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Magazin für Verrisse aller Art    Aktuell

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 12


EUROPA III

Paradoxien


Das Europa in seiner gegenwärtigen Form schmachtet im Nebel von Widersprüchen und Irrtümern. Nach 1989 sind diese Widersprüche sehr schnell und immer offener zutage getreten, beinahe wie ein konstituierender, insgeheim vielleicht gar erwünschter Faktor, denn bis dahin galt, trotz allen Ärgernissen, an erster Stelle noch der realpolitische Konsens über die Notwendigkeit, in Europa den Frieden durch Verträge zu erhalten, um in jedem Fall Verhältnisse wie vor 1945 zu verhindern, reiner Selbstschutz ohne ideologisches Getöse, und jederzeit angemessen skeptisch.

Die nach über 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft kulturell und ökonomisch ruinierten Länder Osteuropas wurden nach dem symbolträchtigen Mauerfall viel zu früh, viel zu euphorisch in die europäische Gemeinschaft aufgenommen, zuletzt Bulgarien und Rumänien, nun ist Kroatien an der Reihe, bald dürften Serbien, Albanien und Makedonien folgen, doch nicht einmal in der ehemaligen DDR konnte bis heute, nach 25 Jahren Alimentation, der Stand des Westens erreicht werden.
Das Gemeinsame der Gemeinschaft wurde immer geringer. Es ging ja immer nur um Ökonomie, ein gemeinsames Kulturelles spielte bestenfalls eine ornamentale Rolle, fremde Federn am Hut der Dame. Das Desaster, das die Einführung des Euro ausgelöst hat, offenbart nun die innere Ungleichheit des europäischen Konstruktes vollends. Hier stieß eine schmalzige Utopie auf zähe, beinharte Realität und gebar seltsame Chimären, als hätte man Nacktschnecken mit Wölfen und Fledermäusen gekreuzt. Mannschaften aus der Kreisklasse wurden plötzlich gezwungen, schlimmer noch, ließen sich zwingen, ja drängten sich auf, in der Oberliga zu spielen.

Wie dies nun lösen? Jeder Vorschlag aus dem Publikum wird sofort als grundsätzlich naiv und populistisch abgetan, vielmehr gar nicht gehört, denn das endlose Taktieren zwischen den zahllosen Interessen verstellt völlig die Sicht des Durchschnittspolitikers auf etwas denkbar Gesamtes. Jene, von den Medien beständig regurgitierte Forderung nach politischem Visionismus erweist sich angesichts des europäischen Gewurschtels als unproduktiv, weil alle denkbaren Lösungen längst den Charakter einer sich selbst negierenden Utopie angenommen haben.

Griechenland hat alles getan, um sich aus der Eurorunde hinauszumanövrieren, genauso wie es alles getan hat, um sich hineinzumogeln, jeder weiß es, aber ohne Griechenland, den Mutterschoß des Abendlandes, würde der Rest wahrscheinlich rasch kollabieren, weil man sich einmal darauf festgelegt hat, daß es so sei, und weil jedes Umdenken dem Politikdarsteller ein Greul ist.

Schon beim Zerfall Jugoslawiens und dem, historisch betrachtet, logisch folgenden Bosnienkrieg konnte jeder sehen, wie unfähig die Gemeinschaft dieser Staaten ist, einen wirklich ernsten, gar erst kriegerischen Konflikt zu lösen, als plötzlich einmal nicht mehr Agrarsubventionen, Gurkenkrümmungen und Butterberge an der Spitze der Agenda standen.
Inzwischen ist das ursprüngliche und grundsätzliche Motiv für ein wie auch immer geeintes Europa nahezu vergessen, erscheint nur noch wie eine historische Reminiszenz an Gedenktagen, deren eigentlicher Sinn nicht mehr erkannt wird und aus dem Bewußtsein schwindet, denn: ein innereuropäischer Krieg ist unvorstellbar geworden.
Unvorstellbar bedeutet aber leider nicht unmöglich. Der verdrängte Bosnienkrieg, der die Probleme des Balkans nicht im kleinsten beseitigt sondern stetig vergrößert hat, lehrt auch dies.

Mittlerweile hat dieser Staatenverein sich in einen Kegelclub von Erblindeten verwandelt, ein Konglomerat staatspolitischer Unklarheit. Es gibt keinen Souverän, es wird nicht einmal danach gefragt. Weiterhin gilt die traditionelle Souveränität des Nationalstaats, wie er im 19. Jahrhundert sich gebildet hatte. Diese Souveränität bleibt einerseits unantastbar, andererseits soll sie partitioniert und auf lange Sicht aufgehoben und höheren Instanzen zugewiesen werden. Fragt sich nur wie, aber das weiß niemand, es gibt nicht einmal eine Idee davon, oder eine Vision, wie die Leute heute sagen. Jeder europäische Staat handelt im allen wichtigen Angelegenheiten noch immer nur für sich selbst. Auf der außenpolitischen Bühne tritt nirgendwo Europa als Großmacht auf, sondern wie üblich, Deutschland, Frankreich, England, wer auch immer für sich selbst, und die Legitimität dieses Auftritts, die Motive und Ziele eines jeweiligen Handelns bezieht der jeweilige Staat nicht aus Beschlüssen oder Entscheidungen einer europäischen Regierung sondern, selbstverständlich und unhinterfragt, aus dem eigenen Staat und der eigenen Regierung.

Das Fehlen einer europäischen Souveränität führt zur völligen Unmöglichkeit, bindende Entscheidungen zu treffen, die für alle gültig wären. Bestimmte, doch begrenzte Kompetenzen, wie etwa der EZB, des Europäischen Rates, der europäischen Kommissionen, der europäischen Verwaltungsbürokratie, des europäischen Parlamentes, werden ausgeübt oder zumindest angekündigt, sie sind jedoch nicht demokratisch legitimiert sondern dezisionistisch normativ, als säße irgendwo in einem Hinterzimmer oder in unterirdischen Geheimkellern in Brüssel doch ein Souverän, den keiner kennt, nach Art einer Termitenkönigin, von Hofschranzen umhegt und von der Welt abgeschirmt. Mario Draghi ist so eine Termitenschranze, im Prinzip macht er, was er will aber wer ist die Königin?

Die europäischen Institutionen agieren ansonsten nebeneinander und gegeneinander, je nach der politischen Windrichtung. Dies wird seit der Eurokrise auf besonders schmerzliche Weise deutlich. Längst ist beliebig geworden, ob die europäische Bank noch einmal minderwertige Staatsanleihen aufkauft oder doch nicht, ob fragwürdige Sparprogramme beschlossen werden, die zur Verarmung der Bevölkerung führen, oder lieber doch nicht, ob man Banken rettet oder nicht, und wenn ja welche Banken, und warum denn, und wie überhaupt?

Daraus ergibt sich zwingend die Frage nach Sinn und Notwendigkeit eines geeinten Europa, denn die Krise zeigt sehr scharf, man könnte auch sagen, unerbittlich, daß der Nationalstaat alter Prägung als kleinste Einheit eines förderalistischen europäischen Bundesstaates ungeeignet ist. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Die Ungleichheit der einzelnen Staaten ist nicht einfach eine graduelle Unterschiedlichkeit, sie ist fundamental, denn sie betrifft so gut wie alles, was die betreffenden Staatswesen und ihre zugehörigen Völker ausmacht, angefangen bei der Sprache bis hin zu den außenpolitischen Interessen und den wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Vielleicht sollte man dabei nicht ganz vergessen, daß Nationalstaatlichkeit für nicht wenige der Beteiligten eine noch recht junge Errungenschaft ist.

Einerseits soll das nationalstaatliche Prinzip beseitigt werden, dafür gibt es gute Gründe, andererseits gibt es keinen Ersatz dafür, denn eine Neubelebung subnationaler Einheiten, in denen Menschen ihre Identität finden, nach Art von Kantonen etwa, das wäre ganz und gar undenkbar, außer vielleicht in Bayern, doch einfache Analogien funktionieren da nicht, wie zum Beispiel: Bayern verhält sich zu Sachsen-Anhalt wie Holland zu Portugal oder das Baskenland zu Elsaß-Lothringen, zu Katalonien, zu Schleswig Holstein, zu Estland, zur Lombardei. Das Analogisieren ließe sich bis ins Aschgraue weitertreiben, einen Gründungsmythos für den Europäischen Nationalstaat wird man so nicht stiften können. Wenn alle die gleichen Rechte haben, wird niemand auch nur das mindeste davon einer Gemeinschaft opfern, der er nicht trauen kann.

In den Verlautbarungen der sogenannten politischen Akteure ist jetzt immer häufiger von einer Irreversibilität des Euro und der Europäischen Gemeinschaft die Rede. Das ist natürlich Unsinn. Im Lauf der Geschichte ist alles reversibel. Nur auf 20 Jahre hinaus planen zu wollen, ist schon pure Anmaßung. Dennoch wird so getan, als ob, denn andernfalls hätte politisches Handeln noch weniger Sinn.
Solange die Europäische Gemeinschaft ein Konsortium von Nationalstaaten bleibt, die auf ihrer Souveränität bestehen, ist Revision jederzeit möglich. Sie würde selbstverständlich für einige Zeit erhebliche, kurzfristig sogar katastrophale Verwerfungen hervorrufen, doch irgendwann würde sich die Lage normalisieren. Nach jedem Winter kommt wieder ein Sommer.

Die von Adenauer und de Gaulle einst geschlossene deutsch-französische Freundschaft als Kristallisationskeim eines vereinten Europa diente nicht nur einem dauerhaften Frieden unter den europäischen Staaten, sondern auch, und wahrscheinlich sogar mehr, der Rehabilitierung des Nationalstaats (Europa der Vaterländer, nannte es de Gaulle), es diente ferner wirtschaftlicher Prosperität und einer eindeutigen Bindung der BRD an den Westen gegen jeden Neutralitätsgedanken, und damit einer klaren Trennung vom kommunistisch dominierten Osten, für die wir dankbar sein sollten. Dieses Konstrukt war bis 1989 erfolgreich und stabil.

Sucht man nun im Sinne von Carl Schmitt nach einer europäischen Souveränität, die auf einer Entscheidungskompetenz im Ausnahmezustand beruhen müßte, so finde man nichts. Die europäische Ordnung kann nicht einmal den Status einer Rechtsordnung beanspruchen, sie ist im besten Fall ein Status, der nach einer verbindlichen Rechtsordnung erst strebt, aber nur auf dem Papier, ohne drängende Ernsthaftigkeit. Bisher gibt es en masse singuläre Regelungen der widersinnigsten Normalfälle, und eine merkwürdige kontraproduktive Konkurrenz der Institutionen, die für solche Einzelfälle des Normalen zuständig sind. Ein Gefühl für das Wesen des Ausnahmezustandes, ist verloren gegangen, er wird, wie es scheint, für unmöglich gehalten. Der Ausnahmezustand wäre vermutlich das Ende der Gemeinschaft. Man erregt sich bis zur Weißglut über die NSA-Affäre, während weltweit die Geheimdienste im Netz Schlange stehen, russische, chinesische, iranische, von wo auch immer. Man erträgt gegenwärtig alles, einen Impetus zur Revolution, die eigentlich fällig wäre, gibt es nicht.

Zwar kann man beileibe nicht von Chaos reden, angebracht wäre der Ausdruck staatsrechtliche Müllkippe, politisches Brachland, Dauerruine, doch ein Bauherr, der aus dieser Ruine ein funktionierendes Gebäude errichten wollte, ist nicht in Sicht. Anscheinend ist er nicht einmal erwünscht, denn er würde ja jene Realitäten schaffen, die den althergebrachten Nationalstaat beseitigen müßten. Das jetzt herrschende System unübersichtlicher Teilkompetenzen in einem staatsrechtlichen Niemands- oder Brachland lähmt jeden weiteren Fortschritt in Richtung auf einen gesamteuropäischen Staat. Das ist sehr bequem, weil die Unbequemlichkeit einer Entscheidung sich dadurch immer wieder ins Ungewisse verschieben läßt.

Welchen Sinn sollte es auch haben, die Metaphysik des Nationalstaates, die nicht überwunden ist, mit einer analogen Metaphysik Europas zu beantworten oder gar zu überhöhen, im Sinne einer staatlichen Meta-Metaphysik? Das hieße, populär gesprochen, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

Kein Wunder also, wenn allerorten eine Rückwendung zur sogenannten Region sich zu Wort meldet. Der Begriff Region soll den romantisch und ideologisch belasteten Begriff Heimat ersetzen, aber es lohnt sich nicht, über Begriffe zu streiten, man weiß, was gemeint ist. Die Tendenz zur Region zeigt einen Rückzug an, sie ist Resignation, und damit politisch nicht tragbar, aber menschlich.
Der Gegenbegriff Europa eignet sich nur als Beschwörungsformel, an die keiner glaubt.

Max Naso






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