AUSGABE 12
KRITIK DER MACHBARKEIT
Sibylle Lewitscharoff über Geburt und Tod
Existentielle Fragen altern nicht, auch wenn die Antworten unterschiedlich ausfallen, denn es geht um Dinge, die uns schicksalhaft geschehen, ohne daß wir im mindesten Einfluß nehmen könnten.
Ich werde geboren, ich sterbe: wo komme ich her, wo gehe ich hin?
Daß irgend etwas uns schicksalhaft geschehe, war schon immer eine harte Nuß für menschliche Allmachtsvisionen, für den Zeitgenossen der naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation des 21. Jahrhunderts ist der Tatbestand nur noch skandalös.
Eine deutsche Dichterin von Rang, Sibylle Lewitscharoff, hat sich kürzlich zu diesem Thema in einer Weise geäußert, die jene Zeitgenossen heftig vor den Kopf stieß. Dabei fiel auf, wie rasch wieder einmal Vorurteile, Ressentiments und Halbwahrheiten im Umfeld des Qualitätsjournalismus (vulgo Mainstreammedien) feststanden, wie erschreckend einmütig sie ausfielen, wie wenig man den Text als ganzen wahrnahm, sondern nur an einem Wort sich festbiß, das erst am Ende des Vortrags mit geziemender Vorsicht eingebracht wird (und vielleicht ein Mißgriff war), ferner (ein Nebeneffekt), daß man die Lewitscharoff für katholisch hält, vielleicht deshalb, weil von protestantischer Seite schon lange keine Einlassung mehr erwartet wird, die mit dem Zeitgeist nicht auf du und du stünde.
Sibylle Lewitscharoff befaßte sich in ihrer Rede (Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod. Dresdener Reden 2014, gehalten am 2. März 2014) zunächst ausführlich mit dem Tod aus persönlicher und familiärer Sicht: die schwäbische Großmutter, die einen friedlichen würdigen Tod starb, im Gegensatz zum Selbstmord durch Erhängen des depressiven Vaters, zum Todestheater der Mutter, zur sinnlosen leidverlängernden Reanimation der krebskranken, fast neunzigjährigen Freundin der Mutter.
Sterbenmüssen ist Teil des Lebens, letzter Akt, letzte Szene, und die Art und Weise, wie heute meist gestorben wird, ist grauenhaft, nicht weniger als unmenschlich, und diese Unmenschlichkeit verdankt sich den Möglichkeiten des herrschenden Medizinsystems, das über Menschen verfügt, die ihm blind vertrauen, seinen wissenschaftlichen Fortschritten, seiner unglaublichen Technik, gleichzeitig aber über ihr Leben und ihren Tod gerne selbst verfügen würden.
Lewitscharoff empfindet den Anspruch dieses zwiespältigen Verfügens als Frevel, ja als absurd, denn Leben und Tod liegen schicksalhaft in Gottes Hand, nicht in den Händen von Menschen.
Herr über das eigene Leben zu sein, schließt Zuständigkeit für das eigene Leiden notwendig ein. Die Frage nach der Verantwortlichkeit für erlittenes Leid quälte Menschen von Anfang an. Wie das zugeht, erfahren wir in der Geschichte Hiobs. Hiob, das ist das Erstaunliche, und vor allem Anstößige, hat keine Schuld auf sich geladen, die er sühnen müßte, die das ungeheure Ausmaß seines Leidens nach menschlichem Ermessen plausibel machen würde, irgendwie rechtfertigen könnte. Sein Leiden ist nicht gerecht, ist nicht Buße für irgendwelche Sünden. Was Hiob erduldet, liegt allein in Gottes Hand, ist nicht Strafe, sondern Schicksal, Teil seines Seins. Schon die bloße Frage nach einem Sinn ist gottlos, denn diese Welt ist allein Gottes Werk, alles, was geschieht, liegt in seiner Hand, und es steht dem Menschen nicht zu, den Sinn zu erfassen.
Dies ist die Konstitution der Erbsünde und eine mögliche Antwort auf die existentiellen Fragen: Ich komme von Gott und kehre zu ihm zurück, weil ich sein bin und nichts anderes, und genau das ist mein Schicksal, und die Konsequenz ist: man soll Gott nicht ins Handwerk fuschen.
Den Apologeten der Machbarkeit darf man mit so etwas natürlich überhaupt nicht kommen, und wir haben (lehnt euch zurück, Leute) nicht die Absicht, eine derart radikale Gottverbundenheit hier weiter auszuführen und ihre möglichen Konsequenzen und Widersprüche zu erörtern. Wir nehmen sie für einmal als gegeben und verwenden sie als Metapher für das, was Schicksal heißt. Im Wirkraum dieser Metapher ist jeder menschliche Eingriff in das Schicksalsgegebene unzulässig, ist Hybris, schlechthin verboten.
Den durchschnittlichen Mediziner ficht das nicht an, für ihn zählt nur das, was er seine Kunst nennt. Ja, es gibt Ethikkommissionen, inzwischen sogar Lehrstühle für Ethik der Medizin. Die entscheidende Schwäche dieser Ethik aber ist: sie kommt immer zu spät. Ärzte machen, Philosophen hinken hinterher.
Medizinethik gleicht einer klassischen Hase-und-Igel-Situation: wo der Ethiker auch hinkommt, der Arzt war schon da. Dazu kommt: ethisches Argumentieren entstammt Schulen und Traditionen, sie hat Voraussetzungen und Hintergründe, die den Anspruch auf Plausibilität nachhaltig verschatten können. Bindungsloser Relativismus einer poststrukturalistischen Beliebigkeit, wie er gern gepflegt wird, liefert keine verbindlichen Maximen des Handelns.
Ebenso unwürdig, wie meist gestorben wird, wird unwürdig gezeugt. Die Frage, wo komme ich her, beantwortet möglicherweise ein Prospekt, das die Angebote einer Samenbank anpreist.
Müssen wir das gut finden, nur weil es möglich geworden ist? Weil es in diesem Möglichkeitssinn der vorläufig letzte Schrei der Wissenschaft geworden ist? Müssen wir es gut finden, wenn sogenannte lesbische Paare von einem homophilen Freund eine Samenspende bekommen, um ein sogenanntes Wunschkind in die Welt zu setzen, wie eine andere deutsche Dichterin, Judith Schalansky, im stolzgeblähten Vollbewußtsein ihrer avantgardistischen Tat ungefragt verkündete? Ohne Zweifel reitet die Dame in den vordersten Reihen des Zeitgeistes, doch in diesen Reihen ritten unter vielen anderen schon in den elenden 70ern die Propheten der antiautoritären Erziehung mit ihren Kinderläden, an deren deletären Folgen immer noch laboriert wird.
Ist der Begriff Wunschkind wirklich weniger anstößig als der Begriff Halbwesen?
Künstliche Befruchtung kann manchmal so einfach sein, Boris Beckers sogenannte Besenkammeraffäre mit Samenraub hat es bewiesen.
Aber künstliche Befruchtung kann auch höchst kompliziert und leidvoll sein. Der Alltag in den KWZ (Kinderwunschzentren) zeigt es allerorten. Davon ist selten, wenn überhaupt die Rede. Unfruchtbarkeit als Lebensschicksal, das ist nicht drin, das darf einfach nicht mehr wahr sein. Man muß nur die frühlingsfarbene Wartelandschaft eines KWZ betreten um zu wissen, was Lebenslügen sind.
Erstaunlich, daß in dieser unsäglich fehlgeleiteten Diskussion Frau Helena Angermaier aus München unzitiert blieb. Frau Angermaier, eine todschicke Dame in den 50ern (man sieht es ihr bei Gott nicht an) hat, wie erst kürzlich das SZ-Magazin stolz verkündete (Nr. 10, 7. März 2014), in 30 Jahren an die 10000 Befruchtungen am Mikroskop durchgeführt. Weniger als die Zahl beeindrucken die Besonderheiten der Methode. Wir sprechen hier nicht nur von den technischen Schwierigkeiten einer intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI), rein handwerklich betrachtet ein erstaunlicher Akt, der höchste manuelle Geschicklichkeit erfordert. Wir sprechen davon, daß Frau Angermaier, die einst Primaballerina werden wollte, Wagner liebt, und zu den Klängen des Walkürenritts, mit dem einst Francis Ford Coppola die berühmte Hubschrauberattacke in Apocalypse now musikalisch aufheizte, einmal sogar Zwillinge gezeugt hat. Ja, Frau Angermeier glaubt wirklich, daß die Injektion eines Spermiums in eine Eizelle Zeugung sei, und als derart Zeugende fühlt sie sich, göttergleich, den Unvollkommenheiten einer fehleranfälligen Natur haushoch überlegen. In nahezu aussichtslosen Fällen legt Frau Angermaier als ultima ratio gern die Ouvertüre zu Tristan und Isolde auf. Die komprimierte Erotik des berühmten Tristanakkordes macht auch das widerwilligste Spermium rasch kohabitationsbereit.
Falls es etwas gibt wie Befruchtungskitsch (woran wir nicht zweifeln), ist Helena Angermaier dessen Gründungsmutter, sie, die ansonsten der Mutterschaft, zugunsten der Befruchtungstätigkeit, entsagt hat.
Umso mehr überrascht die vollständige Kritiklosigkeit im Mikrokosmos der zellulären Kopulation gegenüber dem Kinderwunsch im Makrokosmos der Patienten. Die Frage der Indikation, die bei jeder ärztlichen Handlung zweifelsfrei beantwortet sein muß, wird hier, wie es scheint, nicht einmal gestellt.
Wünscht dagegen ein Paar, ein Kind nur zu adoptieren, wird es hochnotpeinlichen behördlichen Examinierungen ausgesetzt, und ganz speziell geht es dabei um die Egomanie des Kinderwunsches, die das Gedeihen des Zöglings in mancher Weise behindern könnte.
Daß ein Kinderwunsch überhaupt kritisch in Frage gestellt werden kann, erscheint in der religionsähnlichen Machbarkeitssphäre der künstlichen Fertilisation undenkbar, ja sinnlos.
Gegen diese Welt einer bedenkenlosen heilsversprechenden Wissenschaftshörigkeit empfindet Sibylle Lewitscharoff Abscheu.
Wir teilen diese Empfindung.
Tabea Dorsalis
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