AUSGABE 12
EUROPA II
wohin denn ich
Walter Jens log, als er Die Götter sind sterblich schrieb, vom Palazzo Vendramin kommend, aber er log schön, und ich habe ihm geglaubt, als ich 19 war. Schadewaldt übersetzte die Odyssee in Prosa, dafür hatte ich wenig Verständnis, und seine Ödipus-Übersetzung ist beklagenswert, ein altphilologischer Triumph, möglicherweise, und leider eine Niederlage des Verstehens. Ernst Schnabel log charmanter, als er den 7. Gesang in eine Hörspielfassung brachte, und ich war berauscht. Log auch Hölderlin als er den Vers schrieb: im Arm der Götter wuchs ich groß? Er log nicht, ich erkannte mich darin.
Aber was war das? Juveniles, früheuropäisches Irresein, passagere Hebephrenie? Ich war vollgesogen vom Mythos, der reichte von Nebelheim bis zum Olymp, ich blies das Horn Olifant, ich war Parcival, ich war Odysseus, ich war Dietrich von Bern, Lancelot, war gefangen in Klingsors Gärten, es gab nichts Anderes, eine Fülle, die nie wieder kam, keine Wirklichkeiten, Griechenland lag um die Ecke, Deukalion und Pyrrha einen Steinwurf weit.
Dann kam der Rausch der großen Städte, London, Paris, Rom, Madrid, Lissabon, immer für eine Enttäuschung gut. Leider waren die deutschen Städte ruiniert, aber ihre Vergangenheit war noch da, und das war auch alles Europa, jeder Stein der nicht mehr auf dem anderen lag. Ich war sehr vernarrt in die Renaissance, doch als ich zum erstenmal in Florenz Botticelli sah, standen zu viele Menschen vor den Leinwänden. Dann fand ich in einem abgelegenen Kabinett, wo gar keiner war, ein Bild von Dürer: Die Anbetung der Heiligen Drei Könige, plötzlich sah ich darin das Deutsche, plötzlich ich mich selber, dieses ganz Eigene, fremd zwischen den vielen Italienern mit ihrer weichen Expression, theatralisch nach außen drängend, ihre Wärme, alles großartige überwältigende Maler, aber die Dürersche Linienführung war eine andere, versponnene, in sich sinkende, maßloseste Genauigkeit noch im letzten Detail eines Schmetterlingsflügels, eines Ziegelsteins, einer Fachwerkstruktur im fernsten Hintergrund einer Landschaft, die eine deutsche Landschaft war, und es hatte nichts mit Innerlichkeit zu tun oder Tiefe oder Transzendenz, sondern nur mit Wirklichkeit, es war die eigene Art, die besondere Form, die nördliche Ästhetik, die andere Welt, die, aus der ich kam, die mich geprägt hatte, die man nicht mehr schätzen durfte, die Ursprung des Unheils war, das Massengrab, das Trümmerfeld. Das sind die Unterschiede, das sind die Fakten, über die kommt man nicht hinweg, und darum war es gut, in der Fremde zu sein, da lernte man das Eigene mühsam als etwas nicht Abstreifbares wenigstens zu erkennen, wenn auch noch lange nicht zu lieben, man sah es erst von dort aus, man atmete freier, wenigstens das.
Seltsam, denn beides war unschlagbar schön, Schönheit muß ja schlagend sein, und wenn sie nicht trifft, ist sie nichts wert, Tingeltangel. Entweder ist etwas schön oder nicht, darüber nachzudenken macht blind, das Schöne ist evident. Italien hat das Schöne vieler Jahrhunderte mühsam bewahrt, die Antike hat sich mit ihren Resten schlecht gehalten, war dennoch überall gegenwärtig, es wurde zerstört, zerschlagen, verbrannt, geschleift, dann aus den Knochen wieder aufgebaut, frühchristliche Kirchen aus den Tempeln der alten Götter, immer wieder Neues aus dem Alten und zwar bis heute, Lampenschirme aus den Gebeinen 5000 toter Kapuziner, Bahnhofpalazzo von Mailand, Pirellihochhäuser, phänomenal verkommene Vorstädte, wo 1975 der Stricher Pino Pelosi Pasolini erdrosselte, die Leiche fand man am Strande von Ostia, der Fall wurde nie wirklich aufgeklärt, ein Kontinuum von 3000 Jahre, an deren Spitze ich nun stand und mich ratlos durch eine unbegreifliche Welt tastete.
Nach Griechenland, dem vermeintlichen Epizentrum des Geistes, zu reisen, zögerte ich lange, ich war auf die Enttäuschung gefaßt, und sie kam, also war es gut, über Bulgarien zu reisen, aus dem heruntergekommenen Sofia zu kommen, wo in den Treppenhäusern Ratten nisten, wo ich Hammelköpfe aß, wo sonntags die Orthodoxie blühte, ich wanderte durch das kahle Rilagebirge, wo eine polnische Gruppe in Sandalen und Ringelsöckchen mit Wodka bewaffnet auf die höchsten Berge stiegen und junge Leute aus der DDR den südlichen Komplex nicht fanden, wo in den Tälern Dampflokomotiven fuhren.
Gegen dieses Bulgarien war Griechenland ein Paradies, wenn auch nicht lange. War noch die Zeit der Obristen? Vergessen. Jetzt war jeder für sein eigenes Unglück wieder selbst verantwortlich, sie spielten wieder Demokratie und tanzten Rembetiko und Sirtaki, längst auch in den Straßen von Duisburg, aber an der Spitze des Landes rasten bacchanalisch die alten Strauchdiebe und Betrüger in neuen Masken, um das Volk, das solchen Archaismen wie Gastfreundschaft noch frönte, auszunehmen nach Strich und Faden.
Von Jugoslawien möchte ich gar nicht reden, es ist verschwunden und zwar aus gutem Grund, eine der vielen Fehlkonstruktionen nach dem WK 1. Nach dem zweiten hielt es gerade mal einen Tito lang. Der Balkan war nicht mehr oder immer noch nicht Europa, man lese Ivo Andrić, seit Jahrhunderten eine Art Antichambre für Asien, das Europäische war hier nach dem Fall des postantiken Byzanz chimärisch entartet, osmanisch überwachsen, kulturell retardiert. Jetzt soll es wieder eingemeindet werden, was nicht gelingen wird, die europäische Idee ist längst zum Überbau verkümmert, reine Technokratie. Es gab hier kilometerweise Maisfelder, das wirkte furchtbar sinnlos, doch ich schätze Maisbrot. Ich wohnte in Sofia bei einer Dame namens Radja Popmarkova, mit der ich französisch sprechen konnte, eine vom alten Schlag, in den siebziger Jahren war das noch lebendig. Ein mir entfernter Onkel war deutscher Botschafter in Bulgarien, er hatte in Stockholm die Geiselnahme der RAF überlebt und wollte ruhige Verhältnisse in einem Land, in dem dergleichen nicht zu erwarten war, weil das Land selbst die Geisel schon war.
In Thessaloniki strotzten die Märkte vor Obst und Gemüse, kindskopfgroße Pfirsiche, auf den Verkehrsinseln hausten vergessene Obdachlose vom letzten Erdbeben seit Jahren, Hühner scharrten zwischen byzantinischen Resten. Byzanz wurde an den höheren Schule ja gar nicht behandelt, nach dem Codex Iustinianus und den Gotenkriegen war Ostrom vom Lehrplan verschwunden, dann gab es noch eine Theophano und ein paar Kreuzzüge, Westrom hatte sich durchgesetzt, Abendlandsideologie, und Griechenland wurde der älteste Wertstoffhof Europas. Man kann ja nicht mal eben per Dekret ein byzantinisches Erbe wiederbeleben, es fristet dort das allerkargste Erbe. Es ist einfach nicht mehr viel da. Die Orgel kam von dort, heißt es, aber was sagt uns das? Viele Wege führten von dort bis hinauf durchs Friaul. In Santa Maria in Valle in Cividale ahnt man etwas davon mit viel Phantasie, aber der Ahnung mußte ich auf die Sprünge helfen wie vielen anderen Wahrheiten auch. Schleppte man etwa die Orgel hier durch? Die Gegend ist slawisch, italienisch, deutsch, eine brauchbare Mischung. Mischung ist ein genuin europäisches Muster, darauf ließe sich etwas aufbauen, das Elend kam erst mit dem Rückzüchtungswahn zur Reinrassigkeit, dem Nationalwahn, und nahe Cividale liegt Kobarid (Caporetto), das Zentrum der Soča- oder Isonzo-Front mit ihren zwölf oder vierzehn Schlachten, die südliche Ostfront des WK I, die der Westfront kaum nachstand. Hemingway war als Sanitätssoldat dabei und schrieb A Farewell To Arms, das dreimal verfilmt wurde, 1932 von Frank Borzage mit Gary Cooper und Helen Hayes, 1957 mit Rock Hudson und Jennifer Jones von Charles Vidor, 1996 von Richard Attenborough mit Sandra Bullock und Chris O'Donell.
Von Thessaloniki nahm ich ein Schiff nach Lesbos, definitiv der letzte europäische Vorposten in der Ägäis, obwohl das alte Europa dort noch lange nicht endet, es wurde ja durch Byzanz viel weiter nach Osten getragen, Ruinen pflastern seinen Weg. Ich hatte meine Lektionen gelernt von Homer, Sophokles, Xenophon, Platon, Thukydides, ich im Hellespont, ich am Steuer der Argo, ich mit Odysseus in der Unterwelt, ich und der goldene Esel. Auf dem Oberdeck zwischen den Schlafsitzen ist viel gekotzt worden, die Nacht war sehr warm, ich konnte inmitten von Rucksäcklern einfach nicht schlafen, damals war ich noch fast jung, schon als Kind fühlte ich mich nur mit mir selber wohl. Im Licht der rosenfingrigen Eos ging am Heck der Müll in schwarzen Plastiksäcken über Bord, zeichnete eine gepunktete Linie in der veilchenfarbenen See bis zum Horizont.
Von Mytilene nahm ich den Bus in einen Ort namens Plomarion, lernte auf der Fahrt leider folgenlos ein griechisches Mädchen kennen, Eleni, die in Paris studierte, sie kam mir schaumgeboren vor, ich fand bei einem arbeitslosen Fischer Unterschlupf. Das waren fröhliche naive Menschen, die nicht viel zu beißen hatten aber alles teilten. Ich blieb der Xenos, ich war privilegiert, aber wohl fühlte ich mich nicht. Am Hafen klatschten junge Burschen Tintenfische auf die wellenbrechenden Betonblöcke, um ihnen die Tinte auszutreiben, und ich dachte an die Achaier, Menelaos, die dorische Welt, ich verwechselte Mytilene mit Mykene, denn ich trank zuviel Retsina, und diese Sitte, in die Küche geführt zu werden und mir auszusuchen, was ich essen wollte, gefiel mir. Der Weg zum Strand war ein Höhenweg, führte über eine Steilküste, die als Müllkippe diente, der Müll, von Lastwägen angekarrt strömte in Felsrinnen lässig breit hinunter ins Meer hinein, die ewig wogende Salzflut. Ich sah ein, daß es praktisch war, und ich immer noch ein peinlicher Romantiker. Auch wurde mit Dynamit gefischt. Auf irgendeiner dieser ägäischen Inseln hatten italienische Faschisten einst Juden interniert, die auf der Pentcho, einem alten Donauschiff, ein halbes Wrack, die Flucht nach Palästina versucht hatten. Von dort wurden sie in italienische KZs verfrachtet.
Später auf Kreta trieb der Wind Reste von Plastikbahnen, mit denen man Frühbeete abgedeckt hatte, weit übers Land. Nun war Oktober, und die Plastikfetzen hingen in den Zweigen der Ölbäume und knatterten im Wind. Von Athen möchte ich schweigen, ich möchte nie wieder hin, dann lieber nach Detroit oder Wladiwostok, aber bitte nur noch Städte ohne Akropolis. Es gibt ehrlichere Städte, London zum Beispiel, oder Hamburg. Diese paneuropäische Geschichtsnostalgie war für Kaffeefahrten gut. Im Bus auf Kreta spielten sie türkische Musik bis zum geht nicht mehr, Schafe wurden im Kofferraum verstaut, das ist jetzt sicher verboten wie Sodomie, auch der Minotaurus ist tot. Ich nahm sogar die einmalige Qual einer 48-stündigen Zugfahrt von Athen nach München auf mich. Nur ein Flug nach Singapur in der Holzklasse war schlimmer. Irgendwann verliert das Reisen seinen Zauber, selbst wenn man in der Talmistadt München lebt. Alles wird Klischee, und ein Europa ohne Grenzen ist ein Irrtum. Ich sah mir Europa nun lieber von links oben an. Trotzdem hin ich viel gereist, in alle Richtungen, ich nahm an Sommersprachkursen teil, lernte nichts, aber ich war in Europa zu Hause, ich wollte Kosmopolit sein, bevor ich Deutscher sein mußte, aber dieses internationale Vagabundieren war Partyroutine. Jugend versteht sich überall immer ganz gut, aber jung und orientierungslos sein ist nicht der europäische Plan. Im höheren Alter leben die Menschen weltweit in sehr engen Verhältnissen, gerne auf Kreuzfahrttankern, und schotten sich ab. Völkerkundlich gesehen sind die Unterschiede minimal, biologisch gibt es keine.
Am wohlsten fühle ich mich in Hamburg, Madrid, Triest und Prag, und London nicht zu vergessen. Ein unregeläßiges Fünfeck, das ist mein Europa, aber klare Linien, ich trage sie im Geist. Slawisch, germanisch, romanisch, in dieser Mischung bin ich zu Hause. Gewöhnlich bin ich einsam und bleibe am liebsten für mich. Fremde Währungen haben mich nie gestört, mir egal, was die Leute für Geld haben, solange das Leben halbwegs erschwinglich ist. Bordelle in Stavanger, Karthäuserkloster in Slowenien, Beautyfarm auf Malle oder Catwalk und dänischer Jazz, Heteronymien, Symphonien, Paroxysmen der Massenhaftigkeit, alles Asche. Mein Europa, das bin ich oder im späten August der Geruch einer Asphaltstraße in Southampton.
In Madrid lernte ich einmal Spanier aus besseren Kreisen kennen, ganz zufällig in einem Restaurant, liebenswerte, kultivierte, ja entzückende Menschen von einer Eleganz, die bei uns verboten ist. Wir sind alle Kelten, sagten diese Spanier, darüber diskutierten wir ziemlich lange, und wahrscheinlich hatten sie recht, darauf konnten wir uns einigen, ohne daß einer gekränkt war. Die Kelten haben nichts Schriftliches hinterlassen, dafür sollte man ihnen dankbar sein, sie schlichen sich in die europäischen Kulturen ein mit List und Tücke, mit Bronzeschwertern und feuchtfröhlichen Umarmungen, verbreiteten unbekümmert ihre Genome, die gerne genommen wurden, jetzt sind sie überall, und man muß nicht nach Dublin reisen.
Nahe Weilheim kannte ich einmal einen Hundeforscher mit seltsamen Allüren. In einem Aquarium hielt er Mäuse in allen Farben, weiße, graue, braune, schwarze, rote, gefleckte, weiße, Menschenpark im Miniformat. Irgendwann werden alle grau sein, sagte der Hundeforscher, man muß Geduld haben. Leider hatte ich die Geduld nicht, und ich habe ihn später nie wieder besucht, ich mochte sein Hundegulasch nicht, aber ich denke, so ist es. Keine Rasse setzt sich durch, hoffen wir auf die Mischung, irgendwann werden wir alle grau sein. Kulinarisch sieht man schon kleine Erfolge, es gibt Fusionfood, wir essen unsere Döner jetzt mit Stäbchen, Pizza mit Hawaii, Spaghetti mit Grünkohl, Jamie Oliver ist unser Küchenchef, aber das ist global, also nichts, nicht europäisch. Europa ist steckengeblieben, es ist gar nicht mehr da. Persönlich bedaure ich das. Ich habe mein europäisches Gefühl verloren, ich habe festgestellt, daß die Welt überall gleich ist. Ich bin enttäuscht. Einerseits verkleinert die Gleichheit Europa, das Erlebnis der Fremde ist hier nicht mehr möglich, und das hatte ich als Reisender doch gesucht, und wenn alles überall gleich ist, kam man auch zu Hause bleiben, andererseits, politisch betrachtet, für soviel Gleichheit ist Europa nicht das richtige Pflaster. Wenn die Freiheit grenzenlos wird, gibt es sie nicht mehr. Unter den vielen Bedingungen der Demokratie ist eine die Überschaubarkeit des Landes.
Wohin also?
Max Naso
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