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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 10


DIE DDR HAT ES NIE GEGEBEN

zu Uwe Tellkamp: Der Turm


Der Roman beginnt mit einer Art Ouvertüre, die um ein Uhrenmotiv kreist, das später immer wiederkehrt. Der Text dieser Ouvertüre ist in einer lyrischen Prosa gehalten, die manches zu versprechen scheint, das später mal gehalten wird mal nicht, aber das Uhrenmotiv ist sinnvoll gewählt, weil es metaphorisch vieldeutig ist. Die Uhren der Deutschen Demokratischen Republik gingen nicht nur nach, bei Bedarf gingen sie vor, sie gingen falsch in jede Richtung, sie stimmten nicht, sie waren stehengeblieben, und sie standen kurz vor zwölf, auch als es noch niemand wußte oder wahrhaben wollte.
Der konzentrierte kurze Eingangstext erinnert entfernt an eine andere literarische Ouvertüre, die wir aus dem Roman Der Erwählte kennen, Thomas Manns Spätwerk. Darin läutet der Geist der Erzählung die Kirchenglocken Roms. Läßt der Geist der Erzählung auch die Uhrwerke Dresdens schlagen? Wir vermuten, daß es so gemeint sein könnte, und wir vermuten ferner, daß der Zeitgeist dabei kräftig mitmischt. Die Ouvertüre sagt uns auch, daß hier ein Erzähler die Stimme erhebt, der sich epischer Tradition verbunden fühlt.
So weit, so genießbar.

Doch dann beginnen wir mit Christian, dem Helden des Romans, die beschwerlich dröge Auffahrt auf den Turm. Sie ist in einem klebrig-zähen Tonfall gehalten, der uns das ganze Buch hindurch onkelhaft begleiten wird. Anläßlich einer Feier zum 50. Geburtstag des Vaters lernen wir dort Christians Familie samt deren Anhängseln und Verzweigungen kennen bis ins letzte Glied. Die Turmgesellschaft (Türmer) repräsentiert eine Klasse, die es im Arbeiter- und Bauernstaat längst nicht mehr hätte geben dürfen: das Bildungsbürgertum. Depressiv bejammert es sein Schicksal, liest Klassiker, macht Hausmusik und DDR-Witze und verhält sich systemkonform. Der Turm ist sein liebster Aufenthaltsort.
Weitausgreifend erzählt im folgenden der Roman vom Leben dieser Menschen im Dresden und in der DDR der 80-er Jahre. Im Zentrum steht der Werdegang Christians, das Buch endet mit dem Fall der Mauer, wie von Anfang an jeder weiß. Vor uns liegt ein Bildungs- und Entwicklungsroman, der auch ein Familien- und Gesellschaftsroman ist.
(Weitere Handlungselemente übernehmen Sie bitte dem Text oder einer Rezension).

Nach der Wiedervereinigung des geteilten Deutschland wurde in den Feuilletons der führenden Qualitätsprintmedien ein schriller Ruf laut und immer lauter: der Ruf nach einem großen deutschen Roman, nach dem großen vaterländischen Wenderoman, der als Monument deutscher Leidenstiefe (am besten gleich als Weltkulturerbe) in Geschichte und Literaturgeschichte für alle Zeiten eingehen solle.
Die dekadenten Schriftsteller des saturierten Westens haben diesen gebetsmühlenhaft wiederholten Ruf einfach überhört oder glatt verschlafen, sei es aus stumpfer Unbelehrbarkeit, hochmütiger Gleichgültigkeit, oder auch aus nihilistischem Desinteresse am tragischen Geschick des eigenen Volkes, sei es in der Haltung eines postmodernen Relativismus, dem nichts mehr heilig war, sei es aus einfacher Ignoranz der Marktlage.

Doch manche Schriftsteller aus der ehemaligen DDR dagegen, schon vor Tellkamp, hörten den Ruf und fingen an zu schreiben, meistens zu beflissen und zu schnell. Unter ihnen wurde recht bekannt, wenn auch nicht übertrieben populär, Ingo Schulze, den manche zu schwierig finden, zu pretentiös, zu abgehoben, zu anspruchsvoll. Schulze stellt in seinem Buch Neue Leben, das als der ersehnte Wenderoman übereilt gepriesen, dann genauso flott vergessen wurde, einen Protagonisten mit dem kapriziösen Namen Enrico Türmer vor, den wir einerseits als Vorausschau auf den Tellkampschen Turm verstehen können, andererseits als Verweis auf deutsche Tradition, in der auch Tellkamp heftig und verbissen wurzelt.
Man hatte sich ja drüben in der DDR einst ungleich konventioneller und bourgeoiser als hüben des deutschen kulturellen Erbes sittlich ernst befleißigt. Um zu retten, was zu retten war, hatte man deutsche Literatur marxistisch reanimiert, um sie goethisch wieder zu goutieren (sofern der Brocken nicht im Halse steckenblieb), ganz im Gegensatz zum geistig durch und durch versifften Westen, in dem viele sogenannte Intellektuelle zynisch einen Traditionsbruch nach dem anderen verzapften, von dem sie sich nie wieder erholen sollten.

Tellkamps Geltungsstreben ließ ihn instinktiv erspüren, daß ein großer Roman, nämlich der ganz große Roman über die DDR in ihrer Endphase per se ein Erfolg sein mußte, und er hatte, belehrt durch den relativen Erfolg des Kollegen Schulze, der auch ein relativer Mißerfolg war, begriffen, daß dieser Roman definierte Ansprüche zu erfüllen hatte, die der Marktlage in jeder Hinsicht Rechnung trugen.

Ein solcher Roman mußte erstens lang sein, aber nicht einfach lang im Sinne von lang, sondern einerseits länger als die Werke der Konkurrenz, die Seitenzahl betreffend, dann aber auch lang im Sinne von tiefausholend, weitschweifend, kurz gesagt: maximal episch breit. Langwierigkeit und kleisterhafte Umständlichkeit bis zu konfabulatorischer Redundanz durfte er nicht scheuen, denn in deutschen Landen gilt die Regel, daß künstlerisch Wertvolles dem Leser Widerstand entgegensetzen müsse. Lesen dürfe keinesfalls Vergnügen sein, sondern Arbeit, nämlich jene Geistesarbeit, die der Tätigkeit des Schreibers voll Genüge tue und seinem Gegenstand, den er Jahr um Jahre sich und der Welt abgerungen hat. Wo der Schreiber schuftet, soll der Leser dreifach schuften.
Länge hat ganz offensichtlich auch mit Prestige zu tun (Christian liebte dicke Bücher. Mit 500 Seiten begannen die wirklichen Romane.). Ingo Schulze hatte mit den 793 Seiten seines Neuen Leben schon ein sehr deutliches, starkes Zeichen gesetzt, das ihm manchen Beifall eingetragen hat, das mußte dringend übertroffen werden. Die psychologisch wichtige Zahl 1000 stand im Raum. Am Ende wurde sie in kalkuliert wirkender Bescheidenheit mit 973 Seiten knapp gestreift, die Ingo Schulzes 793 aber deutlich überrunden.
Ob diese beiden Zahlen in einem gleichsam magischen Verhältnis zueinanderstehen, müßte man den Autor selber fragen, gewiß ist, daß jene 973 Seiten die große Masse der Jubelrezensenten, die kaum zwei, drei Seiten in der Woche schaffen, zu Bekundungen schwerer Ehrfurcht und Bewunderung animiert haben ob solch enormer Fleißarbeit. Size matters, heißt es im Trailer eines Remakes von Godzilla, wer wollte das bezweifeln.
Daß diese Frage nicht ganz nebensächlich ist, sondern einen autobiographisch getönten Aspekt haben könnte, leuchtet klar in jener Episode des Romans auf, als Christian (Tellkamps alter ego) einmal über 700 Seiten an einem Tag liest, nur weil sein Bruder Robert angeblich 500 gelesen hatte. Lesen als Mannbarkeitsritual im Laufe eines Bildungsganges, das hat es weltweit wahrscheinlich nur noch in der DDR gegeben.

Zum Programm des realistischen Roman gehört ferner die detailgetreue Beschreibung lebensweltlicher Umstände aller handelnden Personen, um das zu stiften, was man Atmosphäre oder, deutlich scheußlicher, Authentizität nennt, und in dieser Hinsicht bleibt bei Tellkamp wahrlich kein Auge trocken. Hier dreht er auf, was das Zeug hält, hier will er glänzen und uns einpauken, daß in puncto Wortgetöse deutschlandweit keiner ihm das Wasser reichen könne. Schon bei der Auffahrt zum Turm nervt, wie erwähnt, unkontrollierter Beschreibungsfuror die Geduld des Lesers. Mit buchhalterischer Akribie wird jeder Fliegenschiß bis in die kleinste Einzelheit nach Form, Farbe und Geruch demonstriert und kommentiert, kombiniert mit parataktischen Satzmonstern als rangmindernden Stilelementen dieses Buchs, dünkelhaft bereichert mit einer Sturzflut angelesener Begriffe, die den exorbitanten Bildungsstand des Autors jedermann vor Augen führen sollen.
Einerseits schätzen wir Beschreibung, wenn sie die sogenannte Atmosphäre der Lebenswelten lebendig macht, andererseits wünschen wir dabei Genauigkeit, Ökonomie der Mittel und vor allem Sinn, aber gerade daran fehlt es völlig. Tellkamp ersetzt ihn plump durch schiere Masse und verbrauchte sprachliche Mittel. Die manchmal penetrante Neigung zu hausbackenen Formulierungen (Das Abendessen, das die Schwestern der Chirurgischen Klinik für den Dienst zubereiteten, genoß in der Akademie einen guten Ruf.) ist noch harmlos, ja manchmal fast erholsam. Weitaus lausiger ist die Maßlosigkeit schiefer oder klischeehafter Bilder, peinlicher Manierismen und Stilblüten aller Art. Des Autors ungehemmtes Imponiergehabe mästet seine Sätze zu verbalen Kalorienbomben, bis das Buch an poetischer Fettsucht erstickt:
... das Gartenhaus sah aus, wie mit Zuckerguß bedeckt ... sie war in der Blüte ihrer Weiblichkeit ... Morgengrau kauerte im Fenster ... allmählich fortgelöschte Dunkelheit ... Kastschej (ein Hund), der sich kräftig schüttelte und dabei einen weißen Sprühwirbel aufschleuderte, der Gesicht und Brillengläser Arbogasts mit Schneeplacken verblindete ... er sah die Elbe wie ein Rückgrat aus Teer, wie Muskelfleisch im Zustand der Verwesung, Flimmerbewegungen darin, als ob sich weißglänzende Trichinen in das müde steinerne Fleisch gebohrt hätten ... Lichter pufften im Garten auf und übergossen die Wege mit weißer Helligkeit ... die Arbogastsche Sternwarte, die, mit weißem Stein verkleidet, wie ein Eulenei im abschüssigen Teil des Gartens stand ... er gab Meno die Hand zu einem schlafffleischigen Gruß ... Krähen flügelten vom Marx-Engels-Denkmal ... Meno kostete. Glutbröckchen kollerten den Schlund hinab, verschmolzen zu einem Feueraal, der langsam und stecknadelgespickt die Speiseröhre füllte ... justament an diesem Tag blühte seine Akne wie ein Weidenbaum im Frühling ... slawisch hohe Wangenknochen ... die pergamentblasse, in viele Runzeln geknitterte Haut begann sogar zu leuchten ...

Viele Rezensenten, die sonst ästhetischen Purismus predigen und bei jedem zweiten Adjektiv ihren Browning ziehen, steckten Tellkamps Redundanzen und stilistische Entgleisungen locker weg, indem sie hellauf lobten, was sie sonst verdammen, selbst den häufigen Gebrauch von Partizipialkonstruktionen.
Wir schreiben dies dem hohen vaterländischen Wertstoff des Buches zu, der offenbar lange unterdrückte patriotische Empfindungen stimuliert, von denen auch der sogenannte Intellektuelle alles andere als frei zu sein scheint. Wenn's ums Nationale geht, ist sprachliche Beckmesserei eben einfach nur erbärmlich, und dazu fügt sich aufs schönste, daß Tellkamp modernistischen Tendenzen völlig abhold ist. Er hat schnell gesehen, daß der großdeutsche Roman, mit dem er den Olymp bezwingen wollte, nicht von der Art jener Romane sein durfte, die in den 60-er und 70-er, ja noch in den 80-er Jahren in den Handel kamen: wirres, abstoßendes Geschreibsel ohne Handlung, quälend unverständliche Texte, eitle, weinerlich-masturbatorische Selbstbespiegelungen, ekelhafte pornographische Exzesse, die jetzt zurecht und zum Glück allesamt vergessen sind; nein, ein richtiger Roman mußte es sein, einer mit plausibler, nachvollziehbarer Handlung in einer pädagogisch wertvollen Sprache und einem für die nachwachsende Generation gewichtigen Gehalt mit zeitgeschichtlichen Bezügen, für den Deutschunterricht an Höheren Schulen wie angegossen.
Selbst avantgardistisch eingefärbte Feuilletonisten hatten von dem abgefahrenen Geschwafel seit den 68-er Krawallen die Nase längst gestrichen voll, und Uwe Tellkamp hatte diese Feuilletons bestimmt gelesen. Er, der Medizin studiert hat und Chirurg geworden ist, also auch akademisch etwas darstellt, weiß seinen Standort zu bestimmen und hat diese Lektion, die ein Teil der Wende war, intuitiv als herrschenden Trend verinnerlicht, denn der Schriftsteller muß ein Gespür haben für das, was der Markt verlangt, sonst kommt er niemals hoch.

Aber nicht nur stilistische Mängel mindern den Wert dieses von Ambition und Bildungshuberei aufgeblasenen Werks. Immer wieder wundert man sich doch, wie schnell die DDR verschwand, wie eigentümlich sang- und klanglos sie unterging, und nicht nur sie sondern sozialistische Diktaturen überall. Kaum waren die Mauern geschleift, Grenzanlagen weggerissen, die Akten verbrannt, schon schien es, als wäre da niemals was gewesen. Man betrat Brachland, eine verkommene Gegend, die nach Braunkohle stank, aber die DDR selbst war auf unerklärliche Weise einfach nicht mehr da, sie war irreal geworden. Niemand vermißte sie, es fehlte nichts, nur ein Gefühl wachsender Entfremdung, ja Entwirklichung breitete sich aus.
Wie soll man denen, die das nicht mehr erleben durften, von dieser Welt erzählen?
Opernhafter Verismus ist, wie wir hier sehen, nicht die Lösung, er vertuscht nur den Mangel an narrativer Kompetenz. Das Wirkliche ist empfindlich, schwer zu fassen, Überladung drückt es ab. Möglich wäre Verdichtung durch subtile poetische Mittel, aber sie erfordern Skrupel, hohe Disziplin, Verzicht, Kargheit, Reduktion, und Subtilität ist Tellkamps Sache nicht. Zwar mag er sich des Dilemmas bewußt gewesen sein, indem er imaginäre Räume stellvertretend gegeneinanderstellte: auf der einen Seite den Turm als Aufenthaltsort eines marod entrückten Bürgertums, auf der anderen Seite einen nicht minder maroden und ebenso entrückten Machtapparat, der in einer erfundenen Zone namens Ostrom inmitten Dresdens residiert. Das ist irgendwie gut gemeint, reicht aber vorn und hinten nicht, es macht die erzählerischen Defizite erst spürbar. In diesem Buch wird alles gnadenlos einfach totgequatscht.

Ein Roman über DDR-Wirklichkeit könnte, sollte oder müßte, stellen wir uns vor, ein Roman über DDR-Unwirklichkeit sein: ein fundamental utopischer Roman. Alle anderen Versuche sind Varianten von Nostalgie. In ihr bleibt Tellkamp stecken, sei's im positiven oder negativen Sinn.
Ganz am Rande möchten wir hier noch bemerken, daß wir mit DDR-Müll und ganz besonders mit Dresden-Schwulst auf Jahrzehnte hinaus restlos bedient sind.

Einige Schreiber in den Qualitätsprintmedien (Gustav Seibt, Thomas Steinfeld, SZ) verstiegen sich, von vaterländischer Rührung übermannt, zu der Forderung, Der Turm müsse dringend zur Pflichtlektüre gemacht, ja zu einem Volksbuch offiziell gekürt werden. Dachten sie daran, wie einst die Schildbürger Sonnenlicht in Körben ins fensterlose Rathaus Schildas trugen?
Sowas geht natürlich voll daneben. Uwe Tellkamp hat zum rechten Zeitpunkt exakt das Buch geschrieben, das der Markt verlangt hat. Das geht in Ordnung, das ist die wahre Leistung. Ein Volksbuch, liebe Freunde, das wäre viel zu wenig, zu bescheiden, auch der schäbige Preis des Deutschen Buchhandels bringt es nicht, machen wir doch lieber gleich Nägel mit Köpfen:
Der Nobelpreis muß es sein, und zwar nicht erst in 30 Jahren sondern jetzt, noch in diesem Jahr, sofort!

Kees van de Verschredderen






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