier nur noch der Rückzug in die Innenwelten statt. Darum kann es nur folgerichtig sein, wenn hinter der prangenden Fassade eines längst verloren gegangenen Schlosses unmittelbar und ohne Vorwarnung die schrille Dissonanz eines Einkaufsparadieses genickschußartig das Gemüt verheert, sobald man durch eine schäbige Glastür hindurchgeschritten ist. (Der Weg ins Schlaraffenland war noch nie mit guten Vorsätzen gepflastert.) Schon durch diese eminent triviale Tür wird der Anspruch der feudalen Fassade verräterisch herunterdemokratisiert. Glastüren gleicher Machart findet man in Braunschweig heute überall, wo (aus welchen Gründen auch immer) neue Türen eingesetzt wurden, in den Warenhäusern, in Amtsgebäuden und Bedürfnisanstalten, in Museen und Theatern, sogar im (ehemals herzoglichen) Wilhelm-Gymnasium, meiner alten Schule, an der ich unbeschwerter nie vorüberging.

Aber ja doch, es gibt ein kleines lehrreiches Museum im Nordflügel der Schloßfassade, und ja, es gibt eine kleine Bibliothek im Südflügel, ein paar Alibi-Institutionen müssen schon sein, und nochmals ja, was sonst hätte man mit einem Schloß denn eigentlich wohl anfangen sollen? Genau diese Frage, die sich erstmals 1918 stellte, nachdem Herzog Ernst August von Cumberland abgedankt hatte, war ja auch schon vor dem Abriss der Ruine (1960), als der Wiederaufbau noch weitaus denkbarer erschien, ungeklärt geblieben. Theater, Museum, SS-Junkerschule? Jene endgültige Entscheidung für und zum Abriß unter dem Vorsitz der damaligen Oberbürgermeisterin Martha Fuchs darf man, ohne die Geschichte und sich selbst groß zu verbiegen, in erster Linie als verspäteten Racheakt gegen das Haus der Welfen verstehen, auch wenn durch diese Tat das unvollendete Zerstörungswerk der Nazis doch eigentlich weitergeführt wurde, denn die Nazis haßten jene Welt, die das Schloß repräsentiert hatte.

Braunschweigischem Biedersinn fiel dieser kleine Widerspruch wohl nicht weiter auf, oder der Haß war einfach zu groß und zu blind. 1960 gab es den bundesdeutschen Wutbürger eben noch nicht, oder er war noch nicht so gut organisiert wie heute, obwohl jener nimmermüde Herr Borek damals eine Demonstration von annähernd 1000 Empörten auf die Beine brachte, die dann nichts bewirkt haben.
Ich weiß nicht, ob der Haß der Martha-Fuchs-SPD auf die Welfen größer war als der Haß auf die Nazis, wahrscheinlich hat sie die einen als Folgeerscheinung der anderen betrachtet, ganz dem vereinfachten Geschichtsbild der Partei in ihrer damaligen Form entsprechend. Doch das sind alte Gefechte, heute huldigt man lieber einem gemütlichen Regionalpatriotismus und dimmt die Fakten etwas herunter. Am Inselwall beim Palais Löbbecke fand ich, was das betrifft, eine Tafel mit dem Hinweis, dieses Gebäude habe im 3. Reich nationalsozialistischen Zwecken (Dienstwohnungen) gedient, tatsächlich war im Löbbeckeschen Palais bis 1935 das Hauptquartier der Braunschweiger SS stationiert.

Wahrscheinlich hat es keinen Sinn, sich allzuweit in die Geschichte zurückzulehnen, jede Generation muß schauen, wie sie mit ihr klarkommt, denn die eine Wahrheit ist: die Reise in die Vergangenheit funktioniert nicht, das hatten wir schon, und die zweite Wahrheit ist: wir brauchen keine Schlösser mehr. Was wir brauchen, sind Tempel und Paläste des Konsums, und um solche Tempel und Paläste angemessen zu camouflieren, sind kostspielige Wiederaufbauten in Originalgestein, das man wie Leichenteile einst verscharrt hatte, irgendwie besonders unzeitgemäß, ja rührend, und technisch hilflos analog. Warum nicht einfach Kulisse: heute Welfenschloß, morgen Taj Mahal, übermorgen Engelsburg? Ein bißchen Leinwand, ein bißchen Farbe, ein bißchen Licht, dann wird das schon. Das Volk liebt das doch: Disneyländer in jeder Form, Verkleidung und falsche Fassaden, das Prinzip Potjomkinsches Dorf, man sollte die Leute nicht enttäuschen. Schon Sophie von Anhalt fand im Braunschweiger Schloß, wenn sie dort auf Besuch war, alles aufs schönste bestellt, bevor sie als Katharina II. Zarin aller Reußen wurde und den Erfinder jener Attrappen ihr Bett teilen ließ.

Irgendwann in den 50-er Jahre, nachdem die Trümmer abgeräumt und der Restbestand überschaubarer war, erfand ein rhetorisch begabter Schlaukeks im öffentlichen Dienst, den ich leider nicht kenne, den prima Euphemismus Traditionsinsel. Die Braunschweiger Altstadt bestand nun aus einem devastierten Brachland, in dem inselartig Reste einer glorreichen Vergangenheit aufragten, damit mußte man leben, und man lebte damit. Ich hatte selbst noch Gelegenheit, durch die Trümmergrundstücke zu streifen und in Ruinen Räuber und Gendarm zu spielen, das war nicht die übelste Zeit, auch wenn es keine Osterspaziergänge mehr gab in dieser Stadt, die einmal den Faust I uraufgeführt hat.

Daraus folgt noch eine dritte Wahrheit: jedwedes Gejammer über historisch bedingte Unpäßlichkeiten, ganz gleich in welchen Zeiträumen, ist sinnlos und lebensfeindlich mit suizidalem Gehalt. Es gibt kein Zurück. Schon der unselige schmerzensreiche Heinrich der Löwe war so ziemlich am Ende, doch dann hat er die Altersweisheit entdeckt und ein Evangeliar geschrieben. Das ist eine Möglichkeit unter wenigen, sich einen Platz in der Ewigkeit zu sichern, oder wenigstens seinen Frieden mit der Vergangenheit zu machen.

Mit einer wiedererrichteten Schloßfassade geht das wohl nicht so einfach, zumal die gegenwärtigen Entscheidungsträger keinerlei Ähnlichkeiten mit Heinrich dem Löwen haben, aber sie ist nun einmal da und wird fürs erste bleiben. Vielleicht kommt es nur darauf an, wie man sie betrachtet. Positives Denken ist hier ganz stark gefragt (vielleicht hilft auch das Hofbräuhaus Wolters mit), denn was soll mit ihr geschehen auf die Dauer? Soll sie allezeit wirklich nur als Schutzwall eines Einkaufsparadieses dienen? Heute werden in jedem aufgelassenen Dorfbahnhof Kulturzentren und Literaturhäuser eröffnet, aber soviel Kultur gibt es doch gar nicht, von der Literatur ganz ab, und in Braunschweig gibt es reichlich schwach besuchte Stätten für kulturelle Umtriebe, z.B. das Staatstheater. Dort erlebte ich am Abend vor meiner Abreise eine glänzende, leider viel zu matt bejubelte Aufführung der Oper Šárka des fast vergessenen tschechischen Komponisten Zdeněk Fibich, wie sie auch in München kaum hätte besser sein können. Noch ist Braunschweig also nicht verloren, mit oder ohne Schloß, und das ist auch eine Wahrheit.

Benito Salvarsani






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