AUSGABE 12
ELEND DES NATURALISMUS
Zu Thomas Nagel: Geist und Kosmos
Mit geduldigem Scharfsinn sucht Thomas Nagel (bekannt durch seinen Klassiker What is it like to be a bat?) nach einer plausiblen Alternative zu den derzeit noch immer meinungsbeherrschenden, reduktiv materialistischen Welterklärungen. Der kühne Untertitel seines Buchs lautet: Warum die materialistische und neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie falsch ist.
Das ist die Lage: Naturwissenschafter in Denkeinheit mit nicht wenigen Philosophen des Geistes glauben heute schon (oder immer noch), uns und die Welt mit einer Theorie von allem beliefern zu können. Diesen Eindruck erwecken insbesondere populärwissenschaftliche Darstellungen, wie Leben entstanden sei, und wie es sich entwickelt habe. Doch je größer die Datenmengen des chemischen, physikalischen und molekularbiologischen Einzelwissens werden, desto inkonsistenter werden die gängigen Erklärungen, vor allem jene der Biologie, die man heute (mystisch raunend, wenn auch philologisch korrekt) gerne Lebenswissenschaften nennt.
Natürlich hat es keinen Sinn, den Materialismus grundsätzlich abzulehnen, denn für die unbelebte Welt der Materie ist er ebenso nützlich wie unverzichtbar, aber seine Erklärungskompetenz endet (oder wird zumindest fragwürdig) da, wo Leben beginnt.
Wo und wie aber beginnt Leben? Spätestens seit den frühen 50er Jahren haben wir unhinterfragt gelernt, Leben sei aus einer Art Ursuppe entstanden, in der sich unter Einwirkung unbekannter Energien irgendwann Moleküle höherer Ordnung gebildet haben könnten, um sich schließlich zu Polypeptiden und jenen autoreproduziblen Nukleotidsequenzen zu verbinden, aus denen später die ersten Formen primitiven Lebens, einzellige, bakterienähnliche Wesen, definiert durch die Fähigkeit zur Selbst- und Arterhaltung, entstanden seien.
Darwin, Wallace und andere, die weder die Mendelschen Vererbungsregeln noch die DNA kannten, entwickelten eine Theorie der Evolution durch natürliche Selektion bzw. Zuchtwahl und den Kampf ums Überleben durch Anpassung. Das erklärte Ziel ihrer Schriften war nicht nur die allmähliche Entwicklung der Arten und die Entstehung des Menschen aus ihnen so genau wie möglich zu beschreiben, ganz wesentlich ging es auch darum, den zu seiner Zeit noch deutungsmächtigen Kreationismus zu widerlegen, der zur Erklärung der Welt nicht mehr als eine Bibel benötigt. Darwin und Wallace fanden empirische Bestätigungen ihrer Hypothesen in reicher Zahl, die wir längst als kanonisierte Wahrheiten verinnerlicht haben. Durch die späteren molekularbiologischen Erkenntnisse über die tatsächlichen Zusammenhänge der Vererbung, die DNA und den genetischen Code wurde Darwinismus zum Neodarwinismus und zum Dogma überhöht, das jeden Zweifler automatisch zum Häretiker abstempelt.
In einem Zeitraum von etwa vier Milliarden Jahren soll sich also die heutige belebte Welt entwickelt haben, indem genetische Mutationen in kleinen Schritten neue Arten entstehen ließen, die sich durch Anpassung im Kampf ums Dasein durchsetzten oder nicht. Manche überlebten, andere nicht, soweit in Kurzform die Theorie. Doch auch in den Langformen bleibt der Darwinismus, ebenso wie der Materialismus weitgehend Metaphysik, und zwar aus dem einfachen Grund, weil er nicht bestätigt werden kann: die Evolution ist nicht überprüfbar.
Die Entstehung und Entwicklung des Lebens müßte also, den herrschenden Dogmen folgend, nichts anderes als eine Folge nahezu unglaublicher Zufälle gewesen sein, deren Wahrscheinlichkeit gegen Null geht, mit anderen Worten, der Vorgang gleicht, beim gegenwärtigen Stand materialistischer Theorien, immer noch einem Wunder. Zwar ist es wohlfeil, hier etwa von einer Selbstorganisation der biologischen Materie zu schwärmen, doch bliebe eine solche Annahme zirkulär, denn ohne steuernde Prozesse wäre auch sie der Unwahrscheinlichkeit des bloßen Zufalls ausgeliefert. Auch andere Erklärungsansätze des Materialismus leiden unter logischen Unverträglichkeiten, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen wird.
Insbesondere die Entstehung des menschlichen Bewußtseins, der Sprache, des Geistes, des freien Willens, der abstrakten Theorien, der Mythen, der Künste, der menschlichen Kultur und ihrer Werte, nicht zuletzt also der gesamten menschlichen Welt (die als Gegenwelt zur natürlichen Welt mit einer ihr eigenen Evolution gesehen werden kann) sind ins Weltbild des Materialismus (auch Physikalismus oder Naturalismus genannt) und dessen Varianten (psychophysischer Parallelismus, Panpsychismus, Identitätstheorie, Epiphänomenalismus etc.) überhaupt nicht einzuordnen.
Das Phänomen des Geistes und des Bewußtseins wird folgerichtig vom Materialismus entweder geleugnet oder als bloße Illusion des Gehirns hingestellt. Ein Leib-Seele-(Gehirn-Geist)-Problem existiert in der Eindimensionalität materialistischen Denkens nicht, obwohl die Tatsache des Geistes evident ist: ohne ihn gäbe es nicht einmal den Materialismus selbst. Kein Zweifel, es handelt sich um eins der schwierigsten und langwierigsten Probleme der Geistesgeschichte seit der Antike, das man immer noch ungelöst weiterträgt. Nicht auszuschließen, daß es die Reichweite des menschlichen Verstehenshorizontes grundsätzlich überschreitet.
Doch eine Naturordnung existiert und muß existieren, um das Sosein und die Entwicklungsgeschichte des Lebens bis hin zum Erscheinen des menschlichen Geistes verständlich zu machen, und sie sollte ebensowenig von der Banalität des Zufalls abhängen wie vom intelligenten Design eines Theismus, auch wenn göttliches Eingreifen das Verständnis nachhaltig erleichtern würde, freilich um den Preis des Glaubens, der Thomas Nagels Sache nicht ist.
Es geht um die Frage, wie wir den Geist im vollen Sinne als ein Erzeugnis der Natur verstehen können, oder anderes gesagt, wie wir die Natur als ein System verstehen können, das fähig ist, Geist zu erzeugen (S. 107), und es geht ferner um die Frage, ob sich unsere kognitiven Fähigkeiten in den Rahmen einer Evolutionstheorie einfügen lassen, die in dieser Form nicht mehr ausschließlich materialistisch ist, die darwinistische Struktur aber beibehält (S. 109).
Natürlich ist die Frage hypothetisch, wie Nagel selber in aller Bescheidenheit sagt, denn eine solche Theorie gibt es möglicherweise nicht.
Eine solche Theorie aber, angenommen, es gibt sie tatsächlich, müßte erklären können, wie aus einem leblosen Universum eine belebte Welt immer größerer werdender funktionaler Komplexität sich entwickeln konnte, und am Ende ein auf der Sprache basierendes Bewußtsein, das als Instrument von Transzendenz, seine eigene Wirklichkeit auch als Wert objektiv zu erfassen imstande ist (S. 125).
Nagel kommt auf verschlungenen, doch im Verlauf seiner Untersuchung denknotwendigen Pfaden zu einem Schluß, den er zunächst als Vorschlag verstanden wissen will, als mögliche Spekulation ohne feste Überzeugung: der Naturordnung könnte, angesichts der Tatsache, daß es vernunftbegabte Organismen gibt, von Anbeginn an die Möglichkeit zur Entwicklung solcher Wesen innegewohnt haben. Die Welt sollte Eigenschaften haben, erklärt er, die ihre Entstehung nicht zu einem bloßen Zufall machen. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Entstehung könnte in der Natur latent vorhanden gewesen sein (S. 126).
Nagel wagt und erwägt also, mit anderen Worten, nichts Geringeres als die hypothetische Möglichkeit einer der Naturordnung inhärenten, nichtintentionalen Teleologie. Die bestehende Naturordnung müßte um eben diese natürliche Teleologie erweitert und bereichert werden. Nagel spricht hier sogar von einer kosmischen Prädisposition für die Schaffung von Leben, Bewußtsein und Wert. Zu einer derartigen Hypothese sieht er sich umso mehr berechtigt, als das Lager des Materialismus keinerlei überzeugendes, ja nicht einmal spekulatives Konzept der Entstehung einer sich selbst reproduzierenden Zelle und ihrer hyperkomplexen Autoregulation durch bloß chemische Prozesse aus einer toten Umwelt liefern könne. Selbst Francis Crick, ein eingefleischter naturalistischer Hardliner (der 1962 mit James Watson und Maurice Wilkins den Nobelpreis für die molekularbiologische Entschlüsselung der Doppelhelix der DNA erhielt), habe den Ursprung des Lebens als einem Wunder ähnlich beschrieben und als Lösung mit der originellen Hypothese einer gesteuerten Panspermie aufgewartet, die aus anderen Bereichen unserer Galaxie stamme und die Erde mit Leben gleichsam infiziert habe.
Nagels Vorschlag einer natürlichen Teleologie ist demgegenüber deutlich vernünftiger und plausibler.
Thomas Nagel ist alles andere als rechthaberisch, im Gegenteil, er argumentiert mit denkbarer Umsicht, nahezu tastend, doch er verhehlt nicht, daß er die materialistischen Ansätze von vornherein für unglaubhaft hält, und natürlich ist ihm bewußt, daß die von ihm vorgeschlagenen Alternativen im herrschenden intellektuellen Klima des theoretischen Establishments des Materialismus und Neodarwinismus unerwünscht sind (einen heroischen Triumph ideologischer Theorie über den gesunden Menschenverstand nennt er sie), und entsprechend herbe fiel die naturalistische Kritik seines Buchs aus.
Philosophie müsse komparativ vorgehen, so sagt er, um aus den gegebenen konkurrierenden Möglichkeiten jene zu wählen und auf ihre Plausibilität zu prüfen, die der eigenen Sympathie am nächsten komme, und sie als alternative Möglichkeit anzubieten, und so gibt er mit seinem Buch, möchte ich meinen, der Philosophie die ihr zustehende Deutungskompetenz zurück, die sie verliert, wenn sie vom Faktendruck der Naturwissenschaft sich überwältigen läßt.
Benito Salvarsani
AUSGABE 12 INHALT
|