AUSGABE 10
ZIRKUMZISION I
Darf die säkulare Welt Opfer bringen?
Das Beschneidungsurteil von Köln hat in den Medien viel Erregung aufgerührt. Was sollte ich dem hinzufügen und warum?
Ich gebe zu, die Sache interessiert mich.
Jeder medizinische Eingriff ist, streng genommen, Körperverletzung und verlangt zwingend eine Begründung, die als Rechtfertigung dienen kann, auch als Ermächtigung und Exkulpation, sie wird Indikation genannt, und das beginnt schon bei einer simplen Venenpunktion zum Zweck der Blutentnahme. Dieser Grundsatz ist sinnvoll, denn er schützt die Menschen, und zwar nicht nur den Patienten sondern auch den Arzt, vor allem ihn, sie schützt ihn sogar vor sich selbst, wenn er klug ist.
Gewöhnlich gibt es zwischen ihm und dem Patienten eine stillschweigende oder indirekte Übereinkunft, oft auch eine schriftliche bei größeren Eingriffen, bei unmündigen Personen entscheiden Eltern oder Vormunde. All diese Regelungen sind wichtig und richtig.
Indikationen zu einem Eingriff können aus medizinischer Sicht absolut oder zwingend sein, z.B. bei einer akuten Blinddarmentzündung, sie können relativ sein im Sinne von Empfehlungen, z.B. bei der Entfernung eines Nävus.
In anderen Fällen, z.B. bei Schamlippenverkleinerungen, die jetzt sehr gefragt sind (sogenannte Reduktionsplastik der Vulva bei Hypertrophie der Labia minora), geruhen wir zu zweifeln. Die Patientin wünscht etwas, und der Arzt muß eine glaubwürdige Indikation konstruieren (z.B. seelisches Leid aufgrund einer zur gerade gängigen Körperästhetik nicht passenden Vulvagestaltung), irgendwie muß er die Sache am Ende auch vor sich selber rechtfertigen können. Gesellschaftlich ist das längst akzeptiert wie inzwischen die gesamte Schönheitsmedizin samt ihren Entartungen.
Soviel zur Praxis. Die Dinge geschehen, sie sind alltägliche Routine, wie wacklig die Indikation auch immer sei.
Auch die Vorhautbeschneidung ist alltägliche Routine, sie kann als sexualhygienische Prävention verstanden werden, daran stößt sich niemand, als solche wird sie in großer Zahl durchgeführt, und ihre medizinische Indikation ist ungleich stichhaltiger als die einer Schamlippenverkleinerung. Viele Millionen Männer sind auf diese Weise beschnitten, ohne daß ihre Sexualität beschnitten wäre, im Gegenteil, sie übertragen weniger HPV (Human papilloma virus), den Verursacher des Gebärmutterhalskrebses (Zervixkarzinom), sie haben weniger Entzündungen, und sie sind sauberer. Wer erlebt hat, wie es unter durchschnittlichen Vorhäuten aussieht, den kann's nur gruseln.
Gibt es eine religiöse Indikation in der säkularen Welt?
Da stoßen zwei Welten aufeinander, und wir wissen sofort und instinktiv: diese Welten sind nicht vereinbar.
Der säkulare Staat gewährt durch seine in Verfassungen konstituierte Grundrechte Religionsfreiheit, das positive Recht setzt die Grenzen. In der säkularen Welt haben archaische kulturelle oder religiöse Rituale jeglichen Sinn verloren, sie werden nicht mehr verstanden, auch dann nicht, wenn wir ihre historischen Hintergründe kennen. Die Bibel hat für uns keine normative Kraft mehr, der Koran noch weniger. Warum stiftet ausgerechnet eine Beschneidung der Vorhaut den Bund mit Gott, warum muß Schlachtvieh geschächtet werden, warum ist Schweinefleisch nicht genießbar, warum gibt es dort die Burka, warum genügt hier ein Kopftuch etc.? Heilige Schriften müssen interpretiert werden, das Wort allein wird nicht mehr geglaubt, das Sensorium für das Heilige ist verkümmert.
Für Moslems bedeutet die Beschneidung so etwas wie kulturelle Identität, für die Juden ebenso und vor allem Aufnahme in die Religionsgemeinschaft. Das alles gilt in der säkularen Welt gar nichts, und wie viele Moslems und Juden gibt es, die nicht längst der säkularen Welt angehören und die Rituale ihrer Kultur nur noch als Pflicht und unverstandene Tradition absolvieren?
Empörung kommt immer aus den Reihen der Orthodoxie.
Die rein religiös motivierte Beschneidung ist so gesehen ein Akt der Körperverletzung ganz im Sinne des Strafgesetzes und muß folgerichtig verboten werden. Eine religiöse Indikation ist in der bloß formal toleranten säkularen Welt nicht akzeptabel. Der Konflikt ist fundamental unlösbar.
Doch andererseits verpflichtet das aufgeklärte Denken zur Duldung, und zwar zu einer Duldung, die nicht aus Gleichgültigkeit erwächst, sondern aus Anteilnahme, sonst wäre die säkulare Welt nichts wert, sonst wäre sie nichts weiter als eine verarmte Welt, eine kulturelle Verlustwelt, denn gerade jenes Prinzip der Duldung des Anderen sollte ja einer der großen Fortschritte der säkularen Welt sein gegenüber der schroffen Intoleranz orthodoxer Religionen und geschlossener Gesellschaften.
Wenn wir also Wert darauf legen, humanitäre Ideale gegen bloße Verwaltung durch den mechanistischen Regulierungswahn des Rechtspositivismus zu bewahren, müßte die religiöse Beschneidung zugelassen werden, möglicherweise als Sonderrecht und fraglos in juristisch hieb- und stichfester Form, sofern das möglich ist, aber warum sollte es nicht möglich sein? Das Recht hat sich im Zweifelsfall immer als biegsam erwiesen, besonders wenn es um Güterabwägungen geht.
Laßt euch was einfallen, Juristen!
Alles würde dann lege artis verlaufen und nicht in Hinterzimmern oder auf Küchentischen, und man müßte nicht lange warten, bis auch dieser Bereich kontroll- und zertifizierungspflichtig wird (siehe auch die Schönheitsmedizin), aber den Bedürfnissen der Religionsgemeinschaften wäre zumindest pragmatisch Genüge getan, und der säkulare Staat hätte eine weitere Nische unseres Daseins erobert, denn dies ist der Preis der Säkularisation: die vollständige Bürokratisierung des Lebens bis in die letzen Winkel des Privaten.
Eine Zulassung der religiös indizierten Vorhautbeschneidung könnte auch deshalb leicht fallen, weil der Eingriff an sich harmlos ist, die körperliche Versehrung minimal ohne weitere negative Folgen, ganz im Gegensatz zur weiblichen Beschneidung, die, so barbarisch sie auch immer sei, als archaische Tradition aus Sicht der säkularen Welt möglicherweise auf der gleichen Stufe steht wie die männliche. Hier aber bleibt die Kluft unüberwindlich, und es ist vielleicht gut, daß es diese Grenze gibt, denn an ihr könnte die säkulare Welt wieder zu sich selber finden.
Das übereifrige Kölner Urteil, angestoßen von einem offenbar denunziatorisch veranlagten Arzt, hat eine Diskussion in Gang gesetzt, die unnötig, überflüssig und unfruchtbar ist. Unnötig ist sie, weil die Dinge sich bisher komplikationsfrei ohne obrigkeitliche Mitwirkung informell von selbst geregelt hatten, überflüssig, weil sie auf vielen anderen Ebenen des Dissenses längst geführt wird, unfruchtbar, weil der herrschende Rechtspositivismus nicht geeignet ist, über religiöse Fragen zu urteilen, denn er kennt immer nur die eine Seite, seine Begründungen bleiben darum eindimensional.
Man hätte die Angelegenheit besser mit Stillschweigen gnädig übergehen sollen, das ist nun nicht mehr möglich.
Sofern aber der Islam und das Judentum zu Deutschland gehören, woran wir hier nicht zweifeln wollen, gehören auch deren unveräußerliche religiöse und kulturelle Inhalte zu Deutschland. Mit ihnen müssen wir offenbar leben, wenn wir unsere Ansprüche überhaupt noch ernst nehmen.
Am Ende bleibt mir nur ein Unbehagen, ja eine leichte Scham über die etwas angefaulte Pathetik, die immer dann sich in die Rede einschleicht, wenn der Wertekanon unserer großartigen fortschrittlichen westlichen Welt herhalten muß, als ob alles Säkulare unverbindlich und jederzeit austauschbar wäre, als gäbe es keine Evidenz.
Hallux Valgus
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