AUSGABE 12
NAZIVERBRECHEN
Über historisches Vergleichen
Das einem Dogma nahe Verbot, Naziverbrechen mit anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vergleichen, insbesondere die Judenvernichtung, ein Verbot, das viele Interpreten der jüngeren Geschichte immer noch reflexhaft und verbissen verteidigen, ja, das inzwischen zum etablierten und kanonisierten Bewußtseinsbestand vieler sogenannter Gebildeter in historischen Dingen zu gehören scheint, könnte einige unterschiedliche historiosoziopsychologische Funktionen abdecken:
1) Das Dogma dient der Verdrängung, einem Versuch, den Komplex der Nazigeschehen in gewisser Weise zu negieren, ungeschehen zu machen. Wenn dieses Geschehen derart einzigartig und unvergleichlich ist, wie behauptet wird, erscheint es so gut wie unglaublich, am Ende unwirklich, bleibt ohne Bezugspunkt, wird in eine Sphäre der Unberührbarkeit transzendiert.
2) Aus Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit würde folgen, daß etwas auch nur annähernd Ähnliches in einer zivilisierten Welt nicht möglich wäre, im Grunde sogar denkunmöglich. Alle anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im 20. Jh. rund um die Welt verübt wurden, nähmen dann einen Schein von Normalität an, schrecklich zwar, doch irgendwie immer noch gerade im Rahmen, sozusagen als Ausnahmezustand, den man zivilisatorisch in den Griff zu bekommen sich müht, ähnlich dem Krieg, der durch internationale Abkommen, Haager Landkriegsordnung, Genfer Konvention etc., also durch eine Art von Regelwerk (Handlungsanweisungen zur Partisanenbekämpfung, Geiselnahme, Geiselerschießungen etc.) mit Menschlichkeit eben noch vereinbar gemacht werden soll.
3) Eine absolute Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der Naziverbrechen würde den Glauben und die Hoffnung befestigen, daß dergleichen in zivilisierten Gesellschaften des 20. und aller folgenden Jahrhunderten nicht mehr geschehen könne, weil es etwas Vergleichbares eben nicht gebe (bzw. nicht geben dürfe). Aus der Unvergleichbarkeit würde dann per se Unwiederholbarkeit resultieren.
4) Man kann mit dem Dogma der Unvergleichbarkeit im Nacken die Naziverbrechen vielleicht eben noch beschreiben, darf sie aber in keinen historischen Kontext stellen, d.h. in den geschichtlichen Raum des Möglichen, man darf nicht einmal versuchen, sie rational zu erklären. Alles, was über bloße Beschreibung (die in reiner absoluter Weise nicht möglich ist) hinausgeht, käme einer Relativierung und Leugnung der Einzigartigkeit gleich (siehe dazu auch Claude Lanzmann). Einzigartigkeit bekäme auf diese Weise einen religionsähnlichen Glanz, würde zu einer Art negativer Heiligkeit, einer Art schwarzer Magie.
5) Haben die Naziverbrechen diesen pseudoreligiösen Schein einmal angenommen, entziehen sie sich dem rationalen Diskurs, sie sind nicht mehr Gegenstand eines Wissens sondern eines Glaubens. Als solche könnten sie dann naturgemäß auch geleugnet werden, und gegen diese Leugnung wäre zumindest rechtlich im Sinne von Religionsfreiheit nichts einzuwenden.
6) Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit würden auf gleiche Weise eine juristisch angemessene Bestrafung der Täter unmöglich machen, denn ein entsprechendes Tatbestandsregister wäre dann ebenfalls nicht statthaft, weil der Nachweis einer konkreten Tat die Eigenschaft der Einzigartigkeit verletzen würde, da ein Tatbestand nur auf der Grundlage einer Vergleichbarkeit festgestellt werden kann. Für Naziverbrechen müßte folglich gelten: nulla poena sine lege.
7) So gesehen wäre es nur logisch, wenn man das Dogma der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der Naziverbrechen auf eine Stufe mit der Holocaustleugnung stellen würde, und zwar auch in strafrechtlicher Hinsicht. Tatsächlich kann die Holocaustleugnung kein Straftatbestand aus sich selbst sein. Als solcher existiert er nur aus nichtjuristischen Gründen als gesellschaftlicher Konsens. In Wahrheit liegt eine geschichtsfälschende Meinung vor, der man am besten mit gesellschaftlicher Ächtung begegnen würde, denn wollte man jeden, der eine mutmaßlich geschichtsfälschende Meinung in öffentlich wirksamer Weise vertritt, strafrechtlich verfolgen, wären die Gerichte auf Jahre hinaus ausgelastet.
8) Die Sache läßt sich weiter auf die Spitze treiben. Das Dogma der Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit der Naziverbrechen müßte nämlich in letzter Konsequenz sogar zu einer Unbeschreibbarkeit dieser Verbrechen führen. Die menschlichen Möglichkeiten, die Welt zu erfassen und erfassend zu verstehen, beruhen auf dem Mittel der Beschreibung. Die Beschreibung eines Gegenstandes, eines Sachverhaltes, eines Vorgangs oder was auch immer, beruht auf Vergleichungen und der Herstellung von Bezügen.
Eine neu entdeckte Tierart ordnen wir aufgrund von Ähnlichkeit oder Nichtähnlichkeit mit Bekanntem ein, einem Krieg wie dem Dreißigjährigen schreiben wir typische Eigenschaften eines Krieges zu, andere seiner Gegebenheiten machen etwas Besonderes aus, das bisherigen Kriegen fehlte, und so fort.
Das vermeintlich Einzigartige läßt sich nur aufgrund einer Vergleichung beschreiben und erkennen. Die Besonderheit historischer Ereignisse besteht eben darin, daß sie immer einzigartig sind im Hinblick auf ihre Zeitlichkeit, darum können sie im äußersten Fall nie mehr als ähnlich sein. Im Fall der Naziverbrechen wird das jedoch geleugnet. Ihnen wird eine Einzigartigkeit zugeschrieben, die es so gar nicht geben kann.
9) Der Hintergrund des Dogmas ist offenkundig und sogar menschlich verständlich. Man hat es mit Ereignissen zu tun, deren Schrecklichkeit alles bisher Dagewesene in den Schatten zu stellen scheint, das ist nicht leicht zu verkraften, es ist genau genommen gar nicht zu verkraften. Das Dogma der Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit ist das Ergebnis eines Verdrängungs- oder Verleugnungsprozesses, bzw. einer Tabuisierung, von der wir uns befreien sollten.
10) [Allein die Sache begrifflich angemessen zu erfassen, ist so gut wie unmöglich. Ich bediene mich der Worte Naziverbrechen und Judenvernichtung. Das Wort Holocaust meide ich nach Möglichkeit, weil es semantisch zu allgemein ist, vor allem aber weil es zu griffig ist und zu der scheußlichen Abkürzung Holo tendiert. Die Bedeutung des Wortes Shoah habe ich zwar gelernt, aber das Wort sagt mir trotzdem nichts, es bleibt mir, der ich die hebräische Sprache nicht kenne, ein fremdartiges Wort, und mit fremden Federn mag ich mich nicht schmücken.]
11) Die Ursache der Tabuisierung ist Angst. Diese Angst hat einen individuellen und einen gesellschaftlichen Aspekt.
Der individuelle Aspekt betrifft die Angst vor der Frage, wie man sich selbst in jener historischen Situation verhalten hätte. Darauf gibt es keine Antwort.
Der gesellschaftliche Aspekt scheint dringlicher: Kann sich dergleichen wiederholen? Auf diese Frage läßt sich nur antworten, wenn das Dogma der Unvergleichbarkeit beseitigt wird, und die einfachste Antwort lautet: ja.
12) Diese theoretischen Überlegungen kollidieren mit der Tatsache, daß kaum eine historische Epoche so intensiv und nachhaltig erforscht wurde wie die des Dritten Reichs. Wozu, wenn am Ende diese Epoche für unvergleichbar erklärt wird und die Fragen nach ihren Beziehungen zu anderen Ereignissen ähnlicher Struktur im gleichen Zeitraum nicht gestellt werden dürfen?
13) Immer noch gibt es den Widerspruch zwischen der tatsächlichen Historiographie und deren ideologischer Vereinnahmung. Es ist an der Zeit, diesen Widerspruch endgültig zu beseitigen.
Benito Salvarsani
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